Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 239/240: Keine Chance für den Frieden?

Kopftücher im öffent­li­chen Dienst: Pro & Contra

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit einer Nichtannahme-Entscheidung (Beschluss v. 17.1.2023, 1 BVR 1661/21) einen Rechtsstreit um das Verbot religiöser Bekleidung bei öffentlich Bediensteten des Landes Berlin beendet. Anlass war eine Beschwerde des Landes Berlin gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 27.8.2020 (8 AZR 62/19), mit dem das im Berliner Neutralitätsgesetz enthaltene Verbot von Kopftüchern und anderen religiösen Kleidungsstücken eingeschränkt und auf Fälle begrenzt wurde, in denen konkrete Gefahren für den Schulfrieden bzw. die staatliche Neutralität gegeben seien.

Die Frage, ob und in welchem Rahmen religiöse Symbole und Kleidung in Schulen, Gerichten, bei der Polizei und anderen öffentlichen Einrichtungen zuzulassen sind, beschäftigt nicht nur deutsche Gerichte, sondern auch Bürgerrechtsorganisationen wie die Humanistische Union seit vielen Jahren. Dabei geht es u.a. um die Frage, wie das staatliche Neutralitätsgebot und die individuelle Religionsfreiheit miteinander in Einklang zu bringen sind. Die beiden folgenden Kommentaren gehen auf das Für und Wider von Kopftuch-Verboten ein.

Kopftuch­ver­bote sind keine Religi­ons­ver­bote

1. Sind Staat und Religionsgemeinschaften heute in Deutschland voneinander getrennt im Sinne von religiöser Neutralität? Die Staatspraxis vermittelt einen anderen Eindruck: Das Oberhaupt der katholischen Kirche hält eine Rede im Bundestag. Volksvertreter besuchen demonstrativ vor der konstituierenden Sitzung des jeweiligen Parlaments ökumenische Gottesdienste. Bundespräsidenten, Kanzler und andere Regierungsmitglieder nehmen an überwiegend staatlich finanzierten Kirchen- und Katholikentagen teil. Bei vielen feierlichen, bei traurigen Gedenkveranstaltungen, deren staatlicher oder kirchlicher Charakter im Ungefähren bleibt, treten staatliche und Religionsvertreter gemeinsam auf. In den öffentlichen Schulen werden den Schülern durch den staatlichen, aber von den Religionsgemeinschaften inhaltlich verantworteten Religionsunterricht sittliche Werte vermitteln. Allen Soldaten der Bundeswehr wird durch staatlich besoldete Militärgeistliche lebenskundlicher Unterricht erteilt. Vertretern von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften wird in allen möglichen staatlich eingerichteten Gremien, Räten, Beiräten – streng paritätisch – Sitz und Stimme garantiert. Die staatlichen Finanzbehörden ziehen für die Religionsgemeinschaften deren Mitgliedsbeiträge ein. Die Ausbildung der Geistlichen erfolgt durch staatliche Hochschullehrer. In vielen Einrichtungen des Staates, in Schulen, Gerichten und Behörden sind Kreuze aufgehängt – knapp dreißig Jahre nachdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hat: „Die Anbringung eines Kreuzes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule … verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 Grundgesetz.i Staat und Religionsgemeinschaften sind also auf das Innigste miteinander vermischt und verschränkt.

2. Dazu passt es, dass seit dem Jahr 2015 staatlichen Lehrkräfte an öffentlichen Pflichtschulen bei der Unterrichtserteilung ihrer religiösen Überzeugung durch das Tragen entsprechender Kleidung Ausdruck verleihen dürfen. Das ist – gegen den expliziten Wortlaut von Gesetzen in einigen Ländern – die Rechtslage, nachdem das Bundesverfassungsgericht (1. Senat) am 27.1.2015 für das islamische Kopftuch in Nordrhein-Westfalen so entschieden hat (BVerfGE 138,296). Die Einschränkung, dass das Kopftuch, also die religiös konnotierte Kleidung, verboten werden kann, wenn der Schulfrieden konkret beeinträchtigt wird, ist erwartungsgemäß vollständig ohne Wirkung geblieben.ii Das Bundesarbeitsgericht hat sich im Jahr 2020 unter Berufung auf diese Verfassungsrechtsprechung für befugt erachtet, das sog. Neutralitätsgesetz in Berlin (Gesetz v. 27.1.2005 GVBl. S. 92) schlicht unangewendet zu lassen, welches in § 2 vorsah, dass Lehrkräfte

keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen“ dürfeniii

Die Befugnis, ein demokratisch zustande gekommenes Gesetz (wie das BerlNeutrG) wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz nicht anzuwenden (Verwerfungsbefugnis) kommt nach Art. 100 Abs. 1 GG nur dem Bundesverfassungsgericht zu; das Bundesarbeitsgericht hätte also die Frage nach der Vereinbarkeit des Neutralitätsgesetzes mit dem Grundgesetz dem BVerfG vorlegen müssen, zumal der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts kurz zuvor in einem Fall aus der hessischen Justiz das entsprechende gesetzliche Kopftuchverbot (§ 45 HessBeamtenG) ausdrücklich bestätigt hatte (BVerfG vom 14.1.2020 – BVerfGE 153, 172). In der überdehnten Anwendung der verfassungskonformen Auslegung des Berliner Gesetzes (a.a.O., Rdn. 66-69) folgt das Bundesarbeitsgericht dem, was der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2015 bei dem nordrhein-westfälischen Gesetz vorexerziert hatte. Es herrscht – vorsichtig gesprochen – also ein gewisses juristisches Durcheinander.

3. Ich vertrete die Auffassung, dass bei Ausübung einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst (Schule, Verwaltung, Polizei, Justiz) das Kopftuch oder eine andere religiös akzentuierte Kleidung nichts zu suchen hat. Das Tragen solcher Kleidung – vom Kopftuch bis zur Ganzkörperverschleierung – verstößt gegen das sich aus Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung und Art. 140 Grundgesetz ergebende Gebot der staatlichen Neutralität in Religionsangelegenheiten. Eine solche Auffassung hat nichts mit der der Missachtung der Religionsfreiheit, mit Frauenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, ja Rassismus zu tun. Umgekehrt will ich auch den Verteidigern des Kopftuchs keine unedlen Motive unterstellen, z.B. dass sie die Unterdrückung der Frauen verharmlosen oder leugnen. Vielmehr will ich versuchen, die Diskussion auf den m.E. maßgeblichen Kern zu konzentrieren.

Unsere Rechts- und Verfassungsordnung ist spätestens seit 1919 bestimmt vom Gebot der Neutralität des Staates in Religionsangelegenheiten. Ohne – unter anderem – dieses Grundprinzip ist die politische Stabilität der Gesellschaft heute angesichts der weltanschaulichen und kulturellen Vielfalt in Deutschland, vermutlich in allen westlichen Demokratien gefährdet. Neutral ist der Staat, der keine Religion privilegiert, sich mit keiner Religionsgemeinschaft identifiziert und zu allen Religionsgesellschaften den gleichen Abstand hält. Nur unter diesen Voraussetzungen kann und darf der Staat mit Religionsgesellschaften interagieren und kooperieren.

Gegen das so verstandene verfassungsrechtliche Prinzip der Neutralität verstößt der Staat nicht nur in vielen oben (Nr. 1) genannten Bereichen, sondern auch, wenn seine Diener – Lehrkräfte, Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Verwaltungsbeamte – in Ausübung ihres Dienstes den Staatsbürgern in einer Kleidung gegenüber treten, mit der sie sichtbar ihre religiöse Überzeugung zur Schau tragen. Dies gilt insbesondere in den Situationen, in denen der Bürger mit den in ihrer religiösen Überzeugung erkennbaren, hoheitlich tätigen Staatsdienern unausweichlich in Kontakt treten muss: in der Schule, in den Amtsräumen, im Gerichtssaal. Auch wenn die Lehrer, Polizisten, Verwaltungsbeamten und Richter im konkreten Fall ihren Dienst nicht im Sinne ihrer Religion ausüben (und das kann regelmäßig unterstellt werden), kann etwa bei den Schülerinnen und Schülern die Kopftuch-Lehrerin kraft ihrer Autorität als Vorbild wirken. In Amtsstuben und Gerichtssälen kann das auch hier bestehende Autoritätsgefälle zwischen den Amtsträgern und den ihnen in gewisser Weise ausgelieferten Menschen den Eindruck, den Anschein oder die Sorge der Voreingenommenheit in bestimmten Fragen erzeugen. Auch nur vermutete Glaubensaspekte dürfen bei der Dienstausübung keine Rolle spielen.

