In der Hitzefalle: Klimaungerechtigkeit und die Vision eines ökologischen Sozialstaats
1. In the Heat of the Night
In the heat of the night ist ein Blockbuster mit einem fantastischen Sidney Poitier in der Hauptrolle. Was im Film nur ein Randaspekt ist – alle schwitzen jederzeit und auch bei Nacht – könnte sich dem Halbzeitbericht zur Umsetzung der 17 Sustainable Development Goals (in Folgenden SDGs) der Vereinten Nationen (Sachs et al. 2023) zufolge künftig für einen erheblichen Teil der Menschheit als Dauerzustand erweisen. Das Ziel, „[u]mgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen [zu] ergreifen“, um die durchschnittliche Erderhitzung zumindest unter zwei, möglichst aber unter 1,5 Grad zu halten (United Nations 2015), gerät zusehends außer Reichweite. Laut Synthesebericht des Weltklimarates (IPCC 2023) steuert die Welt bei Umsetzung aller bereits vereinbarten Maßnahmen bestenfalls auf ein 2,8-Grad-Szenario zu. Schon eine globale Erwärmung auf etwa 2,7 Grad bis zum Jahrhundertende könnte ein Drittel der Weltbevölkerung aus den angestammten Klima-Nischen vertreiben (Lenton 2023).
Die Halbzeitbilanz der SDGs fällt jedoch nicht nur in Sachen Klimawandel ernüchternd aus. Die meisten Ziele, die sich die Vereinten Nationen für 2030 vorgenommen hatten, können kaum noch erreicht werden. Bei Kernzielen wie der Beseitigung von Armut und Hunger sowie der Reduzierung sozialer Ungleichheiten gibt es in vielen Weltregionen gar Rückschritte. Das Ziel, extreme Formen von Armut in einem globalen Maßstab bis 2030 zu überwinden, scheint völlig außer Reichweite. Aufgrund der pandemiebedingten Rezession rutschten allein 2020 etwa 124 Millionen Menschen zusätzlich unter die Einkommensschwelle von 1,90 US-Dollar pro Tag und gilt damit global als arm. Die Erwerbsarmut trifft hauptsächlich Frauen und Jugendliche (United Nations 2022: 26). Mit extremer Armut nimmt auch der Hunger wieder zu. 2020 litten bis zu 811 Millionen Menschen unter Nahrungsknappheit, das waren 161 Millionen mehr als ein Jahr zuvor (United Nations 2022: 26).
Wie ist diese dramatische Fehlentwicklung zu erklären? Nach unserer Auffassung resultiert eine wichtige Ursache aus dem Spannungsverhältnis zwischen ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitszielen. Lange Zeit operierte die ökologische Aufklärung in der Annahme, das Wissen um die demokratische Allbetroffenheit durch ökologische Großgefahren werde genügen, um gesellschaftliche Mehrheiten für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu gewinnen. Die griffige Formel, Not sei hierarchisch, Smog indessen demokratisch, die einen zunehmenden Bedeutungsverlust sozialer Verteilungskämpfe signalisieren sollte (Beck 1986), hat sich jedoch als gravierende Fehldiagnose erwiesen (Otto 2023). Zwar betreffen ökologische Großgefahren wie der Klimawandel alle, aber eben nicht in gleicher Weise und sie ebnen soziale Unterschiede keineswegs ein. Im Gegenteil, der Kampf gegen die Erderhitzung ist zwingend auch ein Kampf gegen Armut und Ungleichheit. Das gilt für Länder des Globalen Südens ebenso wie für die vergleichsweise reichen Gesellschaften des Nordens.
Auch in Deutschland – einem Land, das beim Klimaschutz eigentlich eine Führungsrolle einnehmen müsste – wirkt soziale Ungleichheit als gewaltiger Bremsklotz für die Verwirklichung ökologischer Nachhaltigkeitsziele. Das lässt sich nur ändern, so unsere These, wenn angemessene Sicherungssysteme Transformationskonflikte und -folgen sozial abfedern. Ein ökologischer Sozialstaat (zur Diskussion vgl. Nullmeier 2023; Barth/Lessenich 2022) wäre ein Großprojekt, das, obgleich mit gehörigem utopischem Überschuss ausgestattet, doch realitätstauglich genug wäre, um gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen. Nachfolgend begründen wir diese Auffassung anhand eigener empirischer Forschungen. Zunächst skizzieren wir den methodischen und theoretischen Rahmen der Ausführungen (2), analysieren sodann ausgewählte Transformationskonflikte (3) und stellen abschließend einige Überlegungen zur Vision eines ökologischen Sozialstaats an (4).
2. Transformationskonflikte – ein Untersuchungsdesign
Um unsere These zu prüfen, richten wir unser Augenmerk hauptsächlich auf Transformationskonflikte in der Arbeitswelt. Dabei gehen wir davon aus, dass die soziale (Klassen-)Achse und die Achse des ökologischen Gesellschaftskonflikts einander zwar überlappen, sich aber durch je eigene Dynamiken auszeichnen.
2.1 Methodik, Sample
Wie Transformationskonflikte verlaufen, lässt sich nur empirisch klären. Wir greifen deshalb auf verschiedene Datensätze zurück, die wir methodisch qua Daten- und Forscher*innen-Triangulation (Flick 2008; Denzin 1989) aufeinander beziehen können. Dem quantitativen Datensatz, auf den wir uns beziehen, liegt eine Bevölkerungsbefragung aus dem Frühjahr 2022 zugrunde. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Vorhabens (h2well) wurden zwischen dem 1. März und dem 15. April 2022 1118 Erwachsene (1109 ausgewertete Fälle) bundesweit telefonisch befragt.i Dabei ging es auch um das Umweltbewusstsein und die Gesellschaftsbilder der Befragten. Wir nutzen den Datensatz, um eine Klassenheuristik zu prüfen, die wir zuvor aufgrund theoretischer Überlegungen gebildet und anhand eines Datensatzes mit knapp 20.000 Befragten (n = 19.381) erstmals modelliert hatten (vgl. Dörre et al. 2024).
Die quantitativen Daten verbinden wir mit einem qualitativen Datensatz, der im Rahmen des DFG-Projekts „Eigentum, Ungleichheit und Klassenbildung in sozial-ökologischen Transformationskonflikten“ des Sonderforschungbereichs 294 erhoben wurde.ii Er umfasst, eine Vorstudie eingeschlossen, mehr als 300 Befragte. Untersucht wurden Transformationskonflikte im Braunkohlerevier der Lausitz, beim Logistikkonzern Deutsche Post/DHL, im Öffentlichen Personennahverkehr, in der Auto- und Zulieferindustrie sowie am Beispiel von Erwerbslosen und Nutzer*innen des Tafel-Angebots. Das Spektrum der Befragten reicht von den Werks- und Standortleitungen über mittlere Führungskräfte und Spezialist*innen, Arbeiter*innen und Auszubildenden bis hin zu prekär Beschäftigten und Langzeiterwerbslosen. Als Erhebungsinstrument dienten problemzentrierte Interviews und Expertenbefragungen, deren Leitfäden auf betriebliche Statusgruppen zugeschnitten waren (Witzel 2000). Alle Interviews wurden protokolliert, teilweise auch vollständig transkribiert. Im Anschluss an die Codierung erfolgte eine inhaltsanalytische Auswertung des Materials (Kelle/Kluge 2010: 43f.).
