Beitragsbild Kein Platz für Diplomatie? Zu einem grundlegenden Missverständnis angesichts von Krieg und Bürgerkrieg
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Kein Platz für Diplomatie? Zu einem grund­le­genden Missver­ständnis angesichts von Krieg und Bürgerkrieg

Wer annimmt, dass Diplomatie keine Bedeutung mehr hat, wenn Krieg herrscht, sitzt einem Missverständnis auf. Wegen dieses Missverständnisses hat Diplomatie in der öffentlichen Diskussion einen schweren Stand. Aber: Frühzeitig konnten Sanktionen gegen Russland auf diplomatischer Ebene verhandelt werden. Ebenso wurde die finanzielle Unterstützung der Ukraine aus EU-Mitteln hinter den Kulissen ausgehandelt. Diplomatisches Agieren hat auch bei der Reaktion der Vereinten Nationen auf den Angriffskrieg Russlands eine bedeutende Rolle gespielt. Ein Veto Russlands im Sicherheitsrat konnte durch eine von 141 Staaten gestützte Resolution der Generalversammlung mit diplomatischem Geschick gekontert werden. Ein breit angelegter Verhandlungsprozess hat dafür gesorgt, dass ein Großteil der Exporte der Ukraine über das schwarze Meer ermöglicht wurde. Der gesamte Themenbereich Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung atomarer Waffen wird nicht nur in den Vereinten Nationen von Diplomat:innen wahrgenommen, auch in den Mitgliedsstaaten liegt die Federführung in den Außenministerien. Es gibt Grenzen für die Diplomatie; damit sie erfolgreich sein kann, müssen die verhandelnden Staaten aber nicht die gleichen Wertvorstellungen teilen.

 

Spätestens seit Russland am 24. Februar 2022 seinen breit angelegten Angriffskrieg gegen das gesamte ukrainische Territorium begonnen hat, hat „Diplomatie“ in der öffentlichen Diskussion einen schweren Stand. Immer wieder wird suggeriert, dass Diplomatie in dieser Situation keine wichtige Rolle spielen kann, weil die direkten Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien im Frühjahr 2022 ohne Ergebnis blieben. Das ist ein naheliegender, aber falscher Schluss. Insbesondere gerät aus dem Fokus, wie vielfältige Aufgaben von Diplomatinnen und Diplomaten zahlreicher Länder – nicht nur der russischen und ukrainischen, sondern z.B. auch der NATO- und EU-Mitgliedsstaaten und oft hinter den Kulissen – in den letzten Monaten wahrgenommen wurden und weiter werden.

Diplo­ma­ti­sche Expertise ist auch im Krieg unver­zichtbar

Schon angesichts des russischen Truppenaufmarschs an der russisch-ukrainischen Grenze ab dem Sommer 2021 und dem gemeinsamen Manöver russischer und belarussischer Truppen in Belarus Anfang 2022 war diplomatisches Handeln gefragt. Eine zentrale Aufgabe von Botschaften ist es, aus den verschiedensten – teils öffentlichen, teils vertraulichen – Quellen Informationen über das jeweilige Gastland zu sammeln. Wir können getrost davon ausgehen, dass in allen NATO- und EU-Staaten die Berichte aus den Botschaften in Moskau, Kiew und Minsk seit Sommer 2021 nicht nur in den jeweiligen Außenministerien, sondern auch von den außenpolitischen Beraterinnen und Beratern der Regierungschefinnen oder ‑chefs mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen wurden. Und dann als Grundlage dafür dienten, dass in der EU und den USA schon vor dem 24.2.2022 überlegt wurde, welche Sanktionen im Falle eines Falles verhängt werden könnten. Umgekehrt sind die ukrainischen Diplomat:innen in den EU- und NATO-Staaten aktiv geworden, um schon angesichts des Truppenaufmarschs eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland zu fordern. Tatsächlich wurden die ersten zusätzlichen Sanktionen bereits am 23. Februar verhängt aufgrund der Anerkennung der Separatistengebiete in Donetzk und Luhansk als unabhängige Staaten mit Anspruch auf das jeweils gesamte Territorium der ukrainischen Oblasti Donetzk und Luhansk.

Ab dem 24. Februar folgten dann weitere Sanktionspakete, bis Jahresende 2022 insgesamt neun.i Auch die finanzielle Unterstützung der Ukraine aus EU-Mitteln wurde hinter den Kulissen ausgehandelt und dann im Europäischen Rat beschlossen. Ebenso die (erstmalige) Aktivierung der EU-Richtlinie über vorübergehenden Schutz (Massenzustromrichtlinie) am 4. März 2022. Sie ist die Basis für Aufenthaltstitel, die bis zum 4. März 2024 gelten.ii Auch die USA und zahlreiche andere Staaten haben ab dem 23. oder 24. Februar 2022 Sanktionen gegen Russland verhängt. Dabei gab es offensichtlich Absprachen, die wiederum von Diplomatinnen und Diplomaten hinter den Kulissen vorbereitet worden sind.