Dagegen wird eingewendet, das Kopftuch signalisiere nicht notwendigerweise eine religiöse Botschaft der Person, die es trägt; Modegesichtspunkte oder Anpassung an das gesellschaftliche Umfeld können eine Rolle spielen. Das mag der Fall sein, auch wenn das Tragen eines solchen Kleidungsstückes ohne eine darin zum Ausdruck kommende Grundgläubigkeit eher unwahrscheinlich ist. Jedenfalls dürften die Bürgerinnen und Bürger, die Schülerinnen und Schüler die so gekleidete Amtswalterin als Muslimin wahrnehmen. In dieser Lehrerin, Beamtin etc. tritt der Staat seinen Bürgern also nicht äußerlich religionsneutral gegenüber.

Und was ist mit der Religionsfreiheit der betroffenen Frauen im Fall des Kopftuchverbots? Der Zugang zum öffentlichen Dienst wird ihnen nicht verwehrt. Zu den bei der Berufswahl bedeutsamen Zugangsvoraussetzungen gehört nicht, dass sie keiner Religion angehören dürfen, sondern lediglich – ich sage bewusst: lediglich –, dass Sie bei der Dienstausübung keine religiös konnotierte Kleidung tragen dürfen. Das ist eine vergleichsweise geringfügige, zeitlich begrenzte Beschränkung der freien Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG); eine für alle geltende legitime Beschränkung, die gerechtfertigt ist durch das verfassungsrechtliche Gebot der Neutralität des Staates und seiner Amtsträger. Die Beschränkung diskriminiert nicht und sie schließt Musliminnen auch nicht von bestimmten Berufen aus.

 

Johann-Albrecht Haupt ist Verwaltungsbeamter im Ruhestand und war ehemals im Niedersächsischen Kultusministerium tätig. Er engagiert sich seit vielen Jahren für die Trennung von Staat und Kirchen sowie die Abschaffung der Staatskirchenleistungen und anderer kirchlicher Privilegien in der Humanistischen Union, deren Beirat er angehört.

 

Für eine liberale und migra­ti­ons­freund­liche Auslegung der Religi­ons­frei­heit: Muslimische Frauen müssen auch als Richte­rinnen und Polizis­tinnen ein Kopftuch tragen dürfen!

Muslimische Frauen in Deutschland dürfen mittlerweile in den meisten Bereichen des Staatsdienstes ein Kopftuch tragen – und das ist gut so. Dafür kämpfen muslimische Frauen in Deutschland beginnend mit Fereshta Ludin seit nunmehr 25 Jahren. Richterinnen, Staatsanwältinnen und Polizistinnen dürfen aber weiterhin kein Kopftuch tragen. Das sollte sich ändern! Im Folgenden werde ich zunächst den aktuellen Sachstand der Rechtsprechung zum Kopftuchtragen im öffentlichen Dienst wiedergeben und sodann meine Position dazu begründen.