Hervorzuheben ist, dass jede befragte Person einer Position in einem von uns eigens entwickelten Klassenmodell zugeordnet werden kann. Die theoretisch konstruierten Klassen dienen uns als Zellen, die mittels theoretical sampling (Glaser/Strauss 1998: 51ff.) zu besetzen sind. Gefragt haben wir zumeist in Einzel-, in geringer Zahl auch in Gruppengesprächen. Themen waren Bildungs- und Berufswege, die aktuelle Arbeitssituation, das Erleben sozial-ökologischer Transformation, Einschätzungen zu betrieblichen Interessenvertretungen und Gewerkschaften, Haltungen zu Klimawandel und Klimaprotesten sowie Gesellschaftsbilder einschließlich der Selbstverortung im sozialen Gefüge der Bundesrepublik. Im Anschluss an die Interviews wurde den Befragten ein standardisierter Fragebogen vorgelegt, der neben soziodemographischen Daten zusätzlich Einstellungen zur Gesellschaft, zu sozialen Ungleichheiten und Transformationskonflikten erfasst.
Als heuristischer Rahmen unserer empirischen Untersuchungen dient ein Klassenmodell, das wir in Anlehnung an Erik Olin Wrights synthetisierende Klassentheorie entwickelt haben. Unter Klassen verstehen wir „aus bestimmten Strukturbedingungen hervorgegangene Interessengruppierungen, die als solche in soziale Konflikte eingreifen und zum Wandel sozialer Strukturen beitragen“ (Dahrendorf 1957: VIIIf.). Im Unterschied zum deskriptiven Ordnungsbegriff Schicht ist Klasse „eine analytische Kategorie, die nur im Zusammenhang einer Klassentheorie sinnvoll sein kann“ (Dahrendorf 1957: IX). Klassen führen einen Kampf um das gesellschaftlich erzeugte Mehrprodukt – eine Auseinandersetzung, die aufgrund von Inflation, realen oder antizipierten Wohlfahrtsverlusten gegenwärtig wieder an Fahrt aufnimmt. Klassentheorien interpretieren Verteilungskämpfe allerdings in besonderer Weise. Sie operieren mit Kausalitätsvermutungen nach dem Muster ‚Der Reichtum der Reichen bedingt die Armut der Armen‘. Dabei beruhen Klassen stets auf Klassifikationen und den ihnen zugrunde liegenden Bewertungen.
2.2 Klassen und Klassenkonflikte
Im Anschluss an Erik Olin Wright (2015: 12) lassen sich drei Gruppen klassenkonstitutiver sozialer Mechanismen unterscheiden. Auf der Mikroebene individueller Lebensführung erwerben Personen klassenrelevante Eigenschaften; Distinktion wirkt als ein Kausalmechanismus, der Klassenindividuen zueinander in Beziehung setzt. Hier sind Ansätze zu verorten, die mit der Kapital- und Klassentheorie Pierre Bourdieus operieren. Auf der Mesoebene lassen sich Positionen und Chancen innerhalb von Marktbeziehungen analysieren, die durch soziale Schließung, positive oder negative Privilegierung aufeinander bezogen werden. Dies ist die Ebene weberianischer Kausalitätsvermutungen. Makrosozial geht es um Positionierungen innerhalb von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen sowie die mit ihnen verbundenen Auseinandersetzungen vor allem innerhalb der Produktion (Wright 2015: 13). Das ist die Ebene marxianischer („marxian“) Theorie. Beherrschung (domination) thematisiert die Fähigkeit, die Aktivitäten anderer zu kontrollieren. Ausbeutung (exploitation) beinhaltet die Generierung ökonomischer Vorteile aus der Arbeitstätigkeit derjenigen, die beherrscht werden. Jede Ausbeutung impliziert daher eine Art von Beherrschung, aber nicht jede Beherrschung bringt Ausbeutung mit sich (Wright 2015: 9).
Wrights klassentheoretische Überlegungen sind für uns anregend; um sie auf Transformationskonflikte zu beziehen, müssen wir sie indes erheblich modifizieren. Ein wesentlicher Unterschied zu Wright ist, dass wir das Sozialeigentum von Lohnabhängigen als klassenkonstitutiven Mechanismus betrachten. Sozialeigentum ist nach Robert Castel (2005: 41) eine Eigentumsform, die Lohnabhängigen aufgrund beruflicher Fähigkeiten, sozialer Rechte, tariflicher Normen, Mitbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten etwas ermöglicht, was zuvor ausschließlich an privaten Besitz gekoppelt war – die Chance zu einer längerfristigen Lebensplanung. Soziales Eigentum fungiert daher als Gegenbegriff zum kapitalistischen Besitz. Anhand der Kriterien (a) Verfügung über Produktionsmittel, (b) der in Wirtschaftsorganisationen ausgeübten oder staatlich gewährten Kontrollmacht über Personen sowie (c) dem angeeigneten Sozialeigentum differenziert unser Modell vier Erwerbsklassen – die Selbstständige und Lohnabhängige Mittelklasse (SMK, LMK) sowie die Neue und die Konventionelle Arbeiterklasse (NAK, KAK). Alle genannten Klassen bringen je eigene Exklusionsbereiche hervor, in denen die Beschäftigungs-, Arbeits- und Einkommensstandards der Grundklassen deutlich unterboten werden. Dies geschieht aufgrund sexistischer oder rassistischer Abwertungen oder auch wegen institutionalisierter Ungleichbehandlung und defizitärem Sozialeigentum. Es handelt sich um Bereiche, die von Überausbeutung und ungleichem Tausch geprägt werden. Gemeinsam bilden sie einen Exklusionssektor. Die Nichterwerbstätigen (NE) sind sozial heterogen und bilden keine Erwerbsklasse. Deshalb bleiben sie in der nachfolgenden Darstellung unberücksichtigt.
Aufgrund geringer Fallzahlen werden sowohl die Herrschende Klasse (HK) als auch die Untere Klasse (UK) lediglich über den qualitativen Datensatz erfasst. Die HK zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur den Besitz an und/oder die Verfügung über Produktionsmittel weitgehend monopolisiert, sondern auch über erhebliche Kontrollmacht in Produktionsprozessen verfügt. Die UK ist hingegen selbst von Ausbeutung in bezahlter Erwerbsarbeit vollständig ausgeschlossen. Ihre Klassenpositionen befinden sich unterhalb einer Schwelle der Respektabilität, die signalisiert, dass die Reproduktion des eigenen Lebens nicht aus eigener Kraft gesichert werden kann.
