Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 239/240: Keine Chance für den Frieden?

Viel Lärm um nichts: Das Abstim­mungs­de­saster um zwei Gesetz­ent­würfe zur Suizidhilfe als List der Vernunft

Nachdem das Bundesverfassungsgericht vor drei Jahren das neu eingeführte Verbot einer geschäftsmäßigen Suizidhilfe (§ 217 StGB) verworfen hatte, unternahm der Gesetzgeber jetzt einen neuen Anlauf, um die organisierte Suizidhilfe zu regulieren. Da sich die Fraktionen – wie in bioethischen Fragen üblich – nicht auf einheitliche Kriterien einigen konnten, standen im Bundestag zunächst drei, am Ende zwei konkurrierende Entwürfe aus der Mitte des Parlaments zur Abstimmung. In der Schlussabstimmung scheiterten beide Entwürfe. Warum das für sterbewillige Menschen kein Problem, sondern eher das geringere Übel darstellt, erläutert Rosemarie Will im folgenden Beitrag, der die Entwürfe auch einer inhaltlichen Kritik unterzieht.

Am 6. Juli 2023 sind im Bundestag zwei miteinander konkurrierende Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidhilfe gescheitert. Keiner von beiden erhielt nach der zweiten Lesung die erforderliche Mehrheit. Der interfraktionelle Entwurf der Abgeordneten Dr. Lars Castelluci, Ansgar Heveling u.a. (BT-Drs. 20/904) mit einer Mehrheit von Unterstützern aus CDU und CSU erhielt von 690 abgegebenen Stimmen nur 304 Ja-Stimmen und 363 Nein-Stimmen bei 23 Enthaltungen. Auf der anderen Seite gab es zunächst zwei Entwürfe: einen FDP dominierten Entwurf der Abgeordneten Helling-Plahr, Dr. Petra Sitte u.a. (BT-Drs. 20/2332) und einen grün dominierten Entwurf der Abgeordneten Künast, Scheer u.a. (BT-Drs. 20/2293), die erst Mitte Juni zu einem gemeinsamen Entwurf zusammengeführt wurden(s. BT-Drs. 20/7624). Von den 682 für ihn abgegebenen Stimmen waren 287 Ja-Stimmen und 375 Gegenstimmen bei 20 Enthaltungen. Damit fehlten dem Castelluci-Entwurf für eine Mehrheit 60 Stimmen und dem Helling-Plahr/Künast-Entwurf sogar 89 Stimmen.

Fragt man sich, wo die Anzahl der Gegenstimmen herkommt, die die Zahl der Unterstützer des jeweiligen Gegenentwurfs deutlich übersteigt und zum endgültigen Scheitern beider Entwürfe geführt hat, gerät die AfD in den Blick. Die Abstimmungsverhältnisse belegen, dass es außerhalb der Parteien, die in die interfraktionelle Arbeit an den Entwürfen eingebunden waren, einen Block gab, der mehrheitlich gegen beide Entwürfe gestimmt hat. Den beiden Plenarbeiträgen der AfD zur zweiten Lesung war zu entnehmen, dass es auch in der AfD-Fraktion, wie in allen anderen Fraktionen, keine einheitliche Meinung zur Suizidhilfe und den beiden Entwürfen gab. Da die AfD-Abgeordneten aber nicht in die interfraktionelle Arbeit einbezogen waren, stimmten sie deshalb mehrheitlich gegen beide Entwürfe. Mit dieser Stimmabgabe waren sie nicht nur das Zünglein an der Waage, sondern ausschlaggebend für die Ablehnung beider Entwürfe.

