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Rezensionen - Nachwir­kungen des DDR-Alltags

Arp, Agnès; Goudin-Steinmann, Élisa (2022): Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche Lebenserzählungen. Deutsche Erstausgabe. Gießen: Psychosozial-Verlag (Forum Psychosozial), 32.90 €

Mit ihrem jüngsten Buch legen Agnés Arp und Élisa Goudin-Steinmann eine populärwissenschaftliche Arbeit vor, die mittels biographischer Interviews die Frage beantworten möchte, wie sich die DDR mehr als dreißig Jahre nach ihrem Ende bis heute manifestiert. Dazu werden lebensgeschichtliche, narrative Interviews durchgeführt. Mit diesem Verfahren möchten die Autorinnen drei Aspekte vertiefen:

In einem ersten Schritt geht es ihnen darum zu erfahren, wie die DDR sich in den Erinnerungen der Menschen fortsetzt. Dabei unterscheiden sie nach Generationen und Geschichten, die in den Familien der Interviewten erzählt werden.

In einem zweiten Schritt spüren Arp und Goudin-Steinmann der Frage nach, wie die DDR heute im gesellschaftlichen Umgang der Menschen untereinander in Erscheinung tritt. Dabei kaprizieren sie sich auf den Bereich der Kunst, gehen aber gleichfalls den Ergebnissen der Bundestags- und Landtagswahlen nach, die sich in Ost und West erheblich unterscheiden.

In einem letzten Punkt richten die Autorinnen den Fokus auf die „DDR nach der DDR“ in Bezug auf die wissenschaftliche Forschung. Sie stellen die Frage, welche Fortschritte die Geschichtswissenschaft zum Thema machte und was von dieser Seite Neues erfahrbar ist. Dabei referieren sie nicht nur den Forschungsstand, sondern beschreiben seine Entwicklung von einer vulgären Totalitarismusdoktrin zu differenzierteren Betrachtungsweisen, etwa der Hinwendung auch zur Alltagsgeschichte. Mit diesem Vorgehen stellen die Autorinnen die Verbindung ihrer eigenen Arbeit zum aktuellen Forschungsstand her.

Diese Fragestellungen werden mit dreißig lebensgeschichtlichen Interviews verzahnt, die 2018/2019 in Ostdeutschland durchgeführt wurden. Die Auswahl der Interviewten erfolgte aber nach keinen erkennbaren Kriterien. Die Autorinnen sprechen von „‘normalen‘ Bürgerinnen und Bürgern“ (S. 18), deren Lebenswegen sie nachgehen, um mit ihnen eine „DDR nach der DDR“ zu entdecken.

Mittels der sehr persönlichen Auskünfte, die die Interviewten geben, erfolgen durchaus sinnliche Einblicke in die je eigenen Wahrnehmungen der Erfahrungen, die in der DDR gesammelt wurden, in der unmittelbaren Phase der Transformation in den 1990er Jahren und danach. Dabei wird den Besonderheiten von Menschen nachgespürt, die den Transformationsprozess der DDR-Gesellschaft und die Übernahme der DDR als Kolonialisierung wahrnahmen. Die Geschichte der Treuhand als Motor dieses Kolonialisierungsprozesses bekommt den ihr zustehenden Raum. Erkennbar werden auch die Instrumentalisierung eines Demokratisierungsprozesses und der Ausschluss derer aus bedeutsamen gesellschaftlichen Positionen, die an diesem Prozess aktiv Anteil hatten.

Die Autorinnen stellen auf diese Weise fest, die DDR existiere fort. Es gäbe ein „historisches Erinnerungsobjekt im kollektiven Gedächtnis“. (S. 25) Bedeutsam sei, dass sich im Denken vieler Menschen ihre tatsächlich stattgefundenen biographischen Entwertungen niederschlagen. Diese Entwertungen führten nun zu einer individuellen, lautlosen Wiederaneignung der eigenen Geschichten und damit zu einer Aufwertung der eigenen Vergangenheit und eigener Erfahrungen. In den Erzählungen der Interviewten wird ein vielfältiger Themenkanon berührt: Arbeitslosigkeit, Erziehung und Pflege, berufliche Entwicklungsprozesse; aber ebenso Antifaschismus, Freiheitsempfinden und ein entsprechendes emotionales Empfinden in Bezug auf Heimat, Haltung zur extremen Rechten und auch zur Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Ein breitgefächerter Themenkanon, dem mitunter die Systematik abhandenkommt.