Auf der Basis unserer Bevölkerungsbefragung ergibt sich folgende Klasseneinteilung (Abb. 1):
Klasse | Insgesamt | Nach Grundklasse und Exlusionsbereich getrennt |
Selbstständige Mittelklasse | 6,7 % | 5,1 % |
Exklusionsbereich | 1,6 % | |
Lohnabhängige Mittelklasse | 13,1 % | 9,5 % |
Exklusionsbereich | 3,6 % | |
Neue Arbeiterklasse | 8,9 % | 6,1 % |
Exklusionsbereich | 2,8 % | |
Konventionelle Arbeiterklasse | 28,3 % | 14,9 % |
Exklusionsbereich | 13,4 % | |
Nicht Erwerbstätige | 43 % | 43 % |
Abb. 1: Klasseneinteilung n = 1109 ausgewertete Fälle (h2-well-Datensatz).
Die Klassen/Großgruppen wurden anhand folgender Kriterien gebildet.
Selbstständige Mittelklasse (SMK): Personen mit dem beruflichen Status Selbstständig, Freie Mitarbeiter*innen, Freiberuflich oder Landwirt.
Lohnabhängige Mittelklasse (LMK): Personen mit dem beruflichen Status Arbeiter*in, Angestellte oder Beamte, die eine Führungsposition innehaben.
Neue Arbeiterklasse: Personen mit dem beruflichen Status Arbeiter*in, Angestellte oder Beamte, die einen akademischen oder einen vergleichbaren Abschluss, aber keine Führungsposition innehaben.
Konventionelle Arbeiterklasse: Personen mit dem beruflichen Status Arbeiter*in, Angestellte oder Beamte, die keinen akademischen Abschluss und keine Führungsposition innehaben.
Nicht Erwerbstätige: Personen, die nicht in Voll- oder Teilzeit erwerbstätig sind.
Exklusionsbereiche: Personen, die sich in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis befinden, in Teilzeit arbeiten oder ein prekäres monatliches Nettoeinkommen (weniger als zwei Drittel des Medians) beziehen.
Unsere Gesellschaftsbild-Batterie vermittelt einen Eindruck hinsichtlich der subjektiven Relevanz wahrgenommener Ungerechtigkeit (Abb. 2). Große Mehrheiten sind überzeugt, dass sich der gesellschaftliche Reichtum gerechter verteilen ließe (89 Prozent der Befragten stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu). Man sorgt sich wegen verbreiteter Ellbogenmentalität (78 Prozent) und tendiert mit knapper Mehrheit zu einem dichotomischen Gesellschaftsbild, das nur noch oben und unten kennt (52 Prozent). Mehrheitlich glaubt man, dass das heutige Wirtschaftssystem auf Dauer nicht überlebensfähig ist (69 Prozent). Immerhin 46 Prozent der Befragten sind aber auch der Meinung, die Kritik am kapitalistischen System führe nicht weiter. Die Aussage, das eigene Leben sei ein ständiger Kampf, wird mehrheitlich abgelehnt (72 Prozent), und 73 Prozent der Befragten zeigen sich überzeugt, den eigenen Lebensstandard zumindest halten oder gar verbessern zu können. Die Erhebung erfolgte allerdings zu einem Zeitpunkt, als die inflationäre Entwicklung erst eingesetzt hatte.
2.3 Die ökologische Konfliktachse
Wie lassen sich die klassenanalytischen Überlegungen auf den ökologischen Gesellschaftskonflikt und die Auseinandersetzungen um den anthropogenen Klimawandel beziehen? Trotz schlechter Datenlage vermittelt eine Studie des Ökonomen Lucas Chancel (2022) einen Eindruck, wie der individuelle Klimafußabdruck mit der jeweiligen Klassenposition variiert. So sind die klimaschädlichen Emissionen in Europa und Nordamerika zwischen 1990 und 2019 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Die untere Hälfte der Einkommensgruppen – unter ihnen viele Angehörige der Konventionellen Arbeiterklasse – hat in Europa und Nordamerika Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und ungefähr fünf Tonnen in europäischen Ländern annähern oder diese gar erreichen. Das wohlhabendste ein Prozent emittierte 2019 hingegen 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu. Hauptursache für die steigende Emissionslast sind Investitionen, nicht der individuelle Konsum. So resultierten 2019 über 70 Prozent der Emissionen des reichsten ein Prozent aus Investitionen. Parallel zum Anstieg der Ungleichheit und zur Konzentration der Vermögen hat der Anteil der Investitionen am Pro-Kopf-Fußabdruck der kapitalistischen Eliten seit den 1990er Jahren beständig zugenommen (vgl. Chancel 2022: 931–938).
Es wäre dennoch grob fahrlässig, wollte man annehmen, Lohnabhängige, die auf soziale Gerechtigkeit pochen, seien unweigerlich auch Vorreiter*innen ökologischer Nachhaltigkeit. Die Sorge um Arbeitsplätze, sozialen Status, die Zukunft der Kinder und der Heimatregion kann das Gegenteil bewirken. Das hängt vor allem mit der eigensinnigen Dynamik zusammen, die der ökologische Gesellschaftskonflikt entfaltet. Diese Dynamik darf weder auf Klassenkampf reduziert werden, noch ist sie mit ihm identisch. Wie Jason Moore (2020) begründet, erzeugen die Auseinandersetzungen um die Aneignung „billiger Naturen“ eigene Konfliktdynamiken. Das auch, weil die aneignenden Gruppen Techniken anwenden, mit deren Hilfe sie sich „die Fähigkeit besagter Naturen zunutze“ machen, „unentgeltlich zu arbeiten“ (Moore 2020: 114).
Abb. 2: Gesellschaftsbild-Batterie
Die Arbeit der Natur ist etwas anderes als Lohnarbeit. Ihr nähert man sich, wenn Arbeit über die Erwerbstätigkeit hinaus als „lebensspendender Prozess“ (Foster et al. 2011: 381) begriffen wird.
Entscheidend ist, dass die ökologische Konfliktachse auch innerhalb sozialer Klassen spaltet. Sie trennt die Gewinner*innen sozial-ökologischer Transformation von den Verlierer*innen. Für Konflikte auf der Naturachse gilt deshalb, dass sie eigendynamisch verlaufen, aber mehr oder minder große Überlappungen mit der Kapital-Arbeit-Achse aufweisen. Marktzentrierte Klimapolitiken sind ein markantes Beispiel, denn die wichtigsten klimapolitischen Instrumente wie Kohlenstoffsteuern haben, so Chancel, wenig dazu beigetragen, die enormen Ungleichheiten bei den Kohlenstoff-Fußabdrücken zu beseitigen. Klimapolitiken, die soziale Nachhaltigkeit missachten, sind daher hochgradig konfliktträchtig, und das obwohl ökologische und Klimaziele klassenübergreifend auf große Zustimmung stoßen (Abb. 3).
