Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 239/240: Keine Chance für den Frieden?

Die Auswir­kungen des Ukrai­ne­kriegs: Zwischen nuklearer Abschre­ckung, Rüstungs­kon­trolle und Abrüstung

Im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde die Öffentlichkeit erstmals seit Jahrzehnten wieder auf den möglichen Einsatz von Nuklearwaffen aufmerksam. Welche Rolle das Prinzip der nuklearen Abschreckung in diesem Krieg spielt, welche völkerrechtlichen Verträge es zur Eindämmung der nuklearen Gefahren gibt und wie sich der Konflikt auf die weitere Akzeptanz dieser Normen sowie die Abrüstungsbemühungen auswirkt, diskutiert der folgende Beitrag.

 

Die (Un-)Logik nuklearer Abschre­ckung und der Krieg gegen die Ukraine

Anfang der 1980er Jahre war in der Friedensbewegung ein theoretisches Konzept in aller Munde: ein strategisches Gleichgewicht der nuklearen Abschreckung, dass durch den NATO-Doppelbeschluss wiederhergestellt werden sollte. Kritiker*innen mahnten damals vor einer Rüstungsspirale, die dieser Beschluss nach sich ziehen würde. 40 Jahre später überfällt Russland die Ukraine – und schirmt diesen konventionellen Angriffskrieg durch Nuklearwaffen ab. Damit ist die Beschäftigung mit der Logik nuklearer Abschreckung wieder hochaktuell geworden und es stellt sich die Frage, wie mit einem nuklear bewaffneten Staat umzugehen ist, welcher Menschenrechte, internationale Verträge, Normen und Grenzen ignoriert.

Wenn eine Waffengattung zwar existiert, aber seit über 75 Jahren nicht mehr eingesetzt wurde, liegt es nahe, nach Erklärungen für diese Anomalität zu suchen. Üblicherweise haben Wissenschaftler*innen diesen Umstand mit der nuklearen Abschreckung erklärt. Ende der 1950er Jahre wirkte sich diese Erklärung auch auf politische Entscheidungen aus (vgl. u.a. Lupovici 2010): Staaten, die Nuklearwaffen besitzen und glaubwürdig androhen, sie im Falle eines Angriffes (mindestens) zur Verteidigung der Sicherheit der eigenen Bürger und der Integrität des eigenen Territoriums einzusetzen, seien sicher vor direkter militärischer Einmischung durch andere Staaten – so die Theorie. In dieser Logik sind Nuklearwaffen sowohl ultimatives Machtsymbol als auch staatliche Lebensversicherung. Zudem wird ihnen zugeschrieben, ein wichtiges Instrument zur Förderung politischer und militärischer Zurückhaltung zu sein, und somit Frieden, Sicherheit und Konfliktfreiheit zu fördern. Ein sogenannter ‚nuklearer Friede‘ sei die unweigerliche Folge (s. u.a.; Krepon 2021; Lieber und Press 2020; Ogilvie-White 2020: 2). Diese gestaltende Macht basiert auf der unvergleichlichen zerstörerischen Kraft von Nuklearwaffen. Wenngleich konventionelle Kriegsführung maßlose Zerstörung anrichten kann, ist die Geschwindigkeit der Zerstörung durch Nuklearwaffen ohnegleichen.

Im Kalten Krieg entwickelte sich zwischen den USA und der Sowjetunion ein sog. ‚Gleichgewicht des Schreckens‘, welches durch die gegenseitige Vernichtung im Falle eines nuklearen Schlagabtausches (‚Mutually Assured Destruction‘, MAD) aufrechterhalten wurde. Beide Seiten stellten ihre Arsenale und Kommandostrukturen so auf, dass jeder nukleare Erstangriff unter allen Umständen mit einem vernichtenden nuklearen Zweitschlag beantwortet werden kann. In der Praxis war dieses Gleichgewicht aber immer fragil. Seit 1949 sind zudem sieben weitere Nuklearwaffenbesitzerstaaten hinzugekommen, die diese Gleichung verändern. Heute existiert eine komplexe multipolare nukleare Ordnung mit insgesamt neun Nuklearwaffenbesitzerstaaten. Diese Staaten – neben den USA und Russland auch Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea – haben militärische Strukturen und Strategien sowie ihre Waffenarsenale dahingehend entwickelt, um mit ihren Nuklearwaffen ihre staatliche Sicherheit, und oftmals auch die ihrer Partner und Alliierten, abzusichern. Dies tun sie mit insgesamt ca. 12.750 Nuklearwaffen (SIPRI 2022), wobei etwa 90 Prozent davon auf die USA und Russland (ehemals Sowjetunion) entfallen. Die meisten Nuklearwaffenbesitzerstaaten sind sich der Zerstörungskraft gewahr und grenzen die Szenarien für einen Einsatz stark ein; zum Teil haben sie erklärt, Nuklearwaffen nie zuerst einsetzen zu wollen (‚no first use‘).