  1. Recht­spre­chung zum Kopftuch­tragen

1998 bewarb sich Fereshta Ludin als erste Muslimin mit Kopftuch für den Lehramtsdienst in Baden-Württemberg und wurde – insbesondere unter Berufung auf das beamtenrechtliche Unparteilichkeits- und Mäßigungsgebot (vgl. Art. 33 Abs. 4 und 5 GG; §§ 33 Abs. 1, 34 Abs. 1 Beamtenstatusgesetz) – abgelehnt (vgl. VGH Mannheim, Urteil v. 26.6.2001, 4 S 1439/00 und BVerwG, Urteil v. 4.7.2002, 2 C 21.01). Nachdem der Zweite Senat des Bundesverfassungsgericht 2003 entschieden hatte, dass für ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage erforderlich sei (vgl. BVerfG, Urteil v. 24.9.2003, 2 BvR 1436/02), änderten acht Bundesländer ihre Schul- und zum Teil Beamtengesetze.iv Sie untersagten nunmehr pauschal das Tragen religiös oder weltanschaulich konnotierter Symbole und Kleidungsstücke im Lehramtsdienst – und zum Teil auch in anderen Bereichen.v Fünf dieser acht Bundesländer regelten in den Gesetzen ausdrücklich Ausnahmen zugunsten christlicher und jüdischer Symbole und Kleidungsstücke. In den anderen acht Bundesländern wurde über die Zulässigkeit eines muslimisch motivierten Kopftuches im Lehramtsdienst im Einzelfall entschieden. 2015 aber entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuches im öffentlichen Dienst nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität verboten werden könne (vgl. BVerfG, Beschluss v. 27.1.2015, 1 BvR 471/10, 1181/10). Daraufhin ließen fast alle Bundesländer das Kopftuchtragen im Schuldienst grundsätzlich zu. Berlin hob jedoch erst 2023 das pauschale Kopftuchverbot für den Lehramtsdienst auf.vi Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 17.1.2023, 1 BVR 1661/21). Das Bundesarbeitsgerichts sah in der Ablehnung einer Berliner Lehramtsbewerberin wegen ihres Kopftuches einen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (vgl. BAG, Urteil v. 27.8.2020, 8 AZR 62/19).

Richterinnen, Staatsanwältinnen, Justizvollzugsbeamtinnen und Polizistinnen wird dagegen weiterhin das Tragen eines Kopftuches im Dienst verboten. Dieses Verbot wurde zunächst auf die gesetzlichen Regeln zum Tragen einer Robe bzw. Uniform gestützt. Mittlerweile aber sind durch neu geschaffene beamtenrechtliche Vorschriften in Bundes- und Landesgesetzen ausdrückliche Ermächtigungsgrundlagen für ein solches Verbot geschaffen worden (vgl. § 61 Abs. 2 Bundesbeamtengesetz, § 34 Abs. 2 Beamtenstatusgesetz; unter anderem § 31a Niedersächsisches Justizgesetz). Das Bundesverfassungsgericht entschied 2020, dass Rechtsreferendarinnen das Tragen des Kopftuches bei bestimmten hoheitlichen Handlungen wie dem Sitzen auf der Richter*innen-Bank verboten werden könne (vgl. BVerfG, Beschluss v. 14.1.2020, 2 BvR 1333/17). In diesem Beschluss formulierte das Bundesverfassungsgericht eine strenge religiös-weltanschauliche Neutralitätsverpflichtung der Justiz.

Private Arbeitgeber*innen unterliegen keiner Neutralitätsverpflichtung. Ihnen steht zwar grundsätzlich frei, die Einhaltung einer bestimmten Kleiderordnung von ihren Arbeitnehmer*innen zu erwarten. Allerdings müssen sie dabei die Religionsfreiheit und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz beachten. In Streitfällen haben die Gerichte deshalb bislang in letzter Instanz immer zugunsten der Kopftuchträgerin entschieden.vii

  1. Verfas­sungs­recht­liche Argumente für das Kopftuch­tragen im öffent­li­chen Dienst

Für das Recht von beim Staat Beschäftigten, sich auch im Dienst maßvoll religiös zu kleiden, spricht zuvörderst die verfassungsrechtlich geschützte Religionsfreiheit. Diese gewährt jeder das Recht, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und ihrer inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln (BVerfG, Urteil v. 24.9.2003, 2 BvR 1436/02; bereits BVerfG, Beschluss v. 19.10.1971, 1 BvR 387/65).

Zwar kann diese individuelle Religionsfreiheit von der staatlichen Neutralitätspflicht beschränkt werden; das mit dem Kopftuch zum Ausdruck gebrachte Bekenntnis zur muslimischen Religion kollidiert aber nach der hier vertretenen Ansicht nicht mit der Neutralitätspflicht. Diese Ansicht vertritt in Bezug auf Lehrerinnen auch das Bundesverfassungsgericht.