Deutliche Mehrheiten der von uns Befragten sind der Ansicht, der Klimaschutz in Deutschland gehe zu langsam voran (84 Prozent); fast alle halten den Ausbau erneuerbarer Energien für sehr wichtig (98 Prozent) und drei Viertel meinen, die Politik solle der Wirtschaft strenge Vorgaben zum Schutz des Klimas machen. Eine deutliche Mehrheit ist gar bereit dazu, mehr Geld für den Schutz des Klimas auszugeben (75 Prozent). Doch Mehrheiten der Befragten (58 Prozent) meinen auch, der Klimaschutz dürfe das Wirtschaftswachstum nicht beeinträchtigen und vertreten die Ansicht, die Kosten für den Klimaschutz belasteten Menschen mit geringen Einkommen zu stark (60 Prozent „voll und ganz“, 24 Prozent „eher“).
3. Transformationskonflikte
In den Daten deutet sich die Explosivität an, die Konflikten um ökologische und soziale Nachhaltigkeit innewohnt. Das Ziel, die klimaschädlichen Emissionen in Deutschland bis 2045, in der EU bis spätestens 2050 auf netto Null zu reduzieren, bedeutet für alle Wirtschaftsbereiche, insbesondere aber für die industriellen Karbonbranchen, eine konfliktträchtige Zäsur. Denn es wirkt ein Kausalnexus, der sich in Anlehnung an Wrights Klassentheorie anhand von drei Prinzipien beschreiben lässt. (1) Das umgekehrt interdependente Wohlfahrtsprinzip: Der auf fossiler Basis angeeignete Wohlstand herrschender Klassen mit großem Klimafußabdruck verhält sich in umgekehrter Abhängigkeit zum Wohlstand beherrschter Klassen, die eine geringe Emissionslast verursachen. (2) Das Ausschlussprinzip: Die umgekehrte Interdependenz beruht darauf, dass beherrschte Klassen von Entscheidungen über Investitionen und Innovationen ausgeschlossen sind. (3) Das Aneignungsprinzip: Der Ausschluss verschafft Klassen mit großer Entscheidungsmacht einen materiellen Vorteil, weil er ihnen ermöglicht, sich „billige Naturen“ auf Kosten beherrschter Klassen anzueignen. Dieser Kausalmechanismus entfaltet sich in komplexen Mikro-Makrodynamiken. Auf der Mikroebene von Arbeitsweise und individueller Lebensführung geht es um Spielräume für ein gutes Leben, die der Fremdbestimmung abgetrotzt werden. Auf der Mesoebene dreht sich die Auseinandersetzung um das Ausmaß von Kontrolle und Beherrschung in der Transformation. Makrosozial wird wiederum um Entscheidungen gerungen, die über das Was, das Wie und das Wozu der Produktion befinden. Nachfolgend abstrahieren wir von branchenspezifischen Besonderheiten und konzentrieren uns auf einige fallübergreifende Gemeinsamkeiten von Transformationskonflikten.
Abb. 3: Einstellungen zum Klimaschutz
3.1 Die Mikroebene: Konflikte um symbolische Auf- und Abwertung
Beginnen wir mit der oftmals ungesehenen Mikroebene. Wie gezeigt, sind Klima- und ökologische Nachhaltigkeitsziele klassenübergreifend subjektiv stark präsent. Deren lebenspraktische Relevanz variiert jedoch mit der individuellen Klassenposition. So finden Maßnahmen zum Klimaschutz in der Neuen Arbeiterklasse, der Lohnabhängigen Mittelklasse, mitunter aber auch bei Personen, die wir der Herrschenden Klasse zurechnen, starke Zustimmung. Teilweise sympathisieren diese Befragten gar mit der Klimabewegung. In der Regel handelt es sich allerdings um Personen in Klassenpositionen, die mit besonders hohen Emissionswerten verbunden sind. Die Reduktion des persönlichen Klimafußabdrucks betrachten Mitglieder der Herrschenden Klasse durchaus als anstrebenswertes Ziel:
„Ich will, dass die Gelder in die Rettung des Klimas und in die Rettung unserer Welt gehen. Ich weiß, dass ich nur ganz, ganz wenig dazu selbst beitragen kann, aber das sind meine persönlichen Ziele. Ich würde gern irgendwas in der Richtung Photovoltaik, regenerative Energien machen, um meinen ökologischen Fußabdruck noch ein bisschen optimieren zu können für den Rest meines Lebens. Das ist wirklich mein Ziel.“ (Top-Manager Automobil, HK)
Das ändert aber nichts daran, dass viele Befragte in ähnlichen Klassenpositionen aufwendige Hobbys betreiben, die denkbar ungeeignet sind, den Klimafußabdruck zu reduzieren:
„Also ich habe als Hobby ein Porsche Cabrio […] und habe noch einen großen Schlepper. Das ist auch so ein kleines Hobby. Den nutze ich, um Erdbewegungen zu machen, weil ich gerne Häuser baue. Meine Kollegen lachen schon und ärgern mich damit: ‚Na, wieder ein Haus gebaut?‘ Ist nicht so, dass ich hier Großgrundbesitzer bin, ich bin einfach ein engagierter Mensch, der dabei auch Erfüllung findet, noch was richtig zu tun, auch körperlich.“ (Top-Manager Automobil, HK)
Die Sympathie für Klimaziele korrespondiert im konkreten Fall mit einem Lebensstil, der gesellschaftlich zwar hoch geachtet wird, strukturell aber nicht nachhaltig ist. Der Befragte dürfte zweifellos zu jenen einkommensstärksten zehn Prozent der Haushalte von vier Ländern (Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien) gehören, die insgesamt mehr emittieren als die gesamte Bevölkerung von 16 ärmeren EU-Mitgliedsstaaten (Ivanova/Wood 2020). Betrachtet man das untere Ende der Hierarchie, ergibt sich eine umgekehrte Kausalität. Auch viele der von uns befragten armen Erwerbslosen und Tafel-Nutzenden wissen um die Bedeutung des Klimawandels. Doch ökologische Klima- und Nachhaltigkeitsziele haben für sie kaum lebenspraktische Relevanz – zumal unter Inflationsbedingungen andere Probleme drängen:
„Die Menschen haben Angst um ihre Zukunft, das ist hier das brisante Thema: Wie geht das mit den Preisen weiter, Strom, Essen…? […] Die Leute gehen für sämtliche Scheiße auf die Straße demonstrieren. Geht mal einer wegen den Preisen auf die Straße, sagt ‚So geht’s nicht weiter mit dem Sprit‘? Oder mit den Nahrungsmitteln? Was ist denn mit den Deutschen los? […] Viele Deutsche sollten langsam mal ihre rosarote Brille absetzen.“ (Tafel-Nutzer, im Ehrenamt tätig, UK)
Ihre Klassenposition, die sie vom Zugang zu regulärer Erwerbsarbeit faktisch ausschließt, zwingt Befragte, die wir der Unteren Klasse zurechnen, zu einem Lebensstil, der ihnen ein Überleben trotz Mangels an lebenswichtigen Gütern erlaubt. Je nahtloser die Anpassung an Mangel und Knappheit gelingt, desto stärker unterscheiden sich die Befragten vom Rest der Gesellschaft. Und je mehr sie sich von „normalen Menschen“ abheben, desto größer ist die Gefahr sozialer Stigmatisierung. Das gilt, obwohl die Mitglieder der Unteren Klasse mit größter Wahrscheinlichkeit zu jenen fünf Prozent der EU-Haushalte zählen, die sich innerhalb des Korridors der Pariser Klimaziele bewegen (Ivanova/Wood 2020).