Damit steht der Gesetzgeber vor einem Scherbenhaufen seines Wirkens auf dem Felde der Suizidhilfe. Trotzdem fragt man sich, ob dieses Scheitern nicht doch eine List der Vernunft ist. Von Anfang an gab es eine Mehrheit in der Bevölkerung, welche die Annahme des Gesetzgebers nicht teilte, dass von den Sterbehelfern und Sterbehilfevereinen (gegen die sich die Regelungen richteten) eine Gefährdung für die Selbstbestimmung jedes Einzelnen am Ende des Lebens ausgeht und sie deshalb besonders strafrechtlich bekämpft, mindestens aber ordnungsrechtlich in besonderer Weise eingehegt werden müssen. Auch die Sorge um eine Kommerzialisierung und Normalisierung der Suizidhilfe wurde mehrheitlich nicht geteilt, vielmehr wurde umgekehrt mehrheitlich ein normaler, selbstverständlicher Umgang mit der Sterbehilfe gefordert. In der Rechtswissenschaft, insbesondere der Strafrechtswissenschaft, ist zudem mehrheitlich vertreten worden, dass jede Beeinflussung und Beschränkung der Freiverantwortlichkeit einer individuellen Entscheidung zum Sterben ohnehin mit dem vorhandenen Strafrecht als ein Tötungsdelikt geahndet werden kann.

Der verfas­sungs­wid­rige § 217 StGB

Vor acht Jahren (2015) wurde der § 217 ins Strafgesetzbuch eingeführt.i Mit ihm wurde erstmalig die geschäftsmäßige Suizidhilfe in Deutschland unter Strafe gestellt. Seit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1872 war in Deutschland der Suizid straffrei und deshalb auch die Suizidhilfe. Unter Strafe stand bis dato nur die Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB. Die Humanistische Union hat sich von Anfang an dagegen gewandt, Suizidhilfe unter Strafe zu stellen. Sie folgte damit der großen Mehrheit der deutschen Strafrechtslehrer.ii Sterbehelfer und Sterbevereine a priori als eine allgemeine Gefährdung von Selbstbestimmung am Lebensende anzusehen, hielten wir für sachlich falsch. Wir sahen vielmehr, insbesondere in der fachlich kompetenten, von Ärzten geleisteten Sterbe- und Suizidhilfe eine wichtige Bedingung für die Gewährleistung der Selbstbestimmung am Lebensende. Weil § 217 StGB nicht nur die gewerbsmäßige, auf Gewinnerzielung gerichtete Suizidhilfe unter Strafe stellte, sondern mit dem Tatbestandsmerkmal „geschäftsmäßig“ auf jede planmäßig organisierte, auf Wiederholung gerichtete Suizidhilfe zielte, hielten wir die Regelung für einen verfassungswidrigen Eingriff in die Grundrechte der Suizidenten und ihrer Helfer.iii Unserer bürgerrechtlichen Linie aus dem Kampf für die Durchsetzung der Patientenverfügung folgend, vertraten wir, dass jeder nicht nur über seine ärztliche Behandlung selbst entscheiden kann, sondern auch über die Beendigung seines eigenen Lebens.

Das Bundesverfassungsgericht gab uns mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 Recht (BVerfGE 153, 182).iv Das Urteil stellte fest, dass zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben gehört. Weil in dieses Recht durch § 217 StGB verfassungswidrig eingegriffen wurde, hoben die Verfassungsrichter den Straftatbestand auf. Seitdem gab es keine speziellen strafrechtlichen Regelungen zur Suizidhilfe mehr. Auch die berufsrechtlichen Regelungen einiger Landesärztekammern, die den Ärzten die Suizidhilfe untersagten, mussten nach dem Urteil aufgehoben werden.v Nicht erlaubt wurde jedoch der legale Zugang zu einem Tötungsmittel. Bis heute ist Ärzten und Apothekern die Verordnung oder Abgabe eines solchen Mittels untersagt. Mit dem Scheitern der Gesetzentwürfe bleibt es bei dieser Rechtslage: die Suizidhilfe ist straffrei, aber es gibt keinen legalen Zugang zu einem Tötungsmittel.

Für unsere bürgerrechtliche Arbeit ist es wichtig zu verstehen, warum und wie die neuen Entwürfe drei Jahre nach dem Verfassungsurteil gescheitert sind.

