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Rezensionen - Sich vor niemandem bücken - höchstens um ihm aufzuhelfen

Florian Grams, Ilka Hoffmann (Hrsg.): „Sich vor niemandem bücken – höchstens um ihm aufzuhelfen“. Zum Gedenken an Wolfgang Jantzen. Lehmanns Media, Berlin 2022, 136 S. für 14,95 €. ISBN 978-3-96543-332-8

Im November 2020 starb Wolfgang Jantzen – Psychologe, Sonderschullehrer, Hochschullehrer. Mit seinen theoretischen und praktischen Überlegungen zur Inklusion hat er Generationen von Pädagog:innen geprägt. Die kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologen Vygotskij und Leontjew als Ausgangspunkt nehmend und daran ansetzend, hat er gemeinsam mit Georg Feuser eine „materialistische Behindertenpädagogik“ entwickelt, eine Pädagogik im starken Kontrast und Unterschied zu einer paternalistischen Fürsorgepädagogik, in der „Behinderung“ als Persönlichkeitsmerkmal unumstößlich festgeschrieben wird.

Für Jantzen verbargen sich hinter dem Begriff der „Behinderung“ Lebensumstände, die die Entwicklung des Einzelnen behinderten. Für ihn war daher das Ziel jeglicher Pädagogik, diese Umstände zu analysieren, behindernde Faktoren offenzulegen und für den Einzelnen neue Möglichkeiten und Räume zu schaffen und zu eröffnen, getreu seinem Empfinden für die Benachteiligten und Unterdrückten und als Motor und Kern seines wissenschaftlichen Arbeitens, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (K. Marx) Gleichermaßen bezog er sich auch auf Herbert Marcuse, die humanitäre Haltung eines Menschen müsse zu seinem inneren Zustand werden.

Im vorliegenden Band erinnern sich in unterschiedlichen Beiträgen die jeweiligen Verfasser:innen an Wolfgang Jantzen und berichten, wie er ihr Denken und Arbeiten beeinflusst hat. Aus verschiedenen Perspektiven werden seine Person und Arbeit gewürdigt.

Mit der Veröffentlichung verknüpfen Florian Grams und Ilka Hoffmann auch die Hoffnung, dass die von Jantzen begonnenen Debatten weiterleben und sie zu einer wirklich inklusiven Pädagogik und zu engagiertem gesellschaftlichen Handeln ermuntern und ermutigen.

Da nach Jantzens Einschätzung die offizielle Sonderpädagogik „Behinderung“ nicht als ein Bündel die Entwicklung des Einzelnen behindernder Lebensumstände begriff, die es zu analysieren gelte, um behindernde Faktoren aufzudecken und neue Möglichkeitsräume zu eröffnen, löste er heftige Kontroversen aus, da sein Ansatz der „heil“pädagogischen Selbstdarstellung sowie der offiziellen Schulpolitik widersprach, die auf Segregation und Separation setzte.

Ausgangspunkt war bei Jantzen, wie bei so vielen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurden, die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Aus dieser Perspektive erschien ihm, so Vera Moser in ihrem Beitrag, „Behinderung als das Brennglas gesellschaftlicher Ungerechtigkeitsverhältnisse, die die aktive Teilnahme an Gesellschaft nicht nur be- und verhinderte, sondern – wie im NS-Staat – bis hin zu staatlich organisierten Ermordungen führen können“. Und sie lässt Jantzen selbst zu Wort kommen: „Aus den Besitz-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen der herrschenden Klasse bestimmt sich … die ´normale` Teilnahmefähigkeit am gesellschaftlichen Leben, je spezifiziert nach sozialer Lage und den Veränderungen in Produktion und Reproduktion … Behinderung als Störung des normalen Reproduktionszusammenhangs“. Eine neue Perspektive für das Fach Sonderpädagogik, stellte sich das Fach doch bisher vor allem in die Tradition der christlich-karitativen Wohltat.

Mit seiner Definition von Behinderung konfrontiert Jantzen diese mit den historischen Entwicklungen des Konstrukts „Behinderung“ und der sich daran entlang entwickelnden Sonderpädagogik. Er deckt in seiner umfassenden Studie der sozialhistorischen Geschichte des Betreuungswesens für Behinderte die enge Verbindung von psychiatrischen und behindertenspezifischen Sondersystemen mit ihren ordnungspolitischen Funktionen auf und deren Wirkungen im Nationalsozialismus.

Unermüdlich brachte Wolfgang Jantzen sich in politische und fachspezifische Diskussionen ein, dabei von seinem umfänglichen Wissen in Soziologie, Psychologie, Philosophie und den Neurowissenschaften profitierend, getrieben von seinem unbedingten Willen zur Veränderung. Eine emanzipatorische Behindertenpädagogik hätte es ohne sein Wirken nicht gegeben. Er hat, wie es Joachim Kutscher in seinem Beitrag formuliert, „die Pädagogik und Behindertenpädagogik vom Kopf auf die Füße gestellt“ – über 35 von ihm verfasste Bücher und 500 Artikel legen davon Zeugnis ab.

Für eine menschliche Welt zu streiten, von dieser Haltung Jantzens berichtet Wolfram Grams über seine damalige Zeit als Schulleiter einer beruflichen Schule mit einem Bildungsgang für sogenannte geistig behinderte Schüler:innen: „Wolfgang … fand mich tanzend und lachend mit einem Schüler, der wegen seines Speichelflusses nur den Direktor als Tanzpartner fand. (Wolfgang) umarmte mich mit den Worten „Sich vor niemandem bücken – höchstens um ihm aufzuhelfen.““

Dietmar Buchholz

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