Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 239/240: Keine Chance für den Frieden?

Krieg – ein Jahrhun­dert­feh­ler: Egon Bahr zum 100. Geburtstag. Ist sein Erbe noch gefragt?

Als die russischen Truppen am 27. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierten, sprach Olaf Scholz im Deutschen Bundestag von einer „Zeitenwende“. In den Wochen und Monaten danach wurde deutlich, was die SPD-geführte Koalition darunter versteht: ein neues Sicherheitsdenken, das auf eine längerfristige Konfrontation mit Russland ausgelegt ist und in die Logik militärischer Blockbildung führt. Im folgenden Essay erinnert Daniela Dahn an Egon Bahr, der vor 60 Jahren mit der SPD Willy Brandts die ersten Schritte zu einer Überwindung der damaligen Ost-West-Konfrontation einleitete.

Mit 93 Jahren hielt Egon Bahr seine letzte Rede, drei Wochen vor seinem Tod. Kein Zufall: in Moskau. Der Vordenker sozialdemokratischer Entspannungspolitik zwischen Ost und West fragte darin, ob die Ostpolitik der 60er Jahre wiederholbar sei. Viele Konflikte seien konstant geblieben, aber neue hinzugekommen, die für ein Bündnis beider Seiten sprächen. «Niemand nähme einen Schaden, wenn die Situation auf der Krim respektiert wird, ohne zeitliche Begrenzung.» Man müsse «die Hand am Puls des Anderen halten», um Überraschungen und Missverständnisse zu vermeiden. Eine neue Entspannungspolitik sei sowohl wegen unserer schmerzhaften Geschichte wie auch im wohlverstandenen Eigeninteresse das Gebot der Stunde. Egon Bahr wollte auf einen Zustand hinwirken, in dem Europa mit Russland, unter Mitwirkung der USA, zu einem attraktiven Kontinent des stabilen Friedens in einer interpolaren Welt wird.

«Das ist mein Traum.»

Was hätte Egon Bahr zur Invasion russischer Truppen in die Ukraine gesagt? Man muss der Versuchung widerstehen, ihm nun Worte in den Mund zu legen, es empfiehlt sich, bei den vielseitigen Äußerungen zu bleiben, die er hinterlassen hat. Der langjährige Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung wollte das Recht des Stärkeren in die Stärke des Rechts verwandelt sehen, jeder kriegerische Einsatz ohne UN-Mandat war ihm ein gegen das Völkerrecht verstoßender Aggressionskrieg, wie damals der Nato-Krieg gegen Restjugoslawien. «Alle erkennbaren Probleme, denen sich die Welt gegenübersieht, sind nicht militärisch lösbar», hat er in seinem Buch «Ostwärts und nichts vergessen» beschworen. Er hätte vermutlich genauso wie wir Heutigen den Krieg in der Ukraine scharf verurteilt und zutiefst bedauert, auch weil man in dem Leid aller Beteiligten und der sinnlosen Zerstörung keine Wahrung russischer Interessen erkennen kann. Dieser Krieg löscht neben vielen Hoffnungen auch alle einstigen Erfolge der Entspannungspolitik aus. Schon heißt es, man müsse Abschied nehmen von der Sehnsucht nach einer entmilitarisierten Welt. Sicherheit in Europa müsse nun gegen Russland durchgesetzt werden, eine Erwägung, die Bahr immer für ausgeschlossen hielt. Wandel durch Annäherung – sein berühmtes Motto – alles nur noch Folklore. Mit seiner berühmten Tutzinger Rede hatte Egon Bahr schon 1963 den Grundstein für ein Umdenken gelegt. Die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks habe nur zur Erstarrung der Beziehungen geführt, wolle man eine Öffnung, scheide «die Politik des Alles oder Nichts» aus. Mit der Forderung, auch die Interessen der anderen Seite berücksichtigen zu müssen, berief er sich auf Kennedy. Diese Haltung sei «rasend unbequem», aber alternativlos.

Heute stellt sich die Frage, ob die an Entspannung Interessierten zu viel auf Brandt und Bahr gehört haben, oder eher zu wenig. Der Westen hatte die Chance, etwa den Sowjets für ihren gutwilligen und politisch bedingungslosen Truppenabzug aus ganz Osteuropa mit einem Friedenskonzept unter Einbeziehung Russlands zu danken. Als der Starke hätte der Westen die Verantwortung für ein solches Angebot übernehmen müssen. Dass er stattdessen auf Konfrontation durch Aufrüstung und Nato-Osterweiterung setzte, hat Bahr als einen Jahrhundertfehler bezeichnet. Er hätte es begrüßt, wenn sich das Bündnis aufgelöst und als gesamteuropäisches Sicherheitssystem neuformiert hätte. Damit war er in der SPD nicht allein.