Der Castel­lu­ci-­Ent­wurf als Wieder­gänger des verfas­sungs­wid­rigen § 217 StGB

Der interfraktionelle Entwurf der Abgeordneten Dr. Lars Castelluci, Ansgar Heveling u.a. wollte ein neues strafrechtliches Verbot in § 217 StGB regeln, das im Unterschied zur aufgehobenen verfassungswidrigen Norm breitere Ausnahmen zuließ, bei denen Suizidhilfe gerechtfertigt sein sollte. Voraussetzungen dafür sollten zwei Untersuchungen und ein Beratungsgespräch sein. Die Untersuchungen wären im Abstand von drei Monaten durch einen Facharzt der Fachrichtungen Psychiatrie oder Psychotherapie oder einer Person mit psychotherapeutischer Qualifikation, die jeweils nicht an der Selbsttötung beteiligt sind, durchzuführen. Ziel der Untersuchung sei es festzustellen, dass keine die autonome Entscheidungsfindung beeinträchtigende psychische Erkrankung vorliegt und nach fachlicher Überzeugung das Sterbeverlangen freiwilliger, ernsthafter und dauerhafter Natur ist(§ 217-E Abs. 2 Nr. 2).vi In Ausnahmefällen, wenn dies für die suizidwillige Person nicht zumutbar ist, insbesondere bei Vorliegen einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung(§ 217-E Abs. 2 S. 2), soll ein Untersuchungstermin ausreichen.

Vor der abschließenden Untersuchung soll ein individuell angepasstes, umfassendes und ergebnisoffenes Beratungsgespräch mit einem multiprofessionellen und interdisziplinären Ansatz bei einem weiteren Arzt oder einer weiteren Ärztin, einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin, einer psychosozialen Beratungsstelle, einer Suchtberatung oder einer Schuldenberatung stattfinden. Das Gespräch soll unter anderem eine Aufklärung über den mentalen und physischen Zustand, die Möglichkeiten der medizinischen Behandlung und Alternativen zur Selbsttötung sowie mögliche psychologische und physische Auswirkungen eines fehlgeschlagenen Selbsttötungsversuchs sowie soziale Folgen einer durchgeführten Selbsttötung umfassen (§ 217-E Abs. 2 Nr. 3).

Nach Abschluss der Untersuchungs- und Beratungsphase soll eine Wartefrist von zwei Wochen eingehalten werden. Die Selbsttötung muss dann innerhalb von zwei Monaten nach der letzten psychiatrischen oder psychotherapeutischen Untersuchung erfolgen. Die Möglichkeit zur Verschreibung tödlich wirkender Medikamente sollte über eine Änderung im Betäubungsmittelgesetz geschaffen werden.

Bei der öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am 28. November 2022 haben von den fünf juristischen Gutachtern vier diesen Entwurf für bedenklich gehalten. Auch die späteren Änderungen konnten diese Bedenken nicht ausräumen. Wäre dieser Entwurf angenommen worden, wäre es m. E. erneut zur Aufhebung in Karlsruhe gekommen. Ein Gesetz, dass die Suizidhilfe grundsätzlich kriminalisiert, die Grundrechtsausübung nur in Ausnahmefällen zulässt, ein nicht leistbares Untersuchungs- und Beratungsprogramm vorschreibt und die Suizidentscheidung pathologisiert, ist ein unzulässiger Eingriff in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben.

Die verspätete Zusam­men­füh­rung der Entwürfe Helling-­Plahr/­Künast

Die beiden Gesetzentwürfe von Helling-Plahr u.a. (BT-Drs. 20/2332) sowie Künast u.a. (BT-Drs. 20/2293) konkurrierten bis Mitte Juni offiziell gegeneinander. Es war aber naheliegend, dass sich beide Entwürfe zusammenschließen, damit überhaupt eine Chance für eine linksliberale Mehrheit gegen den Entwurf Castelluci u.a. bestand. Spätestens seit der Anhörung im Rechtsausschuss im Februar 2022 lag daher die Forderung nach einer Einigung auf dem Tisch; sie kam aber im Juni zu spät für eine breite öffentliche und parlamentarische Debatte.