In der Gesamtschau ergibt sich eine paradox anmutende Konstellation. Diejenigen Lebensstile, die aufgrund großer materieller und kultureller Knappheit den geringsten Klimafußabdruck verursachen, werden gesellschaftlich verachtet und wirken abschreckend. Umgekehrt zeugen Lebensentwürfe, die mit einem besonders großen Emissionsausstoß verbunden sind, von einer respektablen Klassenposition, die mit hoher gesellschaftlicher Wertschätzung verbunden ist. Personen, die der Konventionellen Arbeiterklasse zugerechnet werden können, bewegen sich zwischen diesen Polen. Einerseits fürchten sie nichts mehr, als in den Exklusionssektor oder gar in die Untere Klasse und damit unter die Schwelle sozialer Respektabilität abzurutschen. Andererseits nehmen sie die Klimaungerechtigkeit und die mit ihr verbundenen doppelten Standards besonders sensibel wahr.
Je geringer die Aufstiegschancen und je größer die Gefahr des sozialen Abstiegs ist, desto wertvoller wird das verfügbare Sozialeigentum, das eine feste Arbeitsstelle, die Zugehörigkeit zur Stammbelegschaft und eine gute Ausstattung mit sozialen Schutz- und Partizipationsrechten garantieren. So nimmt ein befragter Arbeiter, der sich selbst als „Autonarr“ bezeichnet, die mit Band- und Schichtarbeit verbundenen Zwänge vor allem deshalb in Kauf, weil er während seiner Freizeit wirklich frei sein möchte. Wie er lebt, was er nach der Arbeit macht, will er sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Weil er solch abschätzige Haltungen bei „grüner Regierung“ und Klimabewegung wahrzunehmen glaubt, betrachtet der gewerkschaftliche Vertrauensmann beide als Gegner.
Besonders harsch fällt die Kritik an den sogenannten „Klimaklebern“ aus. Die aggressive Ablehnung erfolgt auch, weil Aktionen zivilen Ungehorsams, wie sie Mitglieder der „Letzten Generation“ insbesondere 2023 praktiziert haben, an jenen Arrangements rütteln, die ein fremdbestimmtes Leben einigermaßen lebenswert erscheinen lassen. Notgedrungen fügt man sich einem System des „Immer mehr und nie genug!“, das für den Klimawandel hauptverantwortlich zeichnet. Die Klimaproteste treffen, so die Deutung, aber nicht dieses expansive System, sondern den „kleinen Mann“, dem die Anpassung an die Zumutungen der Lohnarbeit ohnehin viel abverlangt. Die „grüne Regierung“ mache das Autofahren
„einfach so teuer, dass es sich der normale Mensch nicht mehr leisten kann. Und dann kommen wir wieder bei der Ungerechtigkeit an. Ich darf als einfacher Arbeiter mein Hobby nicht ausleben. Und der, der die Millionen auf‘m Konto hat, der kauft sich trotzdem einen Porsche.“ (Montage-Arbeiter, KAK)
Erscheinen die Aussichten gering, an dieser wahrgenommenen Ungerechtigkeit etwas zu verändern, schlagen erlebte Kränkungen leicht in Distinktionskämpfe um. Man selbst wäre durchaus bereit, für einen wirksamen Klimaschutz auf manches zu verzichten. Auf die Frage, wie man reagieren würde, wenn jemand sage „Wegen des Klimawandels müssen wir auf dies, dies und dies verzichten“, antworten selbst Brief- und Paketzusteller*innen in Teilzeitbeschäftigung mit Sätzen wie „Ich habe damit kein Problem“. Die Bedingung ist jedoch, dass Leistungsgerechtigkeit auch „nach unten“ hergestellt wird. Damit ist gemeint, dass der Abstand gegenüber Erwerbslosen im Bürgergeld-Bezug gewahrt bleiben muss. Höhere Löhne für die eigene Statusgruppe, aber auch Leistungskürzungen für Langzeiterwerbslose können subjektiv präferierte Konsequenzen sein. Im letzteren Fall wird die Konkurrenz vor allem in der sozialen Nachbarschaft verortet. Als Kausalmechanismus wirkt hier kulturelle Distinktion. Man selbst möchte sich um jeden Preis von jenen abgrenzen, die als Mitglieder des Exklusionssektors oder gar der Unteren Klasse allenfalls als „Halbbürger*innen“ mit minderem sozialen Status gelten.
3.2 Die Mesoebene: Konflikte um Chancenhortung und (De-)Privilegierung
Distinktionskämpfe korrespondieren auf der Mesoebene mit Konflikten, die aus sozialer Schließung und Chancenhortung („opportunity-hoarding“, Wright 2015: 3) resultieren. Hier entscheidet bürokratische Kontrollmacht mittels positiver oder negativer Privilegierung, welche Deutungen des ökologischen Gesellschaftskonflikts sich durchsetzen. Führungskräfte in mittleren Positionen haben selbst Vorgaben umzusetzen, sie sind aber auch in der Lage, unterstellten Personen unternehmenskompatible Vorstellungen von ökologisch akzeptablen Arbeits- und Lebensweisen aufzuoktroyieren. Da die Mittelklassenperspektive häufig eine ist, die ökologische Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit denkt, stoßen entsprechende Deutungsschemata besonders in der Arbeiterschaft, aber auch bei unteren und mittleren Angestelltengruppen auf Skepsis oder gar auf offene Ablehnung.