In jenem Buch zitierte er Helmut Schmidt: «Das könnte den Amerikanern so passen, wenn durch eine weitere Ausweitung der Nato die Spannungen zu Russland zunehmen und damit Europa schutzbedürftiger wird. Die Nato gehört nicht Amerika.» Sehr wahrscheinlich würde Egon Bahr heute zu den verbliebenen unabhängigen Denkern gehören, die sagen, dass es nicht zu diesem Krieg gekommen wäre, wenn die Nato sich nicht wie ein Rollkommando nach Osten ausgedehnt hätte. Auch Noam Chomsky sieht dieses schwere Kriegsverbrechen von der Vorgeschichte provozierti, wie sein berühmt gewordener Kollege John Mearsheimer, der die USA verantwortlich macht, die Ukraine in ein De-facto-Mitglied der Nato verwandelt zu haben.ii Sie hätten die Ukraine behandelt, als gehöre sie ihnen, ergänzt der Soziologe Wolfgang Streeck.iii

Der Kreml hat allen Grund, sich verraten, bedroht und erbittert zu fühlen, aber nicht den geringsten Grund, noch so berechtigte Sicherheitsinteressen durch Kriegsverbrechen durchsetzen zu wollen. Dabei reagieren die schwächeren Brüskierten oft schlimmer als die starken Herausforderer, siehe das Aleppo-Syndrom. Doch selbst beim Zerbomben ganzer Städte sind die USA mit schlechtem Beispiel vorausgegangen, wie man im irakischen Mossul verdeutlicht bekam.iv

Das ist keine Rechtfertigung, sondern das Bestehen darauf, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Jedes Kind beteuert im Streit, nicht angefangen zu haben – ein früh verinnerlichtes Maß für Gerechtigkeit. Die Großmedien geben gern den Anfang eines Narrativs vor, demnach hat der Ukraine-Konflikt mit der Annexion der Krim begonnen. Bahr stand in engem Austausch mit seinem Genossen Erhard Eppler, der damals fragte: «Warum ist niemand auf die Idee gekommen, mit Putin über das Assoziationsabkommen zu reden?» Er hätte sich kaum auf die Vertragstreue eines Jazenjuk, den «Mann des State Departments», verlassen können.

Immer ist der Schnee von gestern die Sintflut von heute. Der jetzige Angriffskrieg setzt neue Prämissen und muss zu neuen Schlüssen führen. Aber bitte ohne Verbote zu ursächlichem Denken, das für Bahr elementar war, und ohne Gebote zu ausschließlicher Diffamierung. Derzeit obsiegt eine Quasi-McCarthy-Stimmung, in der nur noch Bekenntnisse zählen: Gehörst du zu uns oder zu denen? Bist du ein Good Guy oder ein Bad Guy? Die 27.000 PR-Spezialisten des Pentagon mit ihrem Jahresbudget von fünf Milliarden Dollar werden sich die Hände reiben über diesen einfachen Coup: Der Hinweis auf moralische Doppelstandards ist jetzt genauso verpönt wie der auf strukturelle Zusammenhänge. Einschüchterungsversuche hat zu seiner Zeit auch Egon Bahr erfahren, er war ungehalten über derart «widerliche Heckenschützen».

Wird sich die SPD unter all den Umständen zum Erbe der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr bekennen? Immerhin hat sie jahrzehntelang funktioniert und war die Voraussetzung der deutschen Einheit. Für diese Politik bestand daher ein klarer demokratischer Auftrag: noch im April 2018 ermittelte Forsa, dass 94 Prozent der Deutschen gute Beziehungen zu Russland für wichtig halten. Wie schnell das geht. Erst wird man zum Feindbild, dann tatsächlich zum Feind. Die 100 Milliarden Euro Sonderfonds für die Bundeswehr, die Kanzler Scholz staatsstreichartig durchgezogen hat, werden schon deshalb nicht mehr Sicherheit bringen, weil sie den drohenden Klimakollaps beschleunigen. SPD-Fraktionsvorsitzender Mützenich beklagte zu Recht, die Jungen werden uns dafür verurteilen, dass wir ihnen keine bessere Welt übergeben. Eine Schuld, die wir abtragen müssten.

Man wisse nicht, so Bahr 2001v, wie Russland sich entwickeln werde, es sei aber geneigt, sich Europa zuzuwenden. Die Bereitschaft zur Kooperation, etwa bei der Rüstungskontrolle, nicht auszunutzen, wäre töricht und ein historischer Fehler. Er sei kein Antiamerikaner, die größte Weltmacht könne durch nichts ersetzt werden. «Fabelhaft. Sollen sie ihre Sachen machen. Aber soweit wir das mit den Europäern schaffen, erledigen wir unsere Angelegenheiten jetzt europäisch. Wenn wir das nicht machen, bleiben wir Protektorat.»