Die staatliche Verpflichtung auf Neutralität gegenüber Religion und Weltanschauung ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich verankert. Das BVerfG liest sie aus einer Zusammenschau von Grundgesetzartikeln, und zwar Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG. In diesen Artikel – so das BVerfG – würde für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürger die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität begründet. Der Inhalt der staatlichen Neutralitätspflicht wird vom BVerfG zuletzt in der Entscheidung zum Kopftuch einer Referendarin (BVerfG, Beschluss v. 14.1.2020, 2 BvR 1333/17) so benannt: Dem Staat sei es verwehrt, staatskirchliche Rechtsformen einzuführen, bestimmte Bekenntnisse zu privilegieren ebenso wie Andersgläubige auszugrenzen. Er habe auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten und dürfe sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren. Er sei offen gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründe dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt sei.

Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität sei nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebiete auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern. Der Staat dürfe lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden. Auch verwehre es der Grundsatz weltanschaulich-religiöser Neutralität dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten.

Die Verpflichtung des Staates auf Neutralität könne keine andere sein als die Verpflichtung seiner Amtsträger auf Neutralität. Allerdings müsse sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. In Bezug auf Lehrerinnen und pädagogische Mitarbeiterinnen an Schulen entschied das BVerfG deshalb zu Recht, dass der Staat dadurch, dass er deren Kopftuch hinnehme, sich nicht die damit verbundene religiöse Aussage zu Eigen mache.

  1. Recht auf Kopftuch auch für Richte­rinnen und Polizis­tinnen

Dagegen nahm das BVerfG in Bezug auf eine Rechtsreferendarin, die während der Ausbildung mit einem Kopftuch auf der Richter*innenbank sitzen wollte, eine mögliche Kollision mit der staatlichen Neutralitätspflicht sowie der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege an: Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates könne durch das Kopftuch betroffen sein, weil die Situation vor Gericht – anders als in den auf Offenheit und Pluralität angelegten staatlichen Schulen – formalisiert sei. Den Amtsträger*innen werde eine klar definierte, Distanz und Gleichmaß betonende Rolle zugewiesen, die auch deren äußeres Auftreten betreffe (BVerfG, Beschluss vom 14.1.2020, 2 BvR 1333/17).

Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege setze voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiere. Die öffentliche Kundgabe von Religiosität sei geeignet, das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen, das gerade durch eine besondere persönliche Zurücknahme der zur Entscheidung berufenen Amtsträger geprägt sei (BVerfG, Beschluss v. 14.1.2020, 2 BvR 1333/17).

Die Annahme einer besonders strikten Neutralitätspflicht für Richter*innen ist jedoch zu widersprechen: Auch die Begründung eines für die Gerichtsbarkeit geltenden Neutralitätsgebots muss sich an Art. 4 GG als zentraler Norm des Religionsverfassungsrechts messen lassen. Grundrechte verpflichten den Staat darauf, das Mögliche zu tun, um Grundrechtsträger*innen einen weitgehend ungestörten Gebrauch ihrer Freiheiten zu gewährleisten. Das gilt insbesondere für die Religionsfreiheit, die laut ihrem Wortlaut vorbehaltlos gewährleistet wird. Die Schranke der Religionsfreiheit ergibt sich im Einzelfall durch Abwägung mit entgegenstehenden Grundrechten anderer Personen und wichtigen Allgemeingütern. Das Kopftuch einer Richterin berührt zwar das richterliche Unparteilichkeitsgebot und die negative Religionsfreiheit der Verfahrensbeteiligten; in der Abwägung obsiegt aber die Religionsfreiheit der Richterin. Das Unparteilichkeitsgebot verlangt von einer Richter*in nämlich nicht, bereits den Anschein von (unterstellter) Parteilichkeit zu vermeiden. Andernfalls ließe sich die Freiheitsgewährleistung des Art. 4 GG durch (pauschale) Unterstellungen Dritter allzu leicht einschränken. Das Grundgesetz sieht in Richter*innen keinen Rechtsprechungsautomaten. Richter*innen dürfen vielmehr in der Robe als Individuum sichtbar sein. Sie dürfen erkennbar teure Uhren tragen, alt oder jung sein, gepflegte oder ungepflegte Frisuren haben, ohne dass ihnen allein deshalb Parteilichkeit zugunsten bestimmter sozialer Gruppen unterstellt wird. Nichts Anderes kann für das Tragen eines Kopftuches gelten. Richterinnen sollte aber nur erlaubt werden, Kopftücher in der Farbe ihrer Robe zu tragen, um nicht unnötig die Aufmerksamkeit der Verfahrensbeteiligten vom Inhalt der Verhandlung abzulenken.

