Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 245/246: Klima(un)gerechtigkeit

Rezension: Ungehorsam in Gesell­schaft und Verwaltung

Akbarian, Samira: Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation, Mohr Siebeck 2023, 315 S., 84,00 €.
Koepsell, Philipp: Exekutiver Ungehorsam und rechtsstaatliche Resilienz, Mohr Siebeck 2023, 360 S., 89,00 €.

Im Vorfeld des jüngst in der Essener Grugahalle abgehaltenen Parteitages des AfD war die Stadt Essen darum bemüht, sich des bereits abgeschlossenen Mietvertrages mit der AfD zu entledigen. Zuletzt sollte die städtische Messe den Mietvertrag kündigen, wenn die AfD keine strafbewehrte Selbstverpflichtung abgeben würde, strafbare Handlungen zu unterlassen. Dabei ging es insbesondere um strafbare Äußerungen, wie das Skandieren von SA-Paroleni.

Mit dieser Vorstellung ist Essen vor dem VG Gelsenkirchen gescheitert (VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 14.06.2024 – 15 L 888/24 = openJur 2024, 5470). Die Stadt hat sich in der Folge dem Gerichtsurteil gebeugtii. Der Fall erinnert an die berühmte Episode in Wetzlar 2017/2018. Dort hatte die Stadt Wetzlar sich geweigert, der NPD ihre Stadthalle zur Verfügung zu stellen. Wetzlar ließ sich damals durch ein rechtskräftiges Urteil, Zwangsgeldandrohung und -festsetzung sowie eine Eilanordnung des Bundesverfassungsgerichts nicht zur rechtmäßigen Handlung bewegen. Betrachtet man die Fälle gemeinsam, wird klar: Wie Organe im Rechtsstaat auf Ungehorsam der vollzugsverantwortlichen Organe reagieren, ist brisant und wirft Fragen auf. Diesen stellt sich Philipp Koepsell in seiner Arbeit Exekutiver Ungehorsam und rechtsstaatliche Resilienz.

Aber auch eine andere Facette des Ungehorsams wurde jüngst intensiv diskutiert. So berufen sich etwa unterschiedliche aktivistische Strömungen auf die Idee des zivilen Ungehorsams. Auch von offizieller Seite wird in Bezug auf Teile der als Klimaproteste bezeichneten Phänomene um die Deutungshoheit in Sachen ziviler Ungehorsam gerungen. Im jüngsten Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz für das Jahr 2023 heißt es etwa auf Seite 162f.:

„Zu den von Linksextremisten im Rahmen der Klimaproteste genutzten Aktionsformen zählen unter anderem Blockaden und Besetzungen zum Nachteil von Einrichtungen und Unternehmen der Energieinfrastruktur, die als ‚ziviler Ungehorsam‘ bezeichnet werden. Durch die Verwendung dieses Begriffs wird der vorsätzlich ausgeübte, teils auch gewaltsame Widerstand gegen das staatliche Gewaltmonopol eines demokratischen Rechtsstaats in eine Reihe mit Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen gestellt, die „Ziviler Ungehorsam“ und die Etablierung radikalerer Protestformen gewaltlos gegen Unrechtssysteme protestieren. Tatsächlich gibt es eine solche strafrechtliche Rechtfertigung unter Berufung auf einen ‚zivilen Ungehorsam‘ infolge eines Klimanotstandes nicht.“