Wie wichtig aus seiner Sicht der Einsatz der ukrainischen Diplomat:innen war und ist, beschreibt der ukrainische Präsident Selenskyj in seiner Rede vor der Verchovna Rada am 28.12.2022.iii

Botschaftsberichte werden umso wichtiger, je weniger unabhängige Medien es in dem entsprechenden Land gibt und je stärker die Arbeitsmöglichkeiten für ausländische Journalist:innen durch gesetzliche Vorschriften oder Kriegshandlungen eingeschränkt werden. Das betrifft im Ukrainekrieg Russland, die Ukraine und Belarus. Onlinemedien aller Art können natürlich auch von außerhalb des jeweiligen Landes ausgewertet werden, einschließlich eventueller Exilmedien. Für die Einordnung ist die direkte Erfahrung vor Ort aber in vielen Fällen hilfreich.

Auch ehemalige Diplomat:innen sind oft ausgewiesene Expert:innen für die Situation in den Ländern, in denen sie eingesetzt waren. Ein aktuelles Beispiel ist Rüdiger von Fritsch, der von 2014 bis 2019 deutscher Botschafter in Moskau war. Er hat nach seiner Pensionierung in zwei Büchern seine profunden Kenntnisse der politischen und gesellschaftlichen Situation in Russland und seine Einschätzung des russisch-ukrainischen Konfliktes bzw. des russischen Angriffskriegs dargelegt (von Fritsch, 2020 und von Fritsch, 2022).

Diplomatie auf Ebene der Vereinten Nationen

Eine wichtige Rolle spielte und spielt Diplomatie auch bei der Reaktion der Vereinten Nationen auf den Angriffskrieg Russlands. Russland hat im VN-Sicherheitsrat sein Vetorecht gegen eine entsprechende Resolution genutzt. China und Indien enthielten sich bei der Abstimmung.iv Daraufhin wurde durch eine Resolution des Sicherheitsratesv für den 28. Februar eine mehrteilige Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen einberufen – ein seltenes Ereignis, das auf einer Resolution von 1950 mit dem Titel „Uniting for Peace“ basiertvi und bei dem kein Veto möglich ist. Danach kann sich die Generalversammlung an Stelle des Sicherheitsrates mit Themen von Frieden und Sicherheit befassen, wenn der Sicherheitsrat auf Grund eines Dissenses zwischen den fünf ständigen Mitgliedern keinen Beschluss fassen kann. Am 2. März 2022 wurde dann mit der Zustimmung von 141 Mitgliedsstaaten eine Resolution der Generalversammlung verabschiedet, mit der der Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt und der sofortige Rückzug der russischen Truppen gefordert wurdevii. Üblicher Weise werden die Mitgliedsstaaten sowohl im Sicherheitsrat als auch in der Generalversammlung von ihren Botschafter:innen bei den Vereinten Nationen vertreten. Auch hier handeln Diplomat:innen in Rücksprache mit ihren jeweiligen Regierungen und führen zahlreiche Gespräche hinter den Kulissen.

Da Sanktionen nach Artikel 41 der Charta der Vereinten Nationen nur vom Sicherheitsrat, aber nicht von der Generalversammlung verhängt werden können, haben viele Staaten zwar die Resolution A/RES/ES-11/1 unterstützt, sich aber weder den Sanktionen der EU noch denen der USA gegen Russland angeschlossen. In Fortsetzungen der Sondersitzung wurden bisher fünf weitere Resolutionen verabschiedet (A/RES/ES-11/2 bis 6), von denen sich eine mit der humanitären Situation in der Ukraine befassteviii und eine nach der Erklärung Russlands, die vier ukrainischen Oblasti Cherson, Donetzk, Luhansk und Saporischschja zu annektieren, die territoriale Integrität der Ukraine bekräftigte und feststellte, dass die Annexion den Prinzipien der Vereinten Nationen widerspricht.ix

Die Vereinten Nationen als Unter­stützer von Verhand­lungen zwischen den Kriegs­par­teien