Aus dem Zusammenschluss entstand der Entwurf für ein Gesetz zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben und zur Regelung der Hilfe zur Selbsttötung(s. BT-Drs. 20/7624, S. 11 ff.). Jeder, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben eigenhändig beenden möchte, soll danach das Recht haben, Hilfe in Anspruch zu nehmen (§ 1). Eine Pflicht zur Hilfe zur Selbsttötung sollte mit dem Entwurf ausgeschlossen werden, ebenso sollte es nicht möglich sein, einer Person aufgrund ihrer Berufszugehörigkeit die Mitwirkung beziehungsweise die Nicht-Mitwirkung an der Hilfe zur Selbsttötung zu untersagen.

Das Regelungs- und Schutzkonzept des Entwurfs sieht die Verschreibung des tödlichen Mittels von einem Arzt des Vertrauens für Erwachsene vor, regelt aber als Voraussetzung für die ärztliche Verschreibung eine vorherige verpflichtende Beratung. Für Minderjährige ist eine Verschreibung ausgeschlossen. Nur in Ausnahmefällen kann auch eine nach Landesrecht zuständige Stelle einer suizidwilligen Person eine einer ärztlichen Verschreibung gleichstehende Erlaubnis zum Erwerb eines Arznei- oder Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung erteilen, wenn die Voraussetzungen für die ärztliche Verschreibung vorliegen und die suizidwillige Person glaubhaft macht, dass eine ärztliche Verschreibung nicht in zumutbarer Weise zu erlangen ist. Mit der Regelung einer verpflichtenden Beratung vor der Verschreibung wird dem Verfahren beim Schwangerschaftsabbruch gefolgt. Nur in Härtefällen wäre eine Verschreibung durch einen Arzt oder eine Ärztin ohne die Vorlage einer Beratungsbescheinigung möglich (§ 7). Dies müsste dann aber von einer weiteren Ärztin oder Arzt bestätigt werden. Ein solcher Härtefall läge vor, wenn sich die suizidwillige Person gegenwärtig in einem existenziellen Leidenszustand mit anhaltenden Symptomen befindet, die sie in ihrer gesamten Lebensführung dauerhaft beeinträchtigen; wenn sie sich in absehbarer Zeit in einem solchen Zustand befinden wird; und insbesondere bei Vorliegen einer nicht heilbaren, fortschreitenden oder weit fortgeschrittenen Erkrankung mit zugleich begrenzter Lebenserwartung. Palliativfälle sollen stets darunter fallen.

Die §§ 4, 5 des Entwurfs regeln den Rahmen für die verpflichtende Beratung, die vor der ärztlichen Verschreibung erfolgen muss. Danach soll die Beratung eine autonome und vollinformierte Entscheidungsfindung suizidwilliger Personen sicherstellen. Sie ist ergebnisoffen“ zu führen und soll die für eine Entscheidung für oder gegen eine Selbsttötung erheblichen Gesichtspunkte vermitteln. Zu den Beratungen können im Einvernehmen weitere Personen, beispielsweise Ärztinnen oder Psychologen, hinzugezogen werden. Keine Beratung soll von einer Person vorgenommen werden dürfen, die an einer späteren Hilfe zur Selbsttötung beteiligt ist.

Für ein ausreichendes Angebot an Beratungsstellen müssen die Länder Sorge tragen. Beratungsstellen bedürfen einer staatlichen Anerkennung, auch freie Träger sowie Ärztinnen und Ärzte sollen anerkennungsfähig sein. Anerkennungsvoraussetzungen ist unter anderem, dass die Beratungsstelle über hinreichend persönlich und fachlich qualifiziertes Personal verfügt. Die Beratungsstelle soll mit keiner Einrichtung, in der Hilfe zur Selbsttötung geleistet wird, derart organisatorisch oder durch wirtschaftliche Interessen verbunden sein, dass hiernach ein materielles Interesse der Beratungseinrichtung an der Durchführung von Hilfe zur Selbsttötung nicht auszuschließen ist. Für einen Übergangszeitraum – bis zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes – soll jeder Arzt oder Ärztin eine Beratung ohne Anerkennung vornehmen dürfen.

