Vom „sozialverträglichen Frühableben“ – Der Profit greift nach dem Sozialen
Vor circa 25 Jahren befasste ich mich erstmals mit den Auswirkungen einer Vermarktung des Sozialen im Zuge neoliberaler Umbaustrategien (Grams 1998; 2000). Zwischenzeitlich hat der Markt die Care-Arbeit, die Soziale Arbeit und alle Tätigkeiten erfasst, die am pflegenden, betreuenden oder bildenden Dialog mit Menschen beteiligt sind.
In diesem Aufsatz verlasse ich den Pfad der fein ziselierten philosophischen Debatten um den Begriff des Utilitarismus und reduziere ihn auf seinen Ursprung als Nützlichkeitsstandpunkt, wie er auch schon in der antiken Ethikdebatte im Eudämonismus vertreten wurde. Ich gehe einem Utilitarismus nach, der diesen Prozess in Geschichte und Gegenwart befeuert und den Konsequenzen, die daraus für die aktuelle gesellschaftliche und die psychische und soziale Situation der Menschen entstehen. Der hier verwendete Utilitarismusbegriff fußt auf der Kritik von Karl Marx an Jeremy Bentham, aber auch an Thomas Hobbes und John Locke in der Deutschen Ideologie, „daß innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft alle Verhältnisse unter das Eine abstrakte Geld- und Schacherverhältnis praktisch subsumiert sind“ (Marx/Engels [1845/46] 1973: 394).
„Sozialverträgliches Frühableben“
Das Unwort des Jahres 1998 war „Sozialverträgliches Frühableben“. Anlässlich der damaligen Gesundheitsreform im ersten Kabinett Schröder führten Einsparungen zu Leistungs- und Qualitätskürzungen im Gesundheitswesen. Der Bremer Arzt und Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar verwendete diesen Begriff in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk in Bezug auf die Planungen der damaligen Bundesregierung zu Kostenbegrenzungen im Bereich des Sozialen. Vilmar sagte in diesem Interview folgenden Satz: „Dann müssen die Patienten mit weniger Leistung zufrieden sein, und wir müssen insgesamt überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen“ (Vilmar 1999).
Es blieb ungeklärt, ob der Ärztekammerpräsident diesen Satz im Sinne einer kritischen Reflexion zynisch formulierte oder ob er Aspekte seines Menschenbildes widerspiegelte. Die diesem Satz innewohnende Kosten-Nutzen-Rechnung, seine utilitaristische Haltung, hat indes eine langanhaltende Traditionslinie. Sie reicht von Binding und Hoche über den Massenmord an vermeintlich unwertem Leben während des Hitlerfaschismus, den australischen Bioethiker Peter Singer bis zu dem Neofaschisten und AfD-Vorsitzenden Thüringens Björn Höcke.
Der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding legten im Jahr 1920 ein Werk mit dem entsetzlichen Titel Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form vor, in dem sie unmissverständlich zur Ermordung behinderter Menschen aufriefen, „weil dies eine Befreiung von einer Last sei, die […] nicht den kleinsten Nutzen stiftet“ (Binding/Hoche 1920: 28). Wenige Jahre später realisierten die deutschen Faschisten den Massenmord an behinderten und kranken Menschen (Levi 2013).
Eine Renaissance erlebte die Haltung der ökonomisch begründeten Tötungsaufrufe in den späten 1970er und 1980er Jahren mit den Publikationen des Bioethikers Peter Singer, der dazu aufrief, das Glück einer Familie mit einem behinderten Kind zu steigern, indem das Kind getötet wird. (Singer 1984) Der AfD-Vorsitzende in Thüringen setzt diese mörderische Kontinuitätslinie aktuell fort, wenn er in einem Interview davon spricht, dass man sich von einigen Volksteilen, die zu schwach sind, wird trennen müssen (Petter 2020: 17:43 Uhr).