Mit dem sozialwissenschaftlichen Instrumentarium des narrativen Interviews wird hier nicht nur ein akademisches Publikum angesprochen. Zielgruppe sollen auch und gerade jene sein, die in der Geschichte von Lebenswegen in der DDR die Subjekte gesellschaftlichen Handelns in den Blick genommen wissen wollen. Nicht zuletzt aus diesem Grund geht es in dem ersten Teil der vorliegenden Publikation um Entwertungen der Menschen aus der DDR in der Phase der Transformation in den Jahren nach 1989. Die Autorinnen beschreiben hier zurecht die Trauer um den Verlust der Alternative, die eine antifaschistische und sozialistische DDR hätte bieten können. Die Autorinnen verweisen darauf, dass sich das Leben der Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach wie vor von dem im Westteil des Landes unterscheidet: Kinder würden häufiger in Gemeinschaftseinrichtungen betreut, Frauen seien gleichberechtigter in die Arbeitswelt integriert als in Westdeutschland. Die Biografien ehemaliger Bürger*innen der DDR unterschieden sich maßgeblich von denen in der alten Bundesrepublik. Gleiches gilt für ihre Werthaltungen.

Diese Unterschiede spiegeln sich in jenen zwischen den gesellschaftlichen Systemen in Ost und West wider, aber nicht zuletzt auch in den Erfahrungen, die Menschen aus der ehemaligen DDR nach 1989 machen mussten. Es seien die Erfahrungen der Arbeitslosigkeit, der Entwertungen, nachdem die beruflichen Meriten nicht mehr als solche anerkannt wurden, die neuen Eigentumsverhältnisse die soziale Ungerechtigkeiten verschärften, die vielen biographischen Brüche und damit einhergehend der Verlust gesellschaftlicher Orientierung.

Im Kontext der Wiederaneignungen der eigenen Geschichte wird dem Antifaschismus in der DDR Raum gegeben. In diesem Teil des Buches versuchen die Autorinnen, über die Aussagen der Interviewten hinausgehend, historische Einschätzungen zur Funktion des Antifaschismus in der DDR zu leisten. Dieser Versuch misslingt angesichts eingeschränkter Kenntnisse zur Geschichte des deutschen Faschismus. Dies schlägt sich in konfuser Terminologie nieder. So zieht sich der unkritische Gebrauch des Begriffes „Drittes Reich“ durch das Buch, der mal mit, mal ohne Anführungszeichen benutzt wird (S. 98), in seiner historischen Bedeutung aber durchgängig verkannt wird.

In Deutschland sei die Berliner Mauer durch eine gesellschaftliche Kluft zwischen Ost und West ersetzt worden. Diese Kluft sei ein zentrales Element einer Kolonialisierung. Sie zeige sich ebenfalls in der Unterschiedlichkeit des Wahlverhaltens. Das überdurchschnittlich starke Abschneiden rechtsextremistischer Parteien in den neuen Bundesländern führen die Autorinnen auf eine oberflächliche und zu schnell durchgeführte Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone zurück – eine Aussage, der sie wenige Seiten später (S. 171) selbst widersprechen. Weil es auch in der SED ehemalige NSDAP-Mitglieder gab, habe sich das rechtsextreme Gedankengut perpetuiert. Vollständig verkannt wird hier nicht nur die Geschichte der gesellschaftlichen Umgestaltung im Osten Deutschlands nach 1945, sondern ebenso das Nachwirken des ideologischen Komplexes – des Durchdringens der deutschen Bevölkerung hüben und drüben mit faschistischer Ideologie. Diese Redundanz in den Mittelpunkt zu stellen, wird den Autorinnen aber nicht gerecht. Sie beziehen neben anderen Aspekten das Wahlverhalten in den neuen Bundesländern auch auf die sozialen Verwerfungen und auf die Tatsache, dass ein Land mit all seinen Bezugspunkten verschwunden ist (S. 134).

Schließlich erfolgte der Bruch zwischen Ost und West nicht allein in den 40 Jahren der deutschen Teilung, sondern auch in der Art und Weise der Übernahme der DDR durch die alte Bundesrepublik (S. 139).