In den Vereinten Nationen wurde und wird auch über die Folgen des Ukrainekrieges für andere Staaten diskutiert. Die meisten Handelsschiffe, die sich zu Kriegsbeginn in ukrainischen Häfen befanden, konnten nicht mehr auslaufen, da es schnell auch vor der Küste Kampfhandlungen gab und sowohl Russland als auch die Ukraine Seeminen verlegten. Dadurch waren einerseits Seeleute aus aller Welt betroffen, andererseits konnten Massengüter aus der Ukraine und Russland nicht mehr über das Schwarze Meer exportiert werden. Da die Ukraine ein Großexporteur von Landwirtschaftsprodukten (insbesondere von Getreide und Sonnenblumenöl, aber auch von Futtermitteln) ist und auch Russland Landwirtschaftsprodukte sowie Düngemittel über das Schwarze Meer exportiert, stiegen die entsprechenden Weltmarktpreise stark an, was vor allem für Importländer im Globalen Süden zum Problem wurde, aber auch z.B. für die Türkei. Daher schlug der Generalsekretär der Vereinten Nationen im April 2022 in getrennten Gesprächen dem russischen Präsidenten Putin und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj einen Verhandlungsprozess vor, mit dem zumindest ein Teil der jeweiligen Exporte über das Schwarze Meer wieder ermöglicht werden sollte. Die Verhandlungen, die von hochrangigen Diplomat:innen der Vereinten Nationen geleitet wurden, waren erfolgreich – am 22. Juli 2022 wurde zunächst für 140 Tage ein entsprechendes Abkommen geschlossen,x das im November 2022 verlängert wurde. Gastgeber der Verhandlungen und Mitunterzeichner des Abkommens war die Türkei, die sich den Sanktionen der EU und der USA nicht angeschlossen hatte. Bei der Unterzeichnung des Abkommens saßen VN-Generalsekretär Guterres und der türkische Präsident Erdoğan zwischen den Außenministern Russlands und der Ukraine.

Auch als Kampfhandlungen das Atomkraftwerk Saporischschja bedrohten, wurden die Vereinten Nationen aktiv. In zähen Verhandlungen mit Russland und der Ukraine wurde erreicht, dass die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) Ende August eine Delegation in das AKW entsandte.xi Seitdem befinden sich durchgehend IAEO-Inspektoren dort. In kurzen Abständen werden auf der Webseite der IAEO Statusberichte veröffentlicht, bis zum 2. März 2023 waren es 149.

Abrüstung, Rüstungs­kon­trolle, Nicht­ver­brei­tung – auch in Kriegs­zeiten relevant

Russland hat im März, Mai und Oktober 2022 insgesamt viermal im VN-Sicherheitsrat den Vorwurf erhoben, die Ukraine hätte mit Unterstützung der USA ein geheimes Biowaffenprogramm betrieben. Der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen wurde im März und Mai jeweils von der Abrüstungsbeauftragten der Vereinten Nationen bzw. vom Direktor der Abrüstungsorganisation der Vereinten Nationen (UNODA) dazu aufgefordert, die bei vermuteten Verletzungen der Biowaffenkonvention im Vertragstext vorgesehenen Mechanismen zu aktivieren. Russland hat dann im Oktober eine Resolution mit einem entsprechenden Vorschlag in den Sicherheitsrat eingebracht, die aber abgelehnt wurdexii – anscheinend hielten die meisten Mitglieder des Sicherheitsrates die Vorwürfe nicht für stichhaltig.

Der gesamte Themenbereich Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ist nicht nur in den Vereinten Nationen überwiegend Aufgabe von Diplomat:innen – auch in den Mitgliedsstaaten liegt die Federführung in den Außenministerien. Ein Krieg unter Beteiligung eines oder mehrerer ständiger Mitglieder des VN-Sicherheitsrates heißt übrigens nicht automatisch, dass über Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung nicht mehr verhandelt werden kann: Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (auch Atomwaffensperrvertrag genannt) wurde während des Vietnamkriegs, an dem die USA mit Truppen und die Sowjetunion als Unterstützer Nordvietnams beteiligt war, verhandelt, abgeschlossen und von den USA und der Sowjetunion 1968 unterzeichnet und 1970 ratifiziert.xiii

Es ist derzeit völlig unklar, wie lange der Krieg in der Ukraine andauern wird. Das einzige verbliebene bilaterale Rüstungskontrollabkommen im Atomwaffenbereich zwischen den USA und Russland, der New START Vertrag, wurde zwar 2021 um fünf Jahre verlängert, eine weitere Verlängerung ist aber nicht möglich. 2020 hat Russland wegen der Covid-19-Pandemie die Vor-Ort-Inspektionen zum New START-Vertrag ausgesetzt, was Verhandlungen über ein mögliches Nachfolgeabkommen nicht einfacher macht. Alle anderen Vereinbarungen (z. B. zum Datenaustausch und zu gegenseitigen Informationen) wurden aber weiter eingehalten, wobei Präsident Putin in seiner Rede vor der Föderalversammlung am 21. Februar 2023 die „Suspendierung“ des Vertrags ankündigte. Ob das einfach bedeutet, dass Russland dauerhaft keine Inspektionen zulässt oder auch weitere Vereinbarungen nicht mehr einhält, ist zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels unklar. Eine „Suspendierung“ sieht der Vertragstext nicht vor (Gottemoeller und Brown 2023).