Der Bericht verweist hiernach auf das OVG NRW (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.01.2023 – 5 B 14/23). Dessen Urteil sowie umso mehr das zitierte Urteil des OLG Celle (OLG Celle, Beschluss vom 29.07.2022 – 2 Ss 91/22) illustrieren die Herausforderung, der sich Gerichte in einer Vielzahl von Fällen mit aktivistischem Bezug gegenübersehen. Was ist ziviler Ungehorsam? Ist die Beantwortung dieser Frage rechtlich relevant? Gerichte sind in der Regel nicht um philosophische Erörterungen bemüht, sondern entscheiden strittige Tatsachen- und Rechtsfragen. Im Rechtsstaat tun sie das nicht aus persönlichen Präferenzen. Stattdessen bedienen sie sich des Rechtes oder wenden dieses an. Daraus kann sich die Frage ergeben, was Recht ist. Das soll hier nicht vertieft werden. Gerichte haben bei dieser Frage nach den Quellen des Rechts regelmäßig keine Schwierigkeiten. Man könnte hilfsweise annehmen, dass das Recht für sie die Summe der verbindlichen, sprich verfassungsgemäß zustande gekommenen Rechtstexte ist. Umfasst wäre dabei der anerkannte Umgang mit den Texten, verbrieft durch die Rechtswissenschaft und die Reihe bereits erfolgter Rechtsanwendungen. Die letzteren beiden prägen das deutsche Format der „Rechtsdogmatik“. Dies ist der permanent fortentwickelte Kanon der anerkannten Methoden der Rechtsanwendung und -findung im Umgang mit Sachverhalt und Rechtsquelle. Gerichte fremdeln also selbstverständlich mit einem noch so ernsthaft betriebenem zivilem Ungehorsam, wenn die anerkannte Dogmatik und die Rechtstexte keine Schnittstelle aufdrängen, durch die das Gedankengut der Protestierenden rechtliches Gewicht im System Recht – nach dessen eigenen Maßstäben von Offenheit und Geschlossenheit – erhielte. Bereits, ob das so ist, ist wohl strittig. Darüber hinaus unterliegt auch die Dogmatik fortwährenden Änderungen und reagiert auf Defizite, legitimierte Ansprüche etc. Auch, ob die Fälle von Protest, die das Etikett zivilen Ungehorsams beanspruchen, eine solche dogmatische Reaktion einfordern und dies legitim ist, ist strittig. Zudem ist fraglich, wie eine solche Änderung aussehen kann. Änderungen müssen stets anschlussfähig bleiben, Rechenschaft über ihre Kontinuität mit der bereits existierenden Dogmatik ablegen können.

Hier kommt Samira Akbarians Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation ins Spiel. Hier werden neben Gefahren die Potenziale zivilen Ungehorsams für den konstituierten Rechtsstaat aufgezeigt und Schritte zur Vernetzung mit der existierenden Dogmatik unternommen. Ihr Buch sowie dasjenige Koepsells sind als rechtswissenschaftliche Dissertationen preisgekrönt. Die Bücher sind zudem „Nachbarn“ (Band 62 und 63) in der renommierten Reihe Studien und Beiträge zum Öffentlichen Recht des Mohr Siebeck Verlages. Nicht geleistet werden kann in dieser Sammelbesprechung eine Vermessung der wissenschaftlichen Qualität, eine Überprüfung aller Verweise oder Ähnliches. Stattdessen werden skizzenhaft Eindrücke zum Leseerlebnis, zu Gemeinsamkeiten, Unterschieden und möglichen Adressaten der Werke geliefert. Die Perspektive ist die eines Studenten der Rechtswissenschaften, mit bürgerrechtlichem Interesse und Begeisterung für das, was oft als juristische Grundlagendisziplinen bezeichnet wird.

Akbarians Werk knüpft an die Debatte um zivilen Ungehorsam an und arbeitet hier in auffälliger Klarheit und Dichte einen tradierten Kanon dieses Themenfeldes ab. So werden etwa Thoreau, Rawls, Dworkin, Arendt und Habermas aufgegriffen. Während in der allgemeinen Debatte teils mit Thoreau als Keimzelle der Idee des zivilen Ungehorsams angesetzt wird, hakt Akbarian tiefer nach. Einerseits erfährt Thoreau bei ihr nicht die fast mystische Überhöhung wie andernorts, andererseits demonstriert sie, wie sich Motive aus den Debatten bereits auf Diskussionen griechisch-antiker Philosophen zurückführen lassen. Der Dialog, in dem sie ihre Thesen entwickelt, wird angereichert mit weiteren, progressiven Stimmen, etwa wenn aus den „radikalen“ Demokratietheorien Mouffe und Laclau aufgegriffen werden. Akbarian verhält sich ohne Scheu zu einer Vielzahl von Werken. Damit und auch durch den wiederkehrenden Bezug auf aktuelles Zeitgeschehen und Urteile unterschiedlicher Gerichte ist das Buch im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten salopp gesagt ein echter page-turner.