Breiten Raum geben die Autorinnen dem Kapitel über das künstlerische Erbe der DDR. Sie stellen den Positionen, was in der DDR auf künstlerischem Gebiet produziert worden sei, könne nicht als Kunst bezeichnet werden, eine Verteidigung der Eigenständigkeit der Kunst in der DDR gegenüber. So gerät dieser Abschnitt des Buches zu einer differenzierten und begründeten Verteidigung der Kunst in der DDR.

In den Teilen des vorliegenden Bandes über die Erziehung und die Rolle des Staates im Kulturbereich heben die Autorinnen durch ihre Interviewpartner* innen unter anderem hervor, in welchem Umfang sich geschlechtsrollenspezifische Veränderungen auf die deutlich höheren schulischen Leistungen von Mädchen in Naturwissenschaften und Mathematik ausgewirkt haben. Verwiesen wird auf die DDR als „Leseland“ (S. 178). Das wird von den Interviewpartner*innen als positives Merkmal des kulturellen Lebens in der DDR und als Errungenschaft beschrieben. Unreflektiert bleibt freilich, warum dieses herausstechende Merkmal kultureller Gewohnheiten endete.

Im Abschnitt über Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit wird dem Gedanken nachgegangen, dass Menschen aus der ehemaligen DDR heute in Führungspositionen deutlich unterrepräsentiert sind. Dem sei nicht so bei Frauen aus der ehemaligen DDR, zumindest nicht im gleichen Umfang wie dies bei Männern der Fall ist. Die Autorinnen heben hervor, je höher eine Leitungsposition in den neuen Bundesländern sei, desto wahrscheinlicher sei es, dass sie von einer Frau besetzt werde. Im Raum bleibt die Frage, ob weibliche Biografien in der DDR bis heute dahingehend nachwirken, mehr Souveränität und Durchsetzungskraft zu besitzen, als dies bei Frauen in Westdeutschland der Fall ist. Auch sei „die erotische Temperatur auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs höher“ gewesen. (S. 195) Die Interviewten Frauen weisen hier nach, dass die Ursache dafür in einer sozialen Situation zu suchen ist, die Unabhängigkeit möglich machte. Die Fragestellung, mit der die Autorinnen diesen Teil des Buches verlassen, ist hingegen erkennbar redundant, wenn sie als These formulieren, dass ein „Volk ohne politische Freiheit […] vielleicht eine Ausflucht in der Sexualität“ suchte.

Ähnlich irritiert der Abschnitt des Buches über die Heimat (S. 199ff.). Es könnte der Diffusion des Begriffs Heimat geschuldet sein, dass dieses Kapitel unsystematisch und nebulös bleibt. In der Summe aber leidet das Buch an seiner sozialwissenschaftlichen Unschärfe. Wenn von dem Neuen Ökonomischen System die Rede ist, wird es in Unkenntnis seines historischen Kontextes referiert und ebenso in Unkenntnis seiner vorweisbaren Erfolge, die jedoch durch das putschähnliche Vorgehen Erich Honeckers bei der Abwahl Walter Ulbrichts zunichtegemacht wurden. Gleiches gilt für die Debatte um den Kolonialisierungsbegriff angesichts der Einverleibung der DDR. Hier ist die Forderung der beiden Autorinnen berechtigt, eine andere Beziehung zur Erinnerung an die DDR anzustreben, „die nicht mehr nur als kurzer, schnell vergessener Einschub in der deutschen Geschichte wahrgenommen“ werden dürfe. Arp und Steinmann konstatieren richtig, dass „die meisten Frustrationen und die Wut […] nicht nur mit der Zeit in der DDR verbunden (sind), sondern auch mit dem, was nach 1990 stattgefunden hat.“ (S. 237)

Die Lektüre der Interviews bestätigt diese Aussage, weil sie auch deutlich macht, dass für viele Menschen in der DDR in ihr – trotz des Demokratiedefizits – ein lebenswerter Alltag stattfand, ein Alltag, der mit der Übernahme der DDR entwertet wurde. Diese Entwertung durch Kolonialisierung ist demütigend. Sie hat fatale Folgen für die Integration der Gedemütigten und bewirkt neben anderen Aspekten eine Spaltung der Gesellschaft.

Das vorliegende Buch besitzt Schwächen und ist trotzdem lesenswert, fordert es doch nichts Geringeres als eine differenzierte Sicht auf die Geschichte der DDR und die Geschichte des Alltags der Menschen in ihr. Dies zu leisten, ist ein Verdienst der Autorinnen.

Wolfram Grams

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