Ein nuklearer Schlagabtausch ist damit aber nicht ausgeschlossen. Es ist äußerst umstritten, ob die Abschreckungswirkung allein dafür verantwortlich ist, dass es bisher nicht zu einem Einsatz von Nuklearwaffen kam. Nina Tannenwald (1996; 2007) geht beispielsweise davon aus, dass es neben der Angst, selbst durch einen Zweitschlag vernichtet zu werden, auch eine normative Komponente gibt, die für den Nichteinsatz mitverantwortlich ist. Diese Norm nennt sie ‚Nukleares Tabu‘. Ihr liegen humanitäre Überlegungen der Akteure zugrunde, da ein jeder Einsatz von Nuklearwaffen mit massiven und moralisch unvertretbaren Konsequenzen für Mensch und Umwelt einhergehen würde. Eine weitere, banalere Erklärung für den nuklearen Nicht-Einsatz in den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler*innen wie Benoît Pelopidas (2017) benannt: schlicht Glück. Sie berufen sich dabei auf zahlreiche Situationen, in denen Nuklearwaffen beinahe eingesetzt wurden, der Einsatz aber nur durch andere Umstände verhindert wurde.

Welche Gefahr die nukleare Macht in den Händen einiger weniger Entscheidungstragender darstellt, wird seit den nuklearen Drohungen durch das Moskauer Regime im Zuge des Ukraine-Krieges schmerzlich offenbar.

Nukleare Drohungen im Krieg gegen die Ukraine

Als der russische Präsident Vladimir Putin am 24. Februar 2022 die „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine ankündigte, verband er dies mit einer unmissverständlichen nuklearen Drohung:

„Wer auch immer versucht, sich uns in den Weg zu stellen oder gar Drohungen für unser Land und unser Volk auszusprechen, muss wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie gesehen haben.“ (Putin 2022, Übers. d. Verf.)

Seit Ende Februar 2022 haben russische Offizielle mehrfach implizit oder explizit mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht, diese Drohungen zurückgenommen, abwechselnd eine eskalierende und eine deeskalierende Rhetorik an den Tag gelegt, rote Linien kommuniziert und neu definiert, die Verantwortung für den Krieg auf die Vereinigten Staaten, den Westen, die NATO, das Regime in Kiew und die Ukraine im Allgemeinen geschoben (s. u.a. Arndt und Horovitz 2022). Ein ständiger Bezugspunkt in der nuklearen Rhetorik ist die russische Nukleardoktrin, die vor allem im Dokument „Über die Grundlagen der Staatspolitik der Russischen Föderation auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung“ aus dem Jahr 2020 festgelegt ist (Kreml 2020). Darin wird beschrieben, dass Russland Nuklearwaffen zur (Selbst-)Verteidigung bei einem Angriff einsetzen würde, wenn die Existenz und territoriale Integrität des Staates bedroht ist; darüber hinaus aber auch dann, wenn es zuverlässige Informationen über den Abschuss ballistischer Raketen gegen Russland gebe, welche die kritische Infrastruktur, die für die Zweitschlagfähigkeit relevant ist, zerstören könnten.