Was 100 Jahre zuvor von Bindung und Hoche mit großer Brutalität formuliert und von den Nazis realisiert wurde, formuliert Höcke (noch) versteckt. Doch es bleibt die Frage, von welchen Volksteilen wir uns trennen müssen und welche Methoden genutzt werden sollen, um diese Teile des Volkes „abzutrennen“. Sind es behinderte Menschen, deren Existenz ökonomisch nicht vertretbar sei? Sind es jene, deren „Frühableben“ als „sozial verträglich“ beschrieben wird, weil sich ihr früher Tod „rechnet“? Dem entspricht die Aussage des ehemaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und späteren AfD-Europaabgeordneten Hans-Olaf Henkel, als er im Jahre 1999 die Computermesse CEBIT in Hannover mit den Worten eröffnete: „Wir müssen endlich aufhören, unser Geld in den Konsum der Gegenwart, zum Beispiel in populäre Sozialprogramme zu stecken – zulasten der Zukunft unserer Kinder“ (Henkel 1999). Henkel formulierte diesen Satz zum Zeitpunkt des Versuchs des Kabinetts Schröder, neoliberale Strukturen mittels der Agenda 2010 analog zu New Labour auch in Deutschland zu etablieren. Die Computermesse in Hannover war eine politische Plattform, die der Verbreitung neoliberaler Positionen ausgesprochen dienlich war. Ein Vierteljahrhundert später sind derartige Positionen bereits weitverbreitet und bleiben vielfach unwidersprochen. Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts IFO, begründete jüngst in einer populären Talkshow unwidersprochen den Abbau sozialer Rechte zugunsten der Rüstung: „Kanonen und Butter, es wäre schön, wenn das ginge, aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht“ (Shaller 2024). Die Nähe zur Sprache des Unmenschen sei hier vernachlässigt gegenüber seiner Propaganda für den Sozialabbau. In derselben Sendung offerierte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), Sozialleistungen einzufrieren. Den vorsichtigen Protesten, die sich gegen die neoliberale Hegemonie des Sozialabbaus und der Ausgrenzungsversuche gegenüber behinderten Menschen auftun, wird gerade von Seiten konservativer karitativer Kreise begegnet. So widmet sich Georg Cremer, der amtierende Generalsekretär der Caritas Deutschland, in seinem neuen Buch diesen Protesten und versucht, mit Statistiken und Rechenbeispielen den vermeintlichen Populist*innen den Wind aus den Segeln zu nehmen, um dann auf sein zentrales Thema zu kommen: den Sozialstaat. Dieser sei nämlich viel besser, als die meisten meinen, wozu durchaus auch Weichenstellungen der vielgescholtenen Großen Koalition beigetragen hätten. So verfüge Deutschland über ein Gesundheitswesen mit niedrigen Zugangshürden, Mütterrente und Rente mit 63, einen Rechtsanspruch auf Kitabetreuung, ein auf Selbstbestimmung und Teilhabe ausgerichtetes Behindertenrecht, Baukindergeld zur Wohneigentumsförderung und vieles mehr. (Cremer 2018) Der Autor ignoriert jegliche Befunde, so den verifizierbaren Zusammenhang zwischen der Lebenserwartung der Menschen und ihrem sozialen Status – gemessen über Bildungsabschlüsse, Berufsstatus oder das Einkommen (Mackenbach 2006). Für Deutschland weisen die Analysen auf der Basis des Sozio-oekonomischen Panels je nach Höhe des Einkommens deutliche Unterschiede in der Lebenserwartung aus. So werden armutsgefährdete Männer durchschnittlich nur 70 Jahre und Frauen 77 Jahre alt. Im Gegensatz dazu leben Männer und Frauen mit hohen Einkommen fast zehn Jahre länger (81 und 85 Jahre). Die Ergebnisse weisen zudem nach, dass der in Gesundheit verbrachte Teil des Lebens abhängig vom Einkommen deutlich variiert (Lampert et al. 2007).
Menschen mit Behinderungen sind häufiger und in eklatanter Weise von Armut betroffen (Bender 2013), besitzt ihre Arbeitskraft doch einen geringeren Marktwert. Ob dessen werden viele von ihnen von gesellschaftlicher Arbeit isoliert und damit einem Selektionsprozess unterworfen. Die UN-Behindertenrechtskonvention findet in den Betrieben aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen keine Anwendung. Hier bestimmt nach wie vor der Defekt eines Menschen seine Teilhabe – nicht das ihm durch die UN-Behindertenrechtskonvention verbriefte Recht auf seine Teilhabe (Sierck 2023). „Die antizipierte ‚Arbeitskraft minderer Güte‘ ebenso wie eine der Warenästhetik in der Darstellung des eigenen Körpers und des Konsums entsprechende Ästhetik des Hässlichen sind nach wie vor ebenso Grundlage des Ableism wie die Objektivierung der sozialen Isolation auf individualisierte körperliche und psychische Ausdrucksformen“ (Jantzen 2018b: 7).