Der verschreibende Arzt oder die Ärztin sind verpflichtet, die suizidwillige Person mündlich und in verständlicher Form über sämtliche für die Selbsttötung wesentlichen medizinischen Umstände aufzuklären. Bei erkrankten Personen ist auch auf Behandlungsmöglichkeiten und Möglichkeiten der Palliativmedizin hinzuweisen. Die Verschreibung soll erst dann möglich sein, wenn die suizidwillige Person sich höchsten zwölf Wochen und mindestens drei Wochen vorher hat beraten lassen (§ 6).

Neben der Herstellung von Rechtssicherheit im Bereich der Suizidhilfe zielte dieser Entwurf auch darauf, dass durch das unentgeltliche Beratungsangebot und die ärztliche Verschreibung des tödlichen Mittels kein Bedarf mehr besteht, einen Sterbehilfeverein aufzusuchen. Insbesondere soll die soziale Situation kein relevanter Umstand mehr sein, wenn es um die Inanspruchnahme einer Suizidhilfe geht. Suizidhilfe als Gewinnveranstaltung für Sterbehilfevereine soll überflüssig werden. Gleichwohl wurde die Suizidhilfe durch Sterbehilfeverbände nicht rechtlich untersagt. Der Entwurf erteilt vielmehr in § 9 eine Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung, ihre Tätigkeit zu regeln. Danach kann durch Verordnung die Evaluation ihrer Tätigkeit, konkrete Melde- und Dokumentationspflichten zur sicheren Aufbewahrung der Arznei- und/oder Betäubungsmittel, die Vergütung der Hilfe zur Selbsttötung sowie die Prävention gegen die Etablierung rein auf Gewinnstreben ausgerichteter Angebote geregelt werden. Auch kann die Zulassung organisierter Angebote von Hilfe zur Selbsttötung in der Rechtsverordnung von einer Zuverlässigkeitsprüfung abhängig gemacht werden.

Braucht es ein rechtliches Schutzkonzept für die Suizidhilfe? Genügt der Entwurf von Helling-Plahr/Künast den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein solches Schutzkonzept?

Folgt man dem verfassungsgerichtlichen Urteil vom 26.2.2020, dann gilt: Wenn ein freiverantwortlicher Suizid und die Inanspruchnahme der Hilfe Dritter durch das grundrechtliche Selbstbestimmungsrecht geschützt sind, wozu bedarf es dann noch einer gesetzlichen Regelung der Suizidhilfe?

Der Streit über die Zulässigkeit der Suizidhilfe lehrt uns, dass es zum einen der gesetzlichen Klarstellung über das grundrechtlich geschützte Handeln bedarf, um Rechtssicherheit für die Suizidenten und ihre Helfer zu gewährleisten. Zum anderen müssen entgegenstehende Regelungen – insbesondere Verbote des grundrechtlich geschützten Handelns – vom Gesetzgeber beseitigt werden.

Dies leistet der Entwurf Helling-Plahr/Künast. Er stellt das Recht zum freiverantwortlichen Suizid klar, ebenso wie das Recht zur Suizidhilfe durch Dritte. Auch der Ausschluss einer Pflicht zur Hilfe bei der Selbsttötung entspricht dem verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrecht eines jeden Grundrechtsträgers. Ebenso handelt es sich um eine Klarstellung, dass einer Person aufgrund ihrer Berufszugehörigkeit die Mitwirkung beziehungsweise die Nicht-Mitwirkung an der Hilfe zur Selbsttötung nicht untersagt werden kann.

Die Regelung über die Verschreibung des tödlichen Mittels von einem Arzt des Vertrauens für Erwachsene schafft einen legalen Zugang. Mit der Verordnungsermächtigung zur entsprechenden Änderung des Betäubungsmittelgesetzes werden zudem die Voraussetzungen dafür geschaffen, das entgegenstehende Verbot für Ärzte und Apotheker aufzuheben. Soweit, so gut. Diese Regelungen dienen zur Absicherung der Rechte der Suizidenten und ihrer Helfer und scheinen geboten zu sein.