Diese Einsatzszenarien wurden von Regierungsvertretern während des Krieges mehrfach wiederholt. In Anbetracht der Annexionen besetzter ukrainischer Gebiete lassen sie Spielräume für verschiedene Interpretationen. Die Diskussion bezieht sich vor allem auf den Einsatz sogenannter taktischer Nuklearwaffen. Diese vermeintlich ‚kleinen Nuklearwaffen‘ haben im Gegensatz zu sogenannten strategischen Nuklearwaffen eine deutlich geringere Reichweite und auch Sprengkraftobergrenze. Die Obergrenzen der in den Arsenalen befindlichen taktischen Nuklearsprengköpfe liegen oftmals deutlich über der Sprengkraft der in Hiroshima und Nagasaki eingesetzten Nuklearwaffen (s. unten). Eine Androhung eines Einsatzes mit taktischen Nuklearwaffen ist demnach eine ernstzunehmende und nicht zu verharmlosende Drohung.

Nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (VN) hat jeder Staat das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung. Den VN und denen, die der Ukraine diese Unterstützung zukommen lassen wollen, sind jedoch die Hände gebunden, da der russische Präsident für diesen Fall eine nukleare Eskalation angedroht hat. Wenngleich der Ukraine weitreichende militärische Unterstützung gewährt wird, geschieht dies im Wissen um die damit verbundenen nuklearen Eskalationsrisiken. Putin macht sich derzeit eine erweiterte Dimension der nuklearen Abschreckung zunutze: er schirmt einen konventionellen Angriffskrieg ab, indem er externe Einmischung durch seine nuklearen Drohungen abblockt und bewusst Angst schürt.

In Anbetracht der kürzlich wiederholten Reagan-Gorbatschow-Erklärung, dass ein Nuklearkrieg nicht gewonnen und nicht geführt werden darf, wird die Perfidität dieses Vorgehens deutlich. Präsident Putin war an zwei solchen Erklärungen beteiligt: mit US-Präsident Biden im Juni 2021 (The White House 2021) sowie zuletzt im Januar 2022 im Rahmen einer gemeinsamen Erklärung der fünf ständigen Mitglieder (P5) des VN-Sicherheitsrates (The White House 2022).

Das nukleare Tabu und die Idee des nuklearen Friedens sind durch die nuklearen Drohungen seitens Moskaus so stark ins Wanken geraten (The Economist 2022), dass ein Nuklearwaffeneinsatz plötzlich wieder möglich und nicht mehr vollkommen unwahrscheinlich erscheint. Seit Jahrzehnten war das Risiko eines Nuklearwaffeneinsatzes nicht mehr so hoch – auch wenn unklar ist, welchem Zweck der Einsatz von Nuklearwaffen im Krieg gegen die Ukraine dienen würde. Dieses Risiko ist dem Besitz solcher Waffen und der Logik der nuklearen Abschreckung jedoch inhärent, die vermeintliche Sicherheit immer ein Trugschluss. Die Logik der Abschreckung ist eine Unlogik, die die Welt an den Rand einer nuklearen Katastrophe bringt.

Die nukleare Bedrohung und ihre Einhegung

Am 16. Juli 1945 läuteten die USA mit dem ersten Nuklearwaffentest in der Wüste von New Mexiko das nukleare Zeitalter ein. Nur sechs Wochen später, am 6. und 9. August 1945, befahl der damalige US-Präsident Harry S. Truman den Abwurf zweier Nuklearwaffen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Durch den Einsatz von „Little Boy“ und „Fat Man“ mit einer Sprengkraft von 15 bzw. 20 Kilotonnen wurden zwischen 110.000 und 210.000 Menschen getötet (Wellerstein 2020). Hinzu kamen immense Zerstörungen, zahllose Verletzte sowie langfristige, generationsübergreifende Erkrankungen und Umweltschäden. Nicht zu vernachlässigend sind auch die schon im Vorfeld bei der Gewinnung und Produktion waffenfähigen Materials sowie bei der Entwicklung und den Tests von Nuklearwaffen entstehenden Schäden für Mensch und Umwelt.

Bereits im darauffolgenden Jahr, am 24. Januar 1946 forderten die Vereinten Nationen (VN) in ihrer ersten Resolution die vollständige Abschaffung von Nuklearwaffen. Der Wettlauf um die Bombe wurde dadurch aber nicht aufgehalten, bereits 1949 testete die Sowjetunion ihre erste Nuklearwaffe, Großbritannien folgte 1952, Frankreich 1960 und China 1964. Es entwickelte sich somit einerseits ein Rüstungswettlauf, andererseits aber auch langfristig ein engmaschiges System von Nichtverbreitungs-, Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträgen, um die Geschwindigkeit des Wettrüstens einzuhegen und weitere Staaten daran zu hindern, eigene Nuklearwaffen zu besitzen.

