Editorial
Zugegeben: Die Humanistische Union ist bisher nicht als Organisation, die sich intensiv mit dem Klimawandel und der drohenden Klimakatastrophe beschäftigt, aufgetreten. Gleichwohl betrifft der Klimawandel als existenzielle Bedrohung zahlreiche Aspekte und Probleme, die eine Bürgerrechtsorganisation behandeln muss. Gemeint sind nicht nur die von uns schon oft debattierte Frage, wie die Strafjustiz oder Kriminalisierung von Klimaaktivist*innen zu bewerten ist, sondern das Problem ist fundamentaler. Es geht um die existenzielle Frage, wie der Klimawandel sozial- und demokratieverträglich bekämpft werden kann – kurzum: Es geht darum, Klimagerechtigkeit herzustellen.
Welche Rechte haben die derzeit lebenden Menschen gegenüber der Natur, deren Teil sie sind, oder gegenüber künftigen Generationen, die gerne auf einem bewohnbaren Planeten leben würden? Ist unser individualistisches Freiheitsverständnis noch aufrechtzuerhalten im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe? Und wenn wir wissenschaftlich gesicherte Informationen über die bedrohliche Situation haben, warum leben wir dann noch nicht klimaneutral und klimagerecht oder wenigstens nachhaltig?
Dass der Klimawandel und das Ausbleiben geeigneter Maßnahmen gegen die globale Erwärmung oder das Artensterben heute schon Grundrechte bedroht, haben etwa die im Jahr 2021 erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen das unzureichende deutsche Klimaschutzgesetz gezeigt. Die Humanistische Union hat den Beschwerdeführer*innen dafür 2023 den Fritz-Bauer-Preis verliehen. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass jede Person vom Klimawandel betroffen ist und wir nicht auf Kosten von Menschen im globalen Süden oder künftigen Generationen weiter unsere natürlichen Grundlagen zerstören dürfen (vgl. hierzu auch die Dokumentation der Fritz-Bauer-Preisverleihung 2023 im vorgänge-Heft Nr. 242). Dem folgen inzwischen weitere Klimaklagen in Europa. Damit stellt sich auch einer Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik die Frage, wie sich der Klimawandel grundrechtlich auswirkt und inwiefern dies mit anderen Sphären, wie Politik, Wirtschaft, Kultur und Ethik korreliert.
Wenn es Rechte künftiger Generationen gibt sowie das Recht auf eine saubere Umwelt, hat dann auch die Natur Eigenrechte? Wer kann welche Rechte gegen welche Akteur*innen einklagen? Gibt es ein Recht des Individuums auf klimaschädliche Taten oder Produkte, wenn dies auf Kosten anderer geht?
Das freigesetzte CO2 führt zu einer Anreicherung in der Atmosphäre und ist damit Ursache der sich abzeichnenden Temperaturerhöhungen. Wachsender Energiebedarf und Langfristigkeit der Wirkung bestärken noch den Klimawandel. Können wir überhaupt nachhaltig wirtschaften? Ist Postwachstum eine Lösung und wenn ja, wie könnte dies menschen- und bürgerrechtlich realisiert werden?
Was für Politik- und Freiheitsverständnisse sind mit der ökologischen Transformation verbunden? Hat die liberale Gesellschaftsordnung ausgedient? Wie muss/darf das Verhalten der Menschen reguliert werden, damit eine sozial-ökologische Transformation gelingt? Wie ist mit sozialen Konflikten und der wachsenden globalen sozialen Ungleichheit im Hinblick auf Klimaschäden und -kosten umzugehen? Diese und ähnliche ausgesuchte Fragen wollen wir in der vorliegenden Doppelausgabe der vorgänge verhandeln. Dabei entstehen durchaus Kontroversen, da die Autor*innen dieses Themenschwerpunktes zu Klima(un)gerechtigkeit zu teilweise sehr unterschiedlichen Antworten und Lösungsvorschlägen kommen, sodass dieses Heft ein Ringen um Klimagerechtigkeit bedeutet.
Wir beginnen den Themenschwerpunkt zu Klimagerechtigkeit und -ungerechtigkeit mit vorrangig rechtlichen Texten. Den Anfang macht Felix Ekardt, der in das Klimarecht einführt und einen aktuellen Stand zur juristischen Lage und zu Klimaklagen gibt. Dabei argumentiert er, dass sich die Gesetzgebung nicht nur auf Technikwandel, sondern auch auf einen Verhaltenswandel konzentrieren muss und eine Diskussion um die Eigenrechte der Natur juristisch eher abwegig sei. Indirekt schließt Bernd Söhnlein daran an und diskutiert, ob das Grundgesetz zu seinem 75. Jahrestag eine ökologische Erneuerung braucht, um auf die Umweltkrise demokratieverträgliche Antworten zu finden. Er argumentiert dafür, das Grundgesetz um eine ökologische Komponente über Art. 20a GG hinaus zu ergänzen.
Yi Yi Prue, eine der Beschwerdeführer*innen gegen das deutsche Klimaschutzgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht, berichtet von den Naturkatastrophen in ihrer Heimat, Bangladesh, und von ihrer Motivation, sich an das deutsche Bundesverfassungsgericht zu wenden. Dabei vertritt sie den Standpunkt, dass Fragen des Klimawandels nicht den Rechten von indigenen Völkern entgegengesetzt werden sollten. Stattdessen plädiert Prue für eine intersektionale Perspektive. Andreas Sanders, ein weiterer Beschwerdeführer der deutschen Klimaklagen, berichtet ausführlich über seine Erfahrungen während des Klageprozesses und die damals abweisende Haltung politischer Akteur*innen. Daher hält er Klagen für das derzeit geeignetste Mittel, um für Klimarechte zu kämpfen.