Das Primat des Ökonomischen
Der Ruf nach „sozialverträglichem Frühableben“ – die Verkürzung menschlichen Lebens durch Sparmaßnahmen in der Pflege, der Medizin und der Sozialen Arbeit insgesamt – hat sein Fundament in einem vornehmlich hedonistischem Utilitarismus (Marx/Engels [1845/46] 1973: 394), der auf der Ausbeutung von allem fußt, das Profit verspricht. „Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens“ (Marx/Engels [1867] 1973: 788). Bereits in der Homerischen Hymne wird der Gott Hermes als listiger Meisterdieb geschildert. Der Götterbote galt als Gott der Kaufleute und der Diebe zugleich. Der Profit bedarf der List und der steten Abwägung nach dem Nützlichkeitsprinzip, wobei nützlich ist, was Profit verspricht. In dieser Logik sind die Maximen Nächstenliebe, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Empathie und Fürsorge lässlich.
„Weiß ich, was ein Mensch ist!
Weiß ich, wer das weiß!
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist
Ich kenne nur seinen Preis.“ (Brecht 1973: 205)
Jene, die im Produktionsprozess den geringsten Profit zu erwirtschaften in der Lage sind, stellen damit Arbeitskraft „minderer Güte“ dar (Jantzen 1974). Ist ihre Arbeitskraft nicht oder nur mangelhaft verwertbar, fallen sie der Solidargemeinschaft „zur Last“, was es im Sinne eines rein an ökonomischer Nutzenkalkulation orientiertem Verständnis von Utilitarismus zu vermeiden gilt. In der aktuellen historischen Situation aber werden die Institutionen der Solidargemeinschaft, die sich der Betreuung, Pflege und Fürsorge dieser Menschengruppen angenommen haben, ebenfalls den Gesetzen des Marktes unterworfen. Sie werden geschleift. Diese Art des Ökonomischen hat die Solidargemeinschaft entsolidarisiert und einen gesellschaftlichen Bereich okkupiert, dessen Tätigkeit bislang dort einsetzte, wo die Auswirkungen des Ökonomischen auf die privaten Lebensverhältnisse der Menschen nicht mehr akzeptiert werden können und es der unmittelbaren Hilfe bedarf. Es ist dies notwendig eine nicht am Profit und stattdessen am Subjekt orientierte Hilfe, die nicht den Marktgesetzen unterliegen darf.
Trotz seiner utilitaristischen Verortung warnte bereits John Stuart Mill vor einer „Vermarktung“ des Sozialen. Im letzten Kapitel seines 1848 erschienenen Werkes Principles of Political Economy with Some of Their Applications to Social Philosophy plädiert er für eine staatliche Armenpflege. Implizit begründet er dies damit, dass die Versorgung Bedürftiger anderen Gesetzen unterliege als die Ware-Tausch-Beziehung oder die geldwerte Sachleistung. Die Versorgung Bedürftiger und die Bildung der Jugend müsse staatlich reguliert vonstattengehen, weil nur aufgeklärte Bürger*innen auch Garant*innen für den Fortschritt einer Gesellschaft sein könnten. Zudem ermöglichen eine bessere Bildung und Versorgung auch jenen, die nicht qua Geburt ökonomisch begünstigt seien, eigenverantwortliches Handeln. (Mill [1848] 1991) In der frühen Phase der Durchsetzung neoliberaler Modelle durch die Regierung Schröder in Deutschland und New Labour in Großbritannien warnten politisch Bedachtere wie Lionel Jospin und Johannes Rau (1999) vor der brutalen Durchsetzung eines von ökonomischem Nützlichkeitsdenken durchdrungenen Menschenbildes. Trotz aller Warnungen und wider historischen Erfahrungen setzte sich in den vergangenen 30 Jahren auch im Bereich der Sozialen Arbeit die Dominanz der Ideologie des Marktes durch. Seine Effizienz wird nicht hinterfragt. „Daß der Markt in Wirklichkeit von Eigentümern und Spekulanten kontrolliert wird, deren Aktivitäten sich keineswegs mit […] einem unabhängigen Maßstab des Wohlbefindens decken; und daß seine unkontrollierten Auswirkungen […] eine Vergeudung menschlicher Kräfte und soziale ebenso wie moralische Verwüstungen in kontinentalem Maßstab hervorgerufen haben […]” (Birnbaum 1997: 1447), findet in den Diskurs über eine sich rechnende Soziale Arbeit kaum mehr Eingang.