Ausdruck dieser Bemühungen ist allen voran der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968. Mit der Unterzeichnung verpflichten sich Nicht-Nuklearwaffenstaaten, keine Nuklearwaffen zu erwerben oder zu entwickeln, während sich Nuklearwaffenstaaten mit Artikel VI zur Abrüstung verpflichten. Das Vertragsregime hat mit 191 Vertragsstaaten quasi-universelle Geltung, mit Pakistan, Indien und Israel gibt es aber drei Staaten, die den Vertrag nie unterschrieben und ein eigenes Nuklearwaffenarsenal aufgebaut haben. Mit Nordkoreas Ausstiegsankündigung und der Entwicklung eigener Nuklearwaffen kam 2006 eine weitere Nuklearmacht außerhalb des Vertrages hinzu. Frühe Befürchtungen, zum Beispiel von Präsident John F. Kennedy, dass es bereits in den 1970er Jahren bis zu 25 Nuklearwaffenstaaten geben könnte (Kennedy 1963), haben sich nicht bewahrheitetet. Der Nichtverbreitungsvertrag hat dennoch durch fehlende Beitritte und die Nichterfüllung der Abrüstungsversprechen seitens der Vertragsstaaten entscheidende Schwachpunkte.

Ein wichtiges ergänzendes Nichtverbreitungsinstrument sind Nuklearwaffenfreie Zonen (NWFZ). Bereits am 14. Februar 1967 unterzeichneten 14 Staaten in Lateinamerika den „Vertrag von Tlatelolco“, mit dem sie sich verpflichten, keine Nuklearwaffen herzustellen, zu testen oder zu erwerben und keine Transfers oder Stationierungen auf ihren Gebieten zu akzeptieren. Inzwischen haben 33 Staaten diesen Vertrag unterzeichnet und darüber hinaus es gibt weltweit vier weitere Nuklearwaffenfreien Zonen, die einen Großteil des globalen Südens und Teile des globalen Nordens abdecken (Vereinte Nationen 2022a). Sie werden ergänzt durch Protokolle, in denen die unterzeichnenden Nuklearwaffenstaaten zusichern (oft an die Erfüllung des NVV geknüpft), keine Nuklearwaffen gegen die Nicht-Nuklearwaffenstaaten einzusetzen. Solche negativen Sicherheitsgarantien ergänzen die Nichtverbreitungsbemühungen, sind jedoch kein aktiver Schritt der Abrüstung, sondern eher eine Manifestation des Status quo.

Dieser Status quo und dessen Trägheit gegenüber Veränderungen ist bei den Treffen zum NVV ein häufiger Streitpunkt. Der NVV basiert auf einem simplen Deal: Staaten, die zum Zeitpunkt des Beitrittes keine Nuklearwaffen haben, beschaffen sich auch keine. Im Gegenzug verpflichten sich Nuklearwaffenstaaten zu konkreten Abrüstungsverhandlungen „in redlicher Absicht“. Tatsächlich wurde bisher keine einzige Nuklearwaffe durch diesen Vertrag abgeschafft, sondern durch uni- und bilaterale Schritte der USA und der Sowjetunion; der Erfolg im Bereich der Nichtverbreitung sowie der Ermöglichung und Überwachung der friedlichen Nutzung ist jedoch unstrittig. Während Staaten ohne Nuklearwaffen ihren Teil der Vereinbarung gehalten haben, sind diese zunehmend enttäuscht über den fehlenden Fortschritt der Abrüstung.