Teils wird der Angelpunkt der Idee des zivilen Ungehorsams darin gesehen, dass er für eine sich als liberal verstehende Gesellschaft eine diffuse Anziehung ausübt, die es zu fassen gilt. Akbarian gibt sich damit nicht zufrieden. Sie führt vor Augen, wie Paradoxien des liberalen Rechtsstaats und des zivilen Ungehorsams parallel verlaufen. Daraus demonstriert sie die wechselseitige Bedingtheit und entwickelt eine These des zivilen Ungehorsams als Verfassungsinterpretation, die sich in Begründung und Anknüpfung an das Grundgesetz von ihren Verwandten (Dworkin, Häberle) unterscheidet.

Akbarian meint, dass zivilem Ungehorsam umso mehr Potenzial innewohnt, je mehr disruptives bis revolutionäres Moment er in Anspruch nimmt, wobei er die verfasste Ordnung herausfordert. Proportional steige auch die Gefahr für Demokratie und die verfasste Ordnung. Gleichzeitig kann der zivile Ungehorsam umso mehr Legitimität und Akzeptanz erhoffen, je mehr er an die verfasste oder anerkannte Ordnung anknüpft. Diese Spannung bezeichnet Akbarian als Paradoxie zivilen Ungehorsams.

Akbarian typisiert mögliche und vertretene Auffassungen zivilen Ungehorsams und erläutert, wie ziviler Ungehorsam jeweils als Rechts- beziehungsweise Verfassungsinterpretation aufgefasst werden kann.

Bei einer Auffassung, die das ethische Element in den Vordergrund stellt und von ihr als präfigurativ bezeichnet wird, werde durch Ungehorsam eine zukünftige potenzielle normative Ordnung gedacht und gelebt, gegen den Konflikt mit der staatlichen Ordnung an. Diese „produktive“ Verfassungsinterpretation sei auf die Verfassung als Fokuspunkt und Möglichkeitsbedingung angewiesen. Die Verfassung wiederum sei auf die so kreierten Bedeutungsüberschüsse in ihrem Geltungs- und Integritätsanspruch angewiesen.

Auffassungen, die das rechtsstaatliche Element betonten und somit als integrativ bezeichnet werden können, anerkennen die Verfassung und beziehen sich darauf. Sie seien insofern interpretativ, als dass eher, im Konflikt mit Rechtsprechung, Verwaltung und Gesetzen die Verfassungsordnung – insbesondere in Gestalt der Verfassungsgerichte – angefragt wird, die wahrgenommene Lücke zwischen fast-gerechter Ordnung und gerechter Ordnung im vorgeschlagenen Sinn der Verfassung zu schließen.

Eine Sichtweise des zivilen Ungehorsams, bei der das Politische dominiert, kann als disruptiv bezeichnet werden. Die Auffassung als Verfassungsinterpretation liegt dabei nicht auf der Hand. Akbarian gibt hierfür radikaldemokratischen Theorien einen eigenen „Spin“. Sie betrachtet die radikaldemokratische Dekonstruktion als Teil eines weit verstandenen Interpretationsvorgangs. Die Protestierenden könnten somit einen Zusammenhang zwischen Verfassungsinhalt und Protestform herstellen. Radikaldemokratisch müsse dann die Verfassung nicht unbedingt nur marginalisiert werden. Indem ihre Fehlbarkeit und Änderbarkeit herausgefordert werde, werde der demokratische Konflikt über den Rahmen der Verfassung möglich. Das hiermit einhergehende Risiko, auch die Frage was „zivil“ dann noch heißen kann, erörtert Akbarian ebenfalls.

Somit unternimmt sie einen Schritt in die Richtung, zivilen Ungehorsam an die anerkannte Rechtsdogmatik anzuschließen. Zudem zeigt sie im obigen Sinn auf, warum die Rechtsdogmatik diese Anstrengung überhaupt unternehmen sollte oder muss.