Das Mantra von der Überlegenheit des Marktes, der Deregulierung genannten Entstaatlichung und damit Entrechtung, scheint hegemonial geworden zu sein. Sie hat auch vor der Versorgung mit Dienstleistungen der Kultur, der Bildung und Erziehung und der Sozialen Arbeit nicht Halt gemacht (vgl. Negt 1997: 20f.; Grams 2023). In der Öffentlichkeit wird dies begünstigt durch häufig nicht ausreichende öffentliche Dienstleistungen – eine Folge neoliberaler Entstaatlichungspolitik –, die den Glauben bestärken, es sei besser, öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren. Neben den auf neoliberale Positionen Eingeschworene hat hier die europäische Sozialdemokratie seit den 1990er Jahren eine Vorreiterrolle übernommen. Eine der ersten Amtshandlungen der damaligen Labour-Regierung war der Versuch, in die britischen Schulen und die Soziale Arbeit „Kontrolle” und „Qualitätssicherung” einzuführen. Dieser Haltung entsprach das Abweichen Labours von alten sozialdemokratischen bildungspolitischen und pädagogischen Traditionen: Anerkannt wurde eine prinzipielle Ungleichheit der Menschen und ihr unterschiedliches Leistungsvermögen. In den Schulen habe dies seinen Niederschlag in Leistungsdifferenzierung zu finden – keine heterogen oder gar integrativ zusammengesetzte Lerngruppen mehr, sondern homogene Leistungsgruppen, die in schneller Zeitfolge effizient ihr Ziel erreichen sollen (vgl. Blair 1997: 6). Neben dieser Ökonomisierung der Bildung stand in der bildungspolitischen Diskussion von New Labour der Begriff der Deregulierung, vulgo: Privatisierung. Zeitgleich fand dies in Deutschland seine Entsprechung im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Oktober 1997. Hier wird zwar grundsätzlich die Möglichkeit der schulischen Integration behinderter Kinder in Deutschland bejaht, gleichzeitig jedoch betont, die Schulbehörden dürften behinderte Kinder an Sonderschulen verweisen, wenn die Integration nicht finanzierbar sei (BVerfG Beschluss des Ersten Senats vom 08.10.1997 – 1 BvR 9/97 -, Rn. 1-77). Das niedersächsische Kultusministerium ließ sogleich durch seine Staatssekretärin verlauten: „Unsere Regelungen im niedersächsischen Schulgesetz sind damit bestätigt worden” (Hannoversche Allgemeine Zeitung 1997: 1). Dort existiere das Recht auf Integration, es sei jedoch immer unter den „Finanzierungsvorbehalt gestellt”. Die Ungeheuerlichkeit dieses Vorganges liegt darin, dass Recht angesichts des Vorbehalts seiner Wirtschaftlichkeit zur Rechtlosigkeit führt. Das darin liegende Unheil hatte Hannah Arendt eindringlich beschrieben. Es ist neben dem Verlust der Rechte besonders „der Verlust einer Gemeinschaft, die gewillt und fähig ist, überhaupt Rechte […] zu garantieren“ (Arendt 1981: 159).