Darauf folgt ein politischer und sozialwissenschaftlicher Teil des Themenschwerpunktes. Frank Adloff kritisiert, ausgehend von der Theorie des Anthropozäns, den instrumentellen Blick auf die Natur und die Trennung von nichtmenschlicher Natur und menschlicher Kultur, die in der Moderne zum dominanten Paradigma wurde. Stattdessen versteht er das Verhältnis von Kultur und Natur als Gabenbeziehung. Klaus Dörre, Oskar Butting, Nora Fülöp und Anna Mehlis wiederum sehen in Deutschland die soziale Ungleichheit als Bremsklotz für die Verwirklichung ökologischer Nachhaltigkeitsziele. Das ließe sich nur ändern, wenn ein ökologischer Sozialstaat Transformationskonflikte und -folgen sozial abfedern würde, um so im Sinne der Klimagerechtigkeit einen Ausgleich zwischen sozialen Menschenrechten und ökologischer Nachhaltigkeit zu schaffen. Philip Dingeldey diskutiert aus demokratietheoretischer Perspektive das Freiheitsverständnis in Zeiten der ökologischen Krise und argumentiert dabei für ein Freiheitsverständnis eines ökologischen Republikanismus und kontrastiert dies mit liberalen Freiheitsbegriffen. Jedoch, so seine Kritik, ist der derzeitige grüne Republikanismus eine liberalisierte und reduzierte Version der republikanischen Tradition, weshalb der grüne Republikanismus (noch) keine demokratisch-ökologische Alternative zum Liberalismus bietet.
Ingolfur Blühdorn ist generell skeptisch, ob Degrowth, Postkapitalismus oder kollektive Selbstbegrenzung überhaupt noch transformative Leitbegriffe sind. Die Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte stehe vor der Notwendigkeit, sich auf eine neue Konstellation einzustellen, in der die modernistischen Normen des öko-emanzipatorischen Projekts an Kraft verlieren und auch die kritisch-transformativen Ansätze der Soziologie zunehmend ungeeignet scheinen, die Besonderheit spätmoderner nichtnachhaltiger Gesellschaften zu erfassen. Im Anschluss geht Sarah Kessler der Verbindung aus künstlicher Intelligenz und der Bestrebung nach sozial-ökologischer Nachhaltigkeit (Digitalisierung und Dekarbonisierung) nach und versucht dabei, ein realistisches Subjektverständnis anzubieten.
Im nächsten Teil des Schwerpunktes widmen wir uns der Thematik aus einer ökonomischen Perspektive, insbesondere dem Konzept des Degrowth für eine klimagerechte Wirtschaft. Der Postwachstumsexperte Niko Paech führt die physischen Wachstumsgrenzen als Grund für ein klimafreundliches Postwachstum an und konzentriert sich auf die Frage, ob demokratische Institutionen in der Lage sind, die Überlebensfähigkeit der Menschheit wiederherzustellen. Zudem widmet sich Werner Bergmann – ausgehend vom Energiebedarf und der von den Anhänger*innen der Theorie des Anthropozäns behaupteten geologischen Wende – der Entwicklung des Energieverbrauchs und seines Einflusses auf das Klima.
Ein Block zu Fragen der Klimaethik und Klimakommunikation rundet den Schwerpunkt ab. Bernward Gesang sieht sich moralphilosophisch die Möglichkeiten und Verantwortungen von Individuen in Bezug auf die Praxis des Spendens für den Schutz des Regenwaldes an. Dabei argumentiert er dafür, dass eine Praxis des Spendens und Ersetzens realistischer und effizienter sei als die komplette Änderung des westlichen Lebensstils, um Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit (gerade im globalen Süden) herzustellen. Und Thorsten Philipp untersucht die kommunikative Ressource und Kulturpraxis der Popmusik in Bezug auf den Klimawandel. Popmusik, so Philipp, hat den Vorteil, dass sie ohne Expertenwissen auskommt und vielseitig interpretierbar ist, sodass es zu Aneignungspraxen und Neuschöpfungen im Rahmen der musikalischen Klimakommunikation kommt.
Daneben bietet die vorliegende Ausgabe der vorgänge wieder Beiträge, die sich mit aktuellen Themen abseits des Schwerpunktes befassen: Alexander Lorenz-Milord und Alexander Steder berichten, wie das Projekt Regishut zur Bildung gegen Antisemitismus für die Polizei in Berlin beiträgt. Wolfram Grams kritisiert, wie in den vergangenen Jahren ein Kosten-Nutzen-Kalkül wieder Einzug in den politischen Diskurs gefunden und dabei zur völligen Ökonomisierung der Sphäre des Sozialen geführt hat. Ernst Fricke sieht sich den § 353d StGB zum Verbot der Verbreitung von wörtlichen Zitaten aus laufenden Gerichtsverfahren an und diskutiert, ob dies eine Einschränkung der Pressefreiheit darstellt. Als Replik auf das vergangene vorgänge-Heft Nr. 244 zum Thema Identitätspolitik plädiert Daniel Stosiek schließlich sozialtheoretisch dafür, Identitätspolitik als Aspekte der Alterität zu verstehen und so für eine intersektionale Analyse fruchtbar zu machen. Zudem finden Sie in diesem Heft eine Reihe ausführlicher Rezensionen zu Sachbüchern über zivilen Ungehorsam und den Israel-Palästina-Konflikt. Die Redaktion wünscht Ihnen eine anregende Lektüre des aktuellen Heftes.
Philip Dingeldey