Die Polarisation zwischen den Staaten, die ihre staatliche Sicherheit auf Nuklearwaffen stützen, und jenen, die dies nicht dulden wollen, führte zu einem Dialog über ein anderes Nuklearwaffen-Narrativ. Seit 2010 bildete sich im Rahmen einer von Zivilgesellschaft, Diplomat*innen und Expert*innen getragenen humanitären Initiative eine andere Betrachtungsweise heraus. Sie fokussierte sich auf menschliche Sicherheit und die humanitären Konsequenzen von Nuklearwaffeneinsätzen. Daraus leitet sie die Notwendigkeit eines Verbots und der Abschaffung von Nuklearwaffen ab, wie es mit biologischen und chemischen Waffen sowie anderen inhumanen Waffen bereits der Fall ist. Aus der Initiative entstand der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV), welcher Nuklearwaffen für die beigetretenen Staaten vollumfänglich verbietet und sie ächtet. Mittlerweile wird dieser Vertrag von 119 Staaten befürwortet, 68 sind ihm bereits beigetreten. Insgesamt könnten 156 Staaten dem AVV beitreten, ohne etwas an ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu ändern (Nuclear Weapons Ban Monitor 2022). Allerdings boykottieren die Nuklearwaffenbesitzerstaaten und ihre Verbündeten den Vertrag größtenteils.

Neben der Nichtverbreitung spielte in den letzten Jahrzehnten vor allem die Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland eine wichtige Rolle bei der Einhegung von Nuklearwaffen. Die Rüstungskontrollgespräche, -verhandlungen und -verträge zwischen den beiden größten Besitzerstaaten hatten vor allem eine vertrauensbildende Funktion, indem Prozesse und Wege für den Austausch über Fähigkeiten, Intentionen und Strategien gefunden werden. Zudem begrenzten sie jeweils bestimmte Waffenkategorien oder Fähigkeiten auf einem über die Zeit gesehen immer niedrigeren Niveau. Ihr Ziel war es, das Gleichgewicht des Schreckens auszubalancieren und zu halten.

Wenngleich es einen Zusammenhang zwischen der Reduzierung von Nuklearwaffen und dem Abschluss von Rüstungskontrollverträgen gibt, kann daraus nicht gefolgert werden, dass durch die Verträge die Zahl der Nuklearwaffen reduziert wurde. Vielmehr wurden vorher beschlossene und als sinnvoll erachtete Reduktionen festgehalten und für beide Seiten verbindlich festgelegt (Woolf 2023). Vor allem die unilateralen präsidentiellen Initiativen von 1991 und 1992 trugen zur Reduktion der nuklearen Arsenale bei. Der erste Rüstungskontrollvertrag zur Begrenzung antiballistischer Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) trat 1972 in Kraft. Der 2010 in Kraft getretene und 2021 nochmals verlängerte Vertrag über strategische Nuklearwaffen (New Strategic Arms Reduction Treaty, New START) ist nun der letzte geltende Rüstungskontrollvertrag. Dieser Vertrag läuft 2026 aus, seine Umsetzung wird derzeit seitens Russlands pausiert (Bugos 2023). Angesichts des Krieges ist unklar, ob auf die Suspendierung eine Aufkündigung folgen wird und ob bzw. wann die Verhandlungen für einen Nachfolgevertrag stattfinden werden. Die wiederholte Aussetzung der im Rahmen des Vertrages vorgesehenen Inspektionen durch Russland sowie die kurzfristige russische Absage der Gespräche im November 2022 haben die Spannungen vergrößert. Trotz der Suspendierung halten sich sowohl Russland und die USA an die Grenzen des Vertrags, die vertrauensbildenden Maßnahmen wie Datenaustausch und Gespräche sind jedoch unterbrochen. Schon jetzt scheint die Zeit aber knapp, ein substanzielles Nachfolgeabkommen, geschweige denn weitreichendere Abkommen zu verhandeln, welche mehr als nur die strategischen nuklearen Sprengköpfe und ihre Trägersysteme beider Vertragsparteien umfassen.

Seit Beginn des nuklearen Zeitalters wird einerseits darum gerungen, Nuklearwaffen und ihre Zerstörungskraft einzuhegen und sie abzuschaffen. Andererseits versuchen einige wenige Staaten, sich durch nukleare Abschreckung auf Kosten aller (vermeintlich) abzusichern. Durch diese Gleichzeitigkeit von Nichteinsatz und Abschreckung hat sich ein Widerspruch, der langfristig nicht funktionieren kann, wie angesichts der aktuellen nuklearen Drohungen im Krieg gegen die Ukraine deutlich wird.

Nukleare Abschre­ckung und der Krieg gegen die Ukraine: Welche Rolle spielen Rüstungs­kon­trolle und Abrüstung?