Aufschlussreich sind in diesem Kontext die sozialen Selbstverortungen von Arbeiter*innen und vergleichbaren Angestelltengruppen, die zur Konventionellen Arbeiterklasse zählen. Mit Symbolen zur Beschreibung ihres Gesellschaftsbilds (Pyramide, Sanduhr, Zwiebel) konfrontiert, wählen Befragte, die wir solchen Klassenpositionen zurechnen, mehrheitlich die Pyramide; die Wahl der Sanduhr erfolgt mit der Betonung einer schrumpfenden sozialen Mitte und der Erwartung einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft. Daraus spricht die Furcht vor Wohlstandsverlusten:
„Also ich würde sagen, persönliche Meinung, gesellschaftstechnisch, die Gesellschaft geht den Bach runter. Weil einfach alles viel, viel zu teuer wird. Und die Politik, die wir momentan in Deutschland treiben, die fährt alles an die Wand. Das ist meine persönliche Meinung.“ (Briefzustellerin, KAK)
Sich selbst sehen die meisten Befragten aus der Konventionellen Arbeiterklasse in der gesellschaftlichen Mitte. Diese Selbstverortung entspricht bis zu einem gewissen Grad Realerfahrungen. Viele Befragte erleben, dass prekär Beschäftigte die gleiche Arbeit zu deutlich ungünstigeren Konditionen machen. Man selbst verkörpert, sofern zur Stammbelegschaft zählend, eher die geschützte „Oberschicht“ (Dahrendorf 1957: 144) der Konventionellen Arbeiterklasse. Zwar ist das Bild einer dichotomischen, in „oben“ und „unten“ gespaltenen Gesellschaft bei vielen Befragten präsent. Anders als in den klassischen Arbeiterbewusstseinsstudien aus den späten 1950er Jahren Westdeutschlands nachgewiesen, ist es jedoch nicht mit einer kollektiven Aufstiegshoffnung verbunden. Das aus Mittelklassenpositionen ständig artikulierte Streben nach individueller Besonderheit und Unverwechselbarkeit wird in der Konventionellen Arbeiterklasse mehrheitlich als auferlegte Norm erlebt, der man sowohl im Beruf als auch in der arbeitsfreien Zeit nur selten zu entsprechen vermag. Man sieht sich dem hegemonialen Leitbild eines Marketing-Charakters ausgesetzt, fürchtet aber, diesem Leitbild nicht entsprechen zu können. Die Leitvorstellung des Marketing-Charakters zeichnet sich durch ihre radikale Fokussierung auf die Marktgängigkeit von Produkten und Personen aus (Funk 2007: 151). Selbst Facharbeiter*innen in halbwegs geschützter Beschäftigung und Spezialist*innen mit akademischer Bildung betrachten sich jedoch überwiegend als bloße Objekte einer marktgetriebenen Flexibilisierung. Für sie sind Festanstellung und selbst die Bandarbeit in der industriellen Fertigung zu einer ständigen Bewährungsprobe geworden. Nur um den Preis des sozialen Todes scheint es den Betreffenden möglich, sich dem Zwang zu permanenter Mobilität, zu ständiger Anpassung und Umschulung zu entziehen. Gefährdet ist nicht unbedingt der Job, wohl aber die halbwegs attraktive Tätigkeit, der Arbeitsplatz am Standort, im Stammbetrieb oder in der erwünschten Abteilung und dem favorisierten Team. Oftmals gehen Veränderungen mit Leistungsintensivierung und körperlichen wie psychischen Belastungen einher, die in der medial inszenierten Job-Wunder-Welt selten öffentlich werden.
„Normal zu sein“, ist demgegenüber ein Bekenntnis, das die permanenten Appelle an Einzigartigkeit und Selbstvermarktungsfähigkeit aus einer sozial erwünschten Mehrheitsperspektive heraus attackiert. Daraus erwächst eine konservierende Grundhaltung, die sich nicht ausschließlich, aber doch vorzugsweise bei Angehörigen der Konventionellen Arbeiterklasse findet. Diese Arbeiter*innen haben im Großen und Ganzen bereits erreicht, was sie mit ihrer Bildung und ihren beruflichen Fähigkeiten erreichen können. Deshalb setzen sie alles daran, ihren sozialen Status und das mit ihm verbundene Sozialeigentum zu bewahren. Transformationspostulaten aus dem Management oder seitens politischer Eliten begegnen sie hingegen mit gehörigem Misstrauen. Das Interesse an Statuserhalt kann sich unter Inflationsbedingungen in einer kämpferischen Grundhaltung und hoher Streikbereitschaft niederschlagen. „Die Deutsche Post soll uns einfach 15 Prozent mehr Lohn zahlen und alles ist gut“, lässt uns ein Paketzusteller (KAK) wissen. Damit spricht er vielen Befragten, die zur Konventionellen Arbeiterklasse zählen, aus der Seele. Wenn Top-Manager*innen indes hohe Lohnforderungen mit dem Argument ablehnen, dies verunmögliche dringend benötigte Investitionen in ökologische Nachhaltigkeit, werden die allseits vernehmbaren Appelle zugunsten eines „grünen Wachstums“ im Modus ideologisch-bürokratischer Beherrschung erlebt. Eine Verstärkung kritischer Haltungen zum sozial-ökologischen Umbau kann die Folge sein.
3.3 Die Makroebene: Asymmetrisch verteilte Entscheidungsmacht
Das gilt umso mehr, als das Gros der Befragten fall- und branchenübergreifend von Entscheidungen über Geschäftsmodelle und Investitionen ausgeschlossen ist. In der Privatwirtschaft sind es winzige Gruppen innerhalb der Herrschenden Klasse, die solche Entscheidungen treffen. Ihre Entscheidungsmacht beruht auf kapitalistischem Eigentum und der Verfügung über Produktionsmittel; dementsprechend ist sie höchst ungleich verteilt. Mit diesem Faktum sind wir beim eigentlichen Gravitationszentrum arbeitsweltlicher Transformationskonflikte angelangt. Befragte Spitzenmanager*innen der untersuchten Fahrzeughersteller betrachten es beispielsweise als große Leistung der Autoindustrie, im PKW-Luxussegment eine Führungsposition zu behaupten, diese Strategie sichere „Einkommen und Arbeitsplätze“ (Führungskraft Stab, HK). Angehörige der beherrschten Klassen sind hingegen von Produktionsentscheidungen und deren stofflicher Implikationen weitgehend ausgeschlossen. Aus dem Ausschluss der Arbeitenden können diejenigen, deren Geschäftsmodelle auf „grünes Wachstum“ zielen, materielle, aber auch symbolische Vorteile ziehen.