  1. Gleich­be­hand­lung aller Religiösen und Nicht­re­li­gi­ösen durch den Staat

Der bisherige Umgang mit dem Kopftuch zeigt, dass der Staat nicht, entsprechend seiner grundgesetzlichen Verpflichtung, alle Religionen gleichbehandelt. Neutralitätserwartungen an das Erscheinungsbild wurden vielmehr nur hinsichtlich nicht-christlicher Lehrerinnen formuliert: Ein als Kettenanhänger getragenes Kreuz einer Staatsbediensteten ist bislang ebenso wenig problematisiert worden wie die Nonnen, die bis in die 2000er Jahre hinein im Habit vereinzelt an staatlichen Schulen unterrichteten. Dagegen wurde bereits in den 1980er Jahren die religiös konnotierte Kleidung von Sannyasins im Schuldienst verboten (BVerwG, Beschluss v. 8.3.1988, 2 B 92.87). Möglicherweise geht es dem Staat also gerade darum, die Sichtbarkeit von nicht-christlichen Religionen, vor allem dem Islam, zu reduzieren. Ein solches Verhalten ist aber aus bürgerrechtlicher Sicht unzulässig.

Das Tragen eines Kopftuches für alle Staatsbediensteten zuzulassen, schränkt auch die negative Religionsfreiheit der Nicht- und Andersgläubigen nicht über Gebühr ein. Bürger*innen sind als Schüler*innen, Verfahrensbeteiligte etc. vor religionsbezogener Parteilichkeit und missionarischem Verhalten von Staatsbediensteten selbstverständlich zu schützen. Darüber hinaus gewährt das Grundgesetz aber kein Recht darauf, nicht mit der Religion und sonstiger Individualität anderer konfrontiert zu werden. Die Vielfalt der Gesellschaft verlangt von allen – Mehrheiten wie Minderheiten – Akzeptanz und Toleranz, damit ein gedeihliches Miteinander gelingt!

 

Dr. Kirsten Wiese war von 2017 bis 2021 im Bundesvorstand der Humanistischen Union für das Thema Religion, Weltanschauung und Staat zuständig, deren Beirat sie jetzt angehört. Sie hat zur Frage, ob Lehrerinnen im Dienst ein Kopftuch tragen dürfen, in der Rechtswissenschaft promoviert.

 

Anmerkungen:

i Leitsatz 1 in BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087/91, abrufbar unter http://www.bverfg.de/e/rs19950516_1bvr108791.html.

ii Bemerkenswert ist der Umstand, dass der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts 12 Jahre früher das Kopftuchverbot für Lehrerinnen ausdrücklich gebilligt hatte, sofern dafür eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage bestehe (Urt. v. 24.9.2003 BVerfGE 108,282). Die gebotene Kritik an dieser Kehrtwende des Gerichts ist bei Hans Michael Heinig in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 2015, S. 217ff. nachzulesen.

iv Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland.

v Berlin – Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin vom 27. Januar 2005 und Hessen – § 45 Hessisches Beamtengesetz in der alten Fassung vom 27.5.2013.

vii Zwar entschied der EuGH (vgl. Urteil vom 15.7.2021, C-804/18 und C-341/19), dass einer Erzieherin und einer Verkäuferin grundsätzlich verboten werden könne, ein Kopftuch zu tragen, wenn der Arbeitgeber dieses Verbot auf eine für alle Beschäftigten geltende betriebliche Vorgabe, eine neutrale Kleiderordnung zu beachten, stütze. Allerdings schützt die Religionsfreiheit aus Art. 4 GG das Recht, ein religiös motiviertes Kopftuch am Arbeitsplatz zu tragen und ist bei der Anwendung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes als günstigere Vorschrift zu berücksichtigen.

nach oben