Die ehemalige US-Diplomatin und Rüstungskontrollexpertin Rose Gottemoeller, die an den Vertragsverhandlungen beteiligt gewesen war, zeigte im November 2022 in einem Fachartikel auf, wie – entsprechende diplomatische Bemühungen vorausgesetzt – die Wiederaufnahme der Inspektionen den Weg zu Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen ebnen könnte, unabhängig vom Ukrainekrieg (Gottemoeller 2022).

Humanitäre Hilfe und humanitäres Kriegs­völ­ker­recht

Durch die intensiven Kriegshandlungen auf ukrainischem Boden und die damit verbundenen massiven Zerstörungen ziviler Infrastrukturen in der Ukraine benötigt die Zivilbevölkerung humanitäre Hilfe. Diese wird meist von Organisationen wie dem Roten Kreuz oder humanitären Nichtregierungsorganisationen organisiert, aber staatlich unterstützt – sowohl finanziell als auch diplomatisch. Daher ist die Humanitäre Hilfe organisatorisch und etatmäßig im Auswärtigen Amt angesiedelt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) als Dachverband der nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften ist seit 2014 in der Ukraine tätig.xiv Das IKRK und die nationalen Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaften haben sich dazu verpflichtet, sieben Grundprinzipien einzuhalten: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität.xv Das IKRK schützt und unterstützt nicht nur von Kriegshandlungen bedrohte oder betroffene Zivilbevölkerung, es besucht und unterstützt auch Kriegsgefangene in Russland und der Ukraine, übermittelt Nachrichten an deren Familien und ist am Austausch von Kriegsgefangenen beteiligt, der wiederum ohne diplomatische Verhandlungen nicht möglich wäre.

Grenzen der Diplomatie beachten – Möglich­keiten sehen

Allerdings: in dem Augenblick, in dem in einem Staat etwas auf höchster Ebene entschieden und die Entscheidung öffentlich bekanntgegeben wurde, sind die Grenzen dessen erreicht, was Diplomatie bewirken kann – nicht nur in Bezug auf autoritäre Staaten. So konnten alle Abrüstungsfachleute in den diplomatischen Corps diverser europäischer Staaten nicht verhindern, das der damalige US-Präsident Trump das Nuklearabkommen mit dem Iran nicht mehr einhielt und den Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) sowie den Vertrag über den Offenen Himmel kündigte.

Diplomatie hat auch da ihre Grenzen, wo für die Adressaten diplomatischer Bemühungen doppelte Standards offensichtlich werden oder handfeste eigene Interessen der Adressaten ignoriert werden. Daher scheiterte der Versuch, die BRICS-Staaten Brasilien, Indien, China und Südafrika und die Länder des Globalen Südens in das Sanktionsregime der EU und der USA mit einzubeziehen. Forderungen aus dem politischen Raum, diese Staaten diplomatisch unter Druck zu setzen, damit sie sich doch noch den Sanktionen anschließen, sind unrealistisch – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in diesen Staaten. Eine ausführliche Analyse der lateinamerikanischen Perspektive auf die Erwartungen der EU-Staaten findet sich bei Maihold et al (2022).

Realistisch ist es eher, andere Staaten an ihre eigenen Interessen zu erinnern. Viele Staaten auf der Welt möchten keinen Präzedenzfall für das Verschieben von Staatsgrenzen auf dem Wege eines Angriffskriegs akzeptieren. Gleichzeitig gibt es viele Staaten, die sowohl zu Russland als auch zur Ukraine wirtschaftliche Beziehungen hatten und weiter haben wollen, die durch den Krieg gefährdet sind. Und schließlich haben alle Mitgliedsstaaten des Nichtverbreitungsvertrags ein Interesse daran, dass kein offizieller oder inoffizieller Atomwaffenstaat einen Staat, der keine Atomwaffen besitzt, mit dem Einsatz von Atomwaffen bedroht. Auch hier kann – bei entsprechender Bereitschaft der politischen Spitzen – Diplomatie ansetzen und entsprechende Erklärungen für Gipfeltreffen oder Staatsbesuche vorbereiten. So hat z. B. beim Besuch von Bundeskanzler Scholz in China am 4. November 2022 der chinesische Präsident Xi Jinping nach Angaben des chinesischen Außenministeriums erklärt, die internationale Gemeinschaft solle sich dafür einsetzen, dass Atomwaffen nicht eingesetzt werden können und nukleare Kriege nicht gekämpft werden dürfen. Auch Drohungen mit Atomwaffen seien nicht akzeptabel.xvi