Die Emanzipation von Amerika war für Bahr ein zentrales Anliegen. Denn die Nato sei «zu einem Instrument im Interesse der hegemonialen Strategie der Vereinigten Staaten» geworden. Er plädierte für einen European way of life. «In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt», brachte er 2013 einer erstaunten Schulklasse in Heidelberg bei.

Ein Europa als Kontinent stabilen Friedens blieb nicht der einzige unerfüllte Traum Egon Bahrs. Als junger Mann hätte er gern Musik studiert, wurde aber wegen seiner jüdischen Großmutter nicht an die Universität zugelassen. (Was seine Kollegen von der CDU gelegentlich bedauert hätten.) Er hatte eine Vorliebe für russische Musik, besonders Schostakowitsch und Tschaikowsky.

«Wer sich mit Russland einlässt, kann die Berührung mit Tragik nicht vermeiden.» Mit diesem Gedanken begann Egon Bahr sein Nachwort für das Erinnerungsbuch von Wjatscheslaw Keworkow, die Schlüsselperson seines einst von Henry Kissinger eingefädelten «back channel» nach Moskau. Das war eine offizielle, aber verdeckte Verbindung zwischen Entscheidungsträgern. Ein Kanal, der viele Jahre vertrauensvoll funktioniert und womöglich manch Ungemach in den Beziehungen vermieden hat. Die Dimension der Tragik bezog er hier auf die generelle Unfähigkeit der Mächtigsten in einem mächtigen Staat, sich aus den Zwängen ihres Systems zu lösen und stattdessen zuzulassen, dass die Kleineren im historischen Strudel in die Fehler und Irrtümer hineingezogen werden.

Als Bahr mit 89 noch einmal heiratete, war auch Valentin Falin geladen und sein Freund Wjatscheslaw Keworkow, der die Verhandlungen mit Egon Bahr vorangetrieben hatte, die 1970 zum Moskauer Vertrag führten. Der wohl wichtigste Erfolg seiner Politik. All diese Anstifter einstiger Verständigung leben nicht mehr. Heute sind alle Verträge nichtig, es geht nur noch darum, sich gegenseitig den größtmöglichen Schaden zuzufügen. Der Weg dahin wird uns noch lange umtreiben.

Eins hat der unbequeme Egon Bahr jedenfalls erreicht. Zu seinem hundertsten Geburtstag ist er durchaus präsent und beschäftigt die Gemüter. Gratulation!

 

Daniela Dahn Jahrgang 1949, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie gehörte 1989 zu den Mitbegründerinnen des Demokratischen Aufbruchs in der DDR; engagiert sich seit Jahren für den Schutz der Bürgerrechte, u.a. im Beirat der Humanistischen Union und in der Bewegung „Aufstehen“. Zuletzt erschien von ihr: »Im Krieg verlieren auch die Sieger – Nur der Frieden kann gewonnen werden«.

 

Anmerkungen:

i https://truthout.org/articles/noam-chomsky-us-military-escalation-against- russia-would-have-no-victors/.

ii https://www.youtube.com/watch?v=JrMiSQAGOS4.

iii https://newleftreview.org/sidecar/posts/fog-of-war.

iv Sowohl das irakische Mossul wie auch das syrische Aleppo waren Al-Qaida Hochburgen. Bis heute hat sich die von den Nato-konformen Medien verbreitete Mär gehalten, wonach die US-geführte Allianz in Mossul nur gezielte Schläge gegen islamische Milizen geführt hat, während die russischen Bomben auf Aleppo brutal die ganze Stadt in Schutt und Asche legten und wahllos Zivilisten töteten. Unerwähnt bleibt, dass nach neunmonatigem Bombardement auch die gesamte Altstadt und die Hälfte aller Gebäude in West-Mossul in Trümmern lag und nach Studien in der viel einwohnerreicheren Stadt 87 000 Tote geschätzt werden. Selbst US-Kommandeure sprachen von einer der tödlichsten Stadt-Schlachten seit dem Zweiten Weltkrieg. Ausgeblendet bleibt auch, dass, bevor Russland in Syrien auf Bitten von Präsident Assad gegen die ein Kalifat anstrebenden Islamisten in den Krieg eingriff, bereits fünf Jahre lang vier von fünf UN-Vetomächten in Syrien ohne UN-Mandat bombten, ohne Rücksicht auf Hunderttausende Opfer. Siehe auch S. 108 ff. in diesem Buch.

v Interview in der Zeitschrift vorgänge; Berlin, 21.4.2001.

nach oben