Wie die Beispiele aus der Autoindustrie, den Niederlassungen des Logistikkonzerns Deutsche Post/DHL oder dem Braunkohlerevier in der Lausitz belegen, haben selbst starke Betriebsräte in gewerkschaftlich gut organisierten Unternehmen nur begrenzte Möglichkeiten, die asymmetrisch verteilte Entscheidungsmacht zu korrigieren. Mittelbar Einfluss nehmen können sie allenfalls über die erwartbaren Folgen der Transformation und im Rahmen jener Möglichkeiten, welche ihnen die betriebliche und die Unternehmensmitbestimmung bieten. Ausschlaggebend ist aber nicht der formale Rahmen von Mitbestimmungsregeln, sondern die Haltung, die Betriebsräte zur sozial-ökologischen Transformation beziehen. In der Lausitz agierten Geschäftsleitung des regionalen Braunkohleförderers und -verstromers LEAG, Betriebsrat und Gewerkschaft lange Zeit als große Partei für Bergbau und Arbeit, die alles daran setzte, den Kohleausstieg so lange wie möglich hinauszuzögern. Diese konservierende Haltung beginnt sich erst in der jüngeren Vergangenheit zu ändern. Bei der Post/DHL ist die Ökologisierung der Logistik und der Fahrzeugflotte in erster Linie ein Managementprojekt, das die Betriebsräte in den untersuchten Niederlassungen noch kaum zu ihrem Thema machen. Lediglich im Bereich des ÖPNV arbeiten Gewerkschaften und Klimabewegungen in einer Weise zusammen, die Transformationskonflikte in Richtung sowohl ökologischer als auch sozialer Nachhaltigkeitsziele treibt.
Die untersuchten Fälle in der Auto- und Zulieferindustrie bewegen sich zwischen konservierenden und transformierenden Konfliktdynamiken. Deutlich wird aber, was eine zumindest punktuelle Beeinflussung von Geschäftsmodellen und Investitionen durch organisierte Arbeitsinteressen voraussetzt. Möglich wird eine solche Korrektur ausschließlich in einer spieltheoretisch modellierbaren Konstellation, in welcher gewerkschaftliche Organisationsmacht und Konfliktfähigkeit der Belegschaft stark genug sind, um ein hohes Maß an korporatistischer Ordnung zwischen Arbeit und Kapital zu erzeugen, ohne aber so stark zu sein, dass sie grundlegende kapitalistische Eigentumsrechte bedrohen könnten (Wright 2015: 221). Nur ein solches Kompromissgleichgewicht ermöglich es unter marktwirtschaftlich-kapitalistischen Bedingungen, Konflikte transformativ zu gestalten. Der Klassenkampf wird dabei gelegentlich zum „quasi-demokratischen Streitgespräch“ (Dahrendorf 1956: 257).
Wichtig bleibt aber, dass Betriebsrat und Gewerkschaft, wie im untersuchten VW-Komponentenwerk Kassel-Baunatal, ein eigenes, klar erkennbares Profil entwickeln. Während das Management des Konzerns an einem Geschäftsmodell festhält, das Gewinn hauptsächlich mit financial services und im Segment hochpreisiger Luxuslimousinen und SUVs ermöglicht, drängen Betriebsratsspitze und IG Metall-Fraktion auf eine nachhaltige Mobilitätswende, die eine Verringerung des individuellen PKW-Verkehrs einschließt:
„Das Argument, dass ein elektrobetriebenes Auto am Ende weniger Energie verbraucht als ein Verbrenner, das stimmt, weil der primäre Energieaufwand deutlich geringer ist, um ein Drittel. Aber wenn es darum geht, das Klima zu beeinflussen: Wie viel CO2 produziere ich, bevor es überhaupt den ersten Kilometer gefahren ist, um Strom zu sparen oder Energie zu sparen? Dann haben die 20 Tonnen CO2. Und wenn ich dann 100.000 Kilometer fahren muss, bevor es sich rechnet, dann frage ich mich, was ist das für ein Quatsch?“ (Betriebsrat, LMK)
Betriebsräte, die so argumentieren, werden in Baunatal nicht wegen, sondern zumindest von Teilen der Belegschaft trotz ihrer Position zur Mobilitätswende mit über 90 Prozent der Stimmen aller Gewerkschaftsmitglieder gewählt. Für die Arbeiterschaft des Werks zählen vor allem Fachkompetenz und Glaubwürdigkeit der Interessenvertretung. Hinzu kommen langfristige Beschäftigungsgarantien des Unternehmens, die selbst bei einem drohenden Verlust von mehr als 6000 Arbeitsplätzen keine Angst vor Arbeitslosigkeit auslösen. VW-Kassel-Baunatal ist indes ein Sonderfall, den es so selbst im eigenen Konzern kein zweites Mal gibt. Im Kleinen illustriert er jedoch, was ein ökologischer Sozialstaat zu leisten hätte.
4. Die Vision eines ökologischen Sozialstaats
Für einen ökologischen Sozialstaat, der Transformationskonflikte demokratisch einhegen könnte, halten wir vier Überlegungen für zentral. Auf der Mikroebene muss es darum gehen, Distinktionskämpfen um eine angemessene Lebensführung die spaltende Wucht zu nehmen. Das ist nur möglich, wenn deutlich wird, dass der sozial-ökologische Umbau ein besseres Leben für alle ermöglicht. Die Bereitschaft, die eigene Arbeits- und Lebensweise an Nachhaltigkeitsgebote anzupassen, ist selbst in den beherrschten Klassen groß. Man scheut nicht einmal vor höheren Kosten zurück, die Klimaschutz und ökologisch nachhaltige Lebensstile verursachen würden. Dabei gibt es deutliche geschlechter- und generationenspezifische Unterschiede. So sind Auszubildende in der Autoindustrie durchaus dazu bereit, auf einen eigenen PKW zu verzichten, wenn sie ihren Mobilitätsbedarf auf andere Weise befriedigen können. Und weibliche Post-Beschäftigte können höheren Preisen für Lebensmittel aus regionalem Anbau durchaus etwas abgewinnen, weil das zu sorgsamem Umgang mit Nahrung animiert und den Umfang weggeworfener Lebensmittel deutlich verringert. Die Bereitschaft, Mehrkosten zu tragen, nimmt jedoch in dem Maße ab, wie Klimaungerechtigkeit und ökologisch motivierte Abwertung der eigenen Lebensstile den unmittelbaren Erfahrungshorizont prägen. Ändern lässt sich das nur, sofern sozialstaatliche Leistungen statt, wie jetzt auf den bloßen Erwerb künftig auf „Arbeit als lebensspendenden Prozess“ bezogen werden. Auch (unbezahlte) Sorgetätigkeiten und die Arbeit an der Demokratie sind förderungswürdige Leistungen, zumal, wenn sie von jenen ausgeübt werden, denen der Zugang zu regulärer Erwerbsarbeit versperrt bleibt. Dies angemessen zu berücksichtigen, würde Druck von den Schwächsten der Gesellschaft nehmen und so die zersetzende Dynamik symbolischer Distinktionskämpfe, die den Gegner primär im sozialen Nahbereich suchen, zumindest abschwächen.