Auch die vorgesehene Evaluation der Suizidhilfe, die Auferlegung von Melde- und Dokumentationspflichten, sowie die die Ermächtigung für Vergütungsregelungen zur Suizidhilfe mit dem Ziel, die Etablierung rein gewinnorientierter Angebote zu verhindern, sind verfassungsrechtlich unproblematisch. Ebenso lässt sich die Ermächtigung zur Schaffung von Zulassungsregeln für organisierte Angebote von Suizidhilfe im Sinne einer Zuverlässigkeitsprüfung mit dem Grundrechtsschutz der Suizidenten rechtfertigen.

Anders sieht es aber mit der verpflichtenden Beratung als Voraussetzung für die ärztliche Verschreibung des tödlichen Medikaments aus. Der Verweis auf das Modell beim Schwangerschaftsabbruch übersieht zum einen den Jahrzehnte lang geführten Streit über diese Beratungspflicht, zum anderen den Unterschied in der grundrechtlichen Konstellation. Beim Schwangerschaftsabbruch kann sich der Gesetzgeber auf den Schutz des ungeborenen Lebens vor der Entscheidung der Schwangeren zum Abbruch der Schwangerschaft berufen. Beim freiverantwortlichen Suizid dagegen wird kein Dritter geschützt. Eine Schutzpflicht besteht hier nur in Bezug auf die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung zum Suizid, nicht zu einem Lebensschutz gegen den Grundrechtsträger selbst. Insoweit scheint verfassungsrechtlich nur ein Angebot zur Beratung zulässig, dass freiwillig wahrgenommen werden kann – aber nicht zwingend sein darf für die Verschreibung des tödlichen Mittels. Das sollte bei einem neuen Anlauf zur Regelung der Suizidhilfe bedacht werden. Ebenso muss beim nächsten Anlauf auch über die Streichung des § 216 StGB nachgedacht werden. Die verfassungsgerichtlichen Feststellungen zum selbstbestimmten Tod und zum Anspruch auf Hilfe dazu legen eine Streichung der Tötung auf Verlangen in § 216 StGB nahe.

 

Prof. Dr. Rosemarie WIll Jahrgang 1949, hatte bis 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie inne. Von 1993 bis 1995 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht im Dezernat von Prof. Dr. Grimm, ab 1996 für zehn Jahre Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg. Rosemarie Will war von 2005 bis 2013 Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, in deren Bundesvorstand sie sich lange u.a. für bioethische Fragen engagierte. Sie ist Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des Rechtsstaats und des Grundrechteschutzes vorzuweisen.

 

Anmerkungen:

i Zur Entstehung des § 217 StGB und der dazu geführten bürgerrechtlichen Diskussion siehe vorgänge Nr. 210/211 (Heft 2-3/2015): Suizidbeihilfe – bald nur noch beschränkt?

ii Siehe Eric Hilgendorf, Stellungnahme der deutschen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer zur Neuregelung der Sterbehilfe, vorgänge Nr. 210/211 (Heft 2-3/2015), S. 99-104.

iii Humanistische Union, Bundestag entscheidet gegen Bevölkerungsmehrheit und Fachverstand. Pressemitteilung v. 6.11.2015, abrufbar unter https://www.humanistische-union.de/thema/bundestag-entscheidet-gegen-bevoelkerungsmehrheit-und-fachverstand/.

iv Zur Diskussion nach der Entscheidung des BVerfG siehe vorgänge Nr. 229 (Heft 1/2020): Perspektiven der Suizidbeihilfe.

v Humanistische Union, Vorläufiges Ende einer 10jährigen Irrfahrt. Pressemitteilung v. 7.5.2021, abrufbar unter https://www.humanistische-union.de/thema/vorlaeufiges-ende-einer-10jaehrigen-irrfahrt/.

vi Alle Zitate aus den Gesetzentwürfen beziehen sich auf Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts­ausschusses des Deutschen Bundestags in BT-Drs. 20/7624 v. 5.7.2023, in der die geänderten Textfassungen beider Vorschläge zu finden sind.

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