Koepsells Arbeit mutet zunächst ganz anders an. Er prägt den Begriff exekutiver Ungehorsam als Nichtbefolgen von letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen durch die Verwaltung. Es wird kurz erörtert, wie weit die rechtliche Pflicht der Verwaltung, Gerichtsentscheidungen zu befolgen, reicht. Die Untersuchung bleibt dabei im traditionellen Sinne rechtspositivistisch. Diese Verpflichtung der Verwaltung wird als rechtliche Verpflichtung aufgefasst und als solche behandelt. In der Folge befasst sich die Arbeit hauptsächlich damit, welche rechtlichen Antworten der Rechtsstaat auf die Nichtbefolgung der rechtlichen Verpflichtung geben kann, um den Gehorsam der Verwaltung letztlich noch herbeizuführen. Dabei werden insbesondere die Möglichkeiten der Verwaltungsgerichtsordnung – einschließlich derer, die sich durch den Verweis auf die Zivilprozessordnung ergeben – ausführlich erörtert und in im Rechtsvergleich mit den USA, Italien, Frankreich und Österreich einem Effektivitätstest unterzogen. Somit wird die Resilienz des Rechtsstaates an dieser Flanke als dessen Potenz eingeordnet, Gehorsam herbeizuführen. Im tradierten Sinne außerrechtliche Instrumente wie akzeptanzfördernde Strategien der Gerichte im Erkenntnisverfahren werden ebenfalls erörtert. Durch die gemeinsame Lektüre mit Akbarians Werk fällt sofort auf: Bei Koepsell ist der Ungehorsam verständlicherweise ohne weitere Erörterung ein Problem und unerwünscht. Ungehorsam als Begriff taucht mit einer delegitimierenden Tendenz auf. Das „Obsiegen“ des Rechtsstaates entspricht dann folgerichtig dem Obsiegen des formellen Rechtsstaates als Geflecht gesetzesmäßig konkretisierter und verfassungsmäßig legitimierter Prozeduren. Nach der Lektüre von Akbarians Werk wünscht man sich von Koepsell beinahe eine Durchdeklination des Falles, indem die Vereinbarkeit eines Urteils mit Vorstellungen materieller Rechtsstaatlichkeit ernsthaft zur Debatte steht und sich die Verwaltung, analog zur Figur des zivilen Ungehorsams, aus ebendiesem Grund den Vollzug ernsthaft verweigert. Im engeren Sinne rechtlich nähert sich Koepsell dem an, wenn er genau aufzeigt, dass die rechtliche Verpflichtung der Verwaltung, Gerichtsurteile zu befolgen, aus Sicht des Rechts notwendig auch dann gelten muss, wenn die Verwaltung von der evidenten Verfassungswidrigkeit des Urteils ausgeht. Somit täte man Koepsells Arbeit wohl unrecht, wenn man es ihr ankreiden würde, dass Szenarien extremster Zerrüttung zwischen Judikative und Exekutive nicht letztlich beantwortet werden können. Stattdessen könnte man genau hier den Unterschied der Arbeiten sehen: Akbarian setzt dort an, wo dem demokratischen Rechtsstaat die Nichterfüllung seiner eigenen Ansprüche vor Augen geführt oder vorgeworfen wird. Sie macht einen Vorschlag, wie in diesem Moment Spreu von Weizen getrennt werden kann, sodass weitere Schritte hin zur Entfaltung der Verfassung in der Wirklichkeit unternommen werden können. Koepsell hingegen zeigt auf, dass ein gewisses Maß an Renitenz und innerer Spannung den konstituierten Rechtsstaat entgegen landläufiger Behauptungen nicht sofort zu Fall bringt, stattdessen auch in dessen „Normalbetrieb“ einige Mittel zur Verfügung stehen, die praktisch noch längst nicht vollständig ausgeschöpft werden. Insoweit haben die Arbeiten einige Berührungspunkte, stehen teils auch inkommensurabel nebeneinander und teilen dann keinen diskursiven Raum. Dem Leseerleben nach teilen sie womöglich ein Grundgefühl. Mit dem Gehorsam ist es in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine komplizierte Sache. Dessen blinde und bedingungslose Einforderung scheint nicht der Weisheit letzter Schluss. Anderseits wird es auch ohne Gehorsam und gegebenenfalls unangenehme Instrumente, um diesen herbeizuführen, für den freiheitlichen Rechtsstaat teils kompliziert. Beide Einsichten regen in als Multikrise bezeichneten Zeiten zum Nachdenken an. Abschließend bleibt festzuhalten, dass Akbarians Werk zwar eine anspruchsvolle wissenschaftliche Lektüre bleibt, aber Leser*innen unterschiedlicher Disziplinen, insbesondere vor dem Hintergrund des gemeinsamen Diskurses um zivilen Ungehorsam, offensteht. Koepsells Werk hingegen scheint eher eine Lektüre für Jurist*innen oder Verwaltungsfachleute.

Joschka Franz-Gerstein

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