Ein Einsatz von Nuklearwaffen im Krieg gegen die Ukraine und damit der Bruch des nuklearen Tabus würde die gesamte internationale Ordnung erschüttern. Zudem ist unklar, von wem und wie auf einen nuklearen Einsatz reagiert würde und wie viele Menschen davon betroffen wären. Eine nukleare Antwort durch die Ukraine wäre nicht möglich, aber wie würden Weltgemeinschaft und NATO reagieren? Die nukleare Abschreckung ermöglicht den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Gleichzeitig wirkt die nukleare Abschreckung der NATO, der westlichen Unterstützung für die Ukraine folgt (bisher) keine weitere Eskalation. Was aber passiert, wenn diese gegenseitige nukleare Abschreckung scheitert?

Politik und Diplomatie sollten nicht bis zu diesem Moment warten, sondern möglichst schnell konkrete Schritte für eine kurz-, mittel- und langfristige Rüstungskontrolle sowie Abrüstung zu vereinbaren. Sämtliche Normen im nuklearen Bereich sind zu verteidigen und zu stärken. Seit Februar 2022 hat sich die internationale Staatengemeinschaft mehrfach klar gegen die konkrete Androhung eines Nuklearwaffeneinsatz gestellt: abgesehen von der VN-Generalversammlung allen voran die Vertragsstaaten des AVV im Juni 2022 (Vereinte Nationen 2022b), die NVV-Mitgliedstaaten im August 2022 (Vereinte Nationen 2022c), die G20 (G20 2022). Das nukleare Tabu zu verteidigen ist aber nur ein erster Schritt, um das Risiko von Nuklearwaffeneinsätzen langfristig zu reduzieren.

Die Bemühungen um eine Reduzierung des nuklearen Risikos müssen im Rahmen der Gespräche zu strategischer Stabilität, der New START-Nachfolge sowie im Rahmen des NVV und der Gespräche zwischen den Nuklearwaffenbesitzerstaaten fortgesetzt werden. Letztlich aber sind die Abschaffung und das Verbot von Nuklearwaffen der einzige Weg, das Risiko ihres Einsatzes gänzlich einzudämmen.

Diese Einsicht, die dem AVV zugrunde liegt und die insbesondere VN-Generalsekretär Antonio Guterres seit Jahren vertritt, wird aber nicht von allen Akteuren geteilt. Schon vor dem Krieg gegen die Ukraine gab es allseits Bemühungen um technische Fortschritte, vor allem in Richtung weniger Sprengkraft und einer höheren Zielgenauigkeit, die die Hemmschwelle zum Einsatz herabsetzen würden. Diesen Trend gilt es in Anbetracht der konkreten nuklearen Drohungen weiterhin entgegenzuwirken, um das bestehende Nichtverbreitungs- und Abrüstungsregime zu stärken.

Auch der Ausweitung nuklearer Abschreckung muss klar und entschieden entgegengetreten werden. In einem Konflikt mit einem nuklear bewaffneten Staat ist das Risiko eines Nuklearwaffeneinsatzes immer gegeben. Die eklatante Missachtung der von der internationalen Gemeinschaft aufgestellten Regeln, Vereinbarungen und Normen bedroht die gesamte nukleare Ordnung. Diese ist nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in Gefahr. Der Krieg sollte aber zum Anlass genommen werden, die Rüstungskontrollverträge zu stärken und auszuweiten sowie neue Initiativen für eine nukleare Abrüstung zu ergreifen.

Hierfür müssen Grundannahmen hinterfragt und neue Ansätze gefunden werden: Das globale Sicherheitsumfeld, welches angeblich keine Abrüstung zulässt, muss aktiv umgestaltet werden. Staatliche Sicherheit darf nicht wichtiger sein als menschliche Sicherheit. Eine Welt ohne Nuklearwaffen kann eine sicherere Welt sein, wenn die Staatengemeinschaft dies so durchsetzt. Nuklearwaffen sichern keinen Frieden. Abrüstung funktioniert nicht ohne die Nuklearwaffenstaaten, sie funktioniert aber bisher auch nicht mit ihnen – dies zu ändern liegt an den Nuklearwaffenstaaten selbst.

 

Maren Vieluf M.A. Politikwissenschaft und M.A. Peace and Security Studies, arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Foreign Policy Lab der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nicht-Verbreitung.

 

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