Die Grenzen der Diplomatie erfährt aktuell auch Russland. Weder Belarus noch die zentralasiatischen Nachbarstaaten Russlands, die wirtschaftlich und teilweise auch sicherheitspolitisch eng mit Russland verbunden sind, scheinen scharf darauf zu sein, sich auf Seiten Russlands am Ukrainekrieg zu beteiligen. Belarus, das am stärksten von Russland abhängig ist, lässt zwar russisches Militär von seinem Territorium aus operieren und unterstützt anscheinend auch durch Waffenlieferungen und durch die Behandlung russischer Kriegsverletzter in belarussischen Krankenhäusern das russische Militär, stellt aber keine Truppen zur Verfügung.

Russland ist zwar aus dem Europarat ausgetreten, ist aber nach wie vor Mitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Auch wenn die OSZE aktuell durch ihr Einstimmigkeitsprinzip in Bezug auf den Ukrainekrieg nicht viel erreichen kann: es ist eine Organisation, in deren Rahmen diplomatische Gespräche in vertraulichem Rahmen geführt werden können, sowohl von Regierungsvertreter:innen und Diplomat:innen als auch von Parlamentarier:innen, die Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der OSZE sind. Die aktuelle Generalsekretärin der OSZE, Helga Maria Schmid, ist übrigens eine erfahrene deutsche Diplomatin.

Generell ist es wichtig, auch in der aktuellen Kriegssituation zu versuchen, die Kooperation mit Russland bei global relevanten Themen aufrecht zu erhalten: bei den multilateralen Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträgen, zu denen insbesondere der Nichtverbreitungsvertrag und die Biowaffen- und Chemiewaffenkonvention gehören, bei den jährlichen Klimaschutzkonferenzen und beim wichtigen Thema Biodiversität.

Gerade die globalen Themen zeigen übrigens, dass es kontraproduktiv sein kann, zu fordern, nur mit Staaten zu kooperieren, die die eigenen Werte teilen. Eine der Stärken der Diplomatie ist, dass sie Regeln für den diplomatischen Verkehr zwischen Staaten entwickelt hat, die weltweit gelten und eingehalten werden – unabhängig vom jeweiligen Werte- und Regierungssystem. Für das gemeinsame Handeln von Staaten, die Werte wie eine friedliche Lösung von Konflikten, fairen Interessenausgleich oder langfristige Glaubwürdigkeit des eigenen Handelns ernst nehmen, ist darüber hinaus professionelles diplomatisches Handeln ein entscheidender Erfolgsfaktor (Bolewski 2021).

 

Ute Finckh-Krämer Jahrgang 1956, Dr. rer. nat., ist MdB a.D. (SPD, 2013-2017) und Co-Vorsitzende der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung. Sie war unter anderem Mitglied des Auswärtigen Ausschusses.

 

Literatur

Bolewski, Wilfried 2021: Diplomacy is back. Academia Letters, Article 3390

Gottemoeller, Rose 2022: Resuming New START inspections must be a critical goal of upcoming US-Russia talks. In: Bulletin of the Atomic Scientists (Online), November 2022, abrufbar unter https://thebulletin.org/2022/11/resuming-new-start-inspections-must-be-a-critical-goal-of-upcoming-us-russia-talks/

Gottemoeller, Rose und Brown, Marshall L. jr. 2023: Legal aspects of Russia’s New START suspension provide opportunities for US policy makers. In: Bulletin of the Atomic Scientists (Online), März 2022, abrufbar unter https://thebulletin.org/2023/03/legal-aspects-of-russias-new-start-suspension-provide-opportunities-for-us-policy-makers/

Maihold, Günther et al 2022: Von gemeinsamen Werten zu komplementären Interessen. SWP aktuell Nr. 78 Dezember 2022, abrufbar unter https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A78_EU_Lateinamerika_Karibik_Web.pdf

Von Fritsch, Rüdiger 2020: Russlands Weg, Berlin

Von Fritsch, Rüdiger 2022: Zeitenwende, Berlin

 

Anmerkungen:

ii Bundesministerium des Innern: Umsetzung des Durchführungsbeschlusses des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes, S. 9. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/ukraine/beschluss-4-maerz-2022-ukraine.html

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