Auf der Mesoebene könnte dazu beitragen, dass das Wechselspiel von positiver und negativer Privilegierung, das Abschottung und soziale Schließung bewirkt, durch institutionelle Anreize für sinnvolle – weil ökologisch und sozial nachhaltige – Arbeit grundlegend korrigiert wird. Statusgarantien für Beschäftigte, die in den Karbonbranchen ihre Arbeitsplätze verlieren, gehören ebenso zu den erforderlichen Maßnahmen wie die materielle und kulturelle Aufwertung aller sorgenden, pflegenden, bildenden und erziehenden Tätigkeiten, die in der Gegenwart vorwiegend von Frauen und immer häufiger von migrantischen Arbeitskräften ausgeübt werden. Nicht minder wichtig ist in diesem Zusammenhang ein „barrierefreies“ Bildungs- und Ausbildungswesen. Es hätte den Zugang zu den privilegierten beruflichen Positionen der Lohnabhängigen Mittelklasse wie auch der Neuen Arbeiterklasse für eine Arbeiterschaft zu öffnen, der solche Möglichkeiten gegenwärtig verwehrt bleiben. Eine Karenzzeit nach österreichischem Vorbild, die zuvor Berufstätigen den Einstieg in ein Studium auf der Grundlage von mindestens 60 Prozent des letzten Nettolohns im ersten Studienjahr garantiert, wäre hier ein erster wichtiger Schritt.
Das alles ist nur finanzierbar, wenn Wohlhabende gemäß ihres ökologischen und Klimafußabdrucks an den Kosten der sozial-ökologischen Transformation beteiligt werden. Grundsätzlich hat für die Makroebene der Verteilung zu gelten: Je größer der Klimafußabdruck, desto umfangreicher muss auch der Beitrag sein, der einen ökologischen Sozialstaat finanziert. Nur so lässt sich korrigieren, was Forschungen zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und klimaschädlichen Emissionen belegen – der unverhältnismäßig hohe Emissionsausstoß kapitalistischer Eliten, der vor allem zulasten der ärmeren Bevölkerung geht.
Allerdings geht es nicht allein um die Kosten der Transformation. Der Ausschluss der eigentlichen Produzent*innen von Produktionsentscheidungen bewirkt relative Gleichgültigkeit der Arbeitenden gegenüber den von ihnen erzeugten Gütern. Die Trennung von Produktion und Gewissen ist die eine wesentliche Ursache für „Apokalypsenblindheit“ (Anders 2018 [1956]: 311). Dies gilt es zu verändern, wenn die Vision eines ökologischen Sozialstaats schnelle Beine bekommen soll. Dazu muss politisch ermöglicht werden, was kritische Betriebsräte, Gewerkschaftsaktive und Teile der Klimabewegungen einklagen: eine radikale Demokratisierung eigentumsbasierter Entscheidungsmacht.
In einem ökologischen Sozialstaat hätte sich Wirtschaftsdemokratie auf die potenzielle Weigerung der Arbeitenden zu gründen, Produkte, die ökologisch unverantwortbare Effekte nach sich ziehen, überhaupt erst herzustellen. Wie sich dergleichen praktisch bewerkstelligen ließe, hat Luka Mesec unlängst in einem bemerkenswerten Interview verdeutlicht. Der slowenische Arbeitsminister plädiert für Belegschaftseigentum und Beschäftigtenkontrolle. Dabei bezieht er sich positiv auf den Employee Stock Ownership Plan (ESOP) in den USA. Dort existieren bereits 7.000 Betriebe mit etwa 30 Millionen Beschäftigten, in denen die Belegschaften bereits die Kontrolle übernommen haben. In der EU finden jährlich bis zu 600.000 Betriebe keine Nachfolger*innen, auch hier könnte ein solches Modell greifen (Mesec 2023).
Das Prinzip des Belegschaftseigentums ließe sich auch auf Großunternehmen ausweiten. Subventionen, die in die Privatwirtschaft fließen, könnten in Belegschaftseigentum überführt werden, das gesellschaftliche Fonds verwalten. Ein solcher Ansatz würde jenem Plan ähneln, den der Ökonom Rudolf Meidner seinerzeit für die schwedischen Gewerkschaften entworfen hatte (Hedborg/Meidner 1984; Erixson 2011). Die Stärkung des öffentlichen Sektors, etwa durch Rückführung von Post, Kliniken, Telekommunikation etc. in, wenn nicht staatlichen, so gemeinschaftlich-genossenschaftlichen Besitz, wäre ein weiterer Ansatzpunkt, um kollektive Entscheidungen zugunsten sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit zu befördern.
5. Fazit
Halten wir fest: Es hat schon immer einen Unterschied gemacht, ob man Hitze in der Villa eines Großgrundbesitzers oder als Baumwollpflückerin auf einer Plantage überstehen muss. Dieses Missverhältnis zu korrigieren, ist in der Gegenwart allerdings von existenzieller Bedeutung. Ein ökologischer Sozialstaat, der wirtschaftliche Entscheidungsmacht demokratisiert, könnte einen wichtigen Beitrag leisten, um ökologische und soziale Nachhaltigkeitsziele in eine für gesellschaftliche Mehrheiten akzeptable Balance zu bringen. Weil er dies für transnationale Güter und Produktionsketten zu leisten hätte, müsste er zugleich ein Inter-Nationalstaat sein (Piketty 2022: 256ff.). In seinem Bemühen, die planetarischen „Bewohnbarkeitsbedingungen“ (Latour/Schultz 2022: 26) zu bewahren, würde er ein konservatives Grundmotiv aufnehmen. Zugleich träte er das Erbe libertärer Ideen an, denn wirklich frei sein können wir nur, sofern wir Verantwortung „auch für das übernehmen, was wir erzeugen“ (Anders 1982: 369). Ein ökologischer Sozialstaat würde die Trennung von Produktion und Gewissen nicht gänzlich beseitigen. Die schrittweise Verwirklichung dieser Vision wäre jedoch ein Meilenstein auf einem Weg, der die zerstörerische „Apokalypsenblindheit“ endlich zu überwinden erlaubt.
Prof. Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU). Letzte Veröffentlichung: Rethinking Socialism. Compass for a Sustainability Revolution, Cheltenham: Edward Elgar 2024.
Oskar Butting ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum Digitale Transformation Thüringen (ZeTT) an der FSU Jena. Dort ist er für die Konzeption und Auswertung quantitativer Datensätze verantwortlich.
Nora Fülöp promoviert als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der FSU Jena. Sie forscht zum Autoritarismus in Ungarn. Außerdem ist sie im ZeTT tätig.
Anna Mehlis promoviert als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie. Zudem engagiert sie sich in einem Forschungsvorhaben, das sich mit dem Markthub einer grünen Wasserstoffwirtschaft beschäftigt.
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Anmerkungen:
i An der Konzeption und Datenerhebung waren Jasmin Bobka und Anna Mehlis federführend beteiligt.
ii Federführend beteiligt waren Steffen Liebig und Kim Lucht. Die Erhebung wurde u.a. von Johanna Sittel und einer studentischen Lehrforschung unterstützt. Als assoziierte Wissenschaftlerin war Nicole Gonzalez/Universität Syracuse beteiligt.