Der Zynismus des Ökonomischen weist auf die Aufspaltungs- und Ausgliederungstendenzen in den Gesellschaftsordnungen Westeuropas und Nordamerikas. Sie „bestimmen immer spürbarer das raue Klima, die Atmosphäre eines Kältestroms, der durch unsere Gesellschaft geht” (Negt 1997: 17). Der soziale Kältestrom gebiert den homo oeconomicus und ist zugleich sein Ergebnis. Wenn das Soziale selbst zur res oeconomica wird, ist es auch für sie „schwer, nicht den Lehren zu verfallen, die das Leben verabscheuen, die ihm jeden Wert absprechen. Aus der größten Gefahr für die Zukunft, in Jahrzehnten immer gefährlicher, ist man in eine unsäglich niederträchtige Gegenwart geraten“ (Canetti 1996: 110). Das ist eine Gegenwart, in der das Soziale zunehmend diffamiert wird und von einer Kontinuität des „Nützlichkeitserwägens“ gesprochen werden darf, die vom aktuellen Ruf nach dem Abbau sozialer Rechte bis zum Aufruf zur Tötung behinderter Menschen reicht.
Unsicherheit wird endemisch
Unter Bedingungen eines notwendig an der Maximierung des Profits orientierten Marktes ist das Verfolgen langfristiger (Lebens-)Ziele eingeschränkt, weil die Menschen im Rahmen einer auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie leben; Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen sind nur erschwert aufrechtzuerhalten, weil diese Institutionen ständig zerbrechen oder umgestaltet und neu strukturiert werden. Die Moral dieses Daseins könnte sein: Bleib unabhängig, in Bewegung, geh keine Bindung ein, bring keine Opfer! Das Ergebnis wäre eine Entsolidarisierung.
Hinzu gesellen sich Desorientierungsfaktoren: Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik führt zur Veränderung der Arbeitswelt. Das macht Flexibilität notwendig. „Flexibilität meint schließlich: ‚Freue dich, dein Wissen und Können ist veraltet, und niemand kann dir sagen, was du lernen mußt, damit du in Zukunft gebraucht wirst‘“ (Beck 1999: 415). So wird Unsicherheit endemisch. Sie steigt proportional mit den Desorientierungen im konkreten Leben. Das Ökonomische okkupiert auch jene gesellschaftlichen Bereiche, in denen die Auswirkungen des Ökonomischen auf die privaten Lebensverhältnisse der Menschen nicht mehr akzeptiert werden können und es der unmittelbaren – nun nicht mehr marktgesteuerten – Hilfe bedarf: Die Sozialarbeit als Profession hat es vornehmlich mit Menschen in schwierigen Lebenslagen zu tun, deren gesellschaftliches Gebraucht-Werden in Frage gestellt ist und die stärker als andere gesellschaftliche Gruppen unter Desorientierung leiden. Setzt nun auch die Sozialarbeit diese Menschen durch eine Orientierung der Profession am Markt weiteren Unsicherheiten aus? Sozialarbeit kooperiert mit Menschen im Schnittfeld von sozialen Problemen, Bildung und Sozialisation sowie Menschenrechten und Sozialen Rechten mit dem Ziel, die Handlungsfähigkeit der Menschen in ihrem sozialen Kontext zu stärken, zu erhalten oder wiederherzustellen. (Staub-Bernasconi 2019) Ihre originäre Aufgabe ist es, Partizipations- und Antizipationsmöglichkeiten zu erschließen, die nicht zuletzt durch den Markt verhindert oder verringert wurden.
Vom Marktgeschehen abhängige Menschen stehen vor dem Problem, von der Teilhabe und der Zukunftsorientierung partiell ausgeschlossen zu sein. Das ist für die subjektive Verarbeitung kein erkennbares Problem, solange der eigene Marktwert hoch ist. Mit dem Sinken des eigenen Marktwertes greifen jedoch Isolationsprobleme Raum. Damit schließen sich Partizipation und Antizipation in einem mehrfachen Sinne aus: Es wird die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt, ebenso die Möglichkeit, einen individuellen Lebensplan zu entwerfen und die Chance verbaut, kooperativ Widerstände gegen Störungen beim Bau des Lebensplanes zu entwickeln, indem die Aneignung und Erkenntnis des eigenen Daseins durch Verdinglichung erschwert oder verunmöglicht wird. Kulturelle und soziale Isolation verhindern Integration und Dialog. Der Mensch wird seiner Würde beraubt. Margalit diskutiert in seiner Politik der Würde, weshalb sich Menschen gedemütigt fühlen können und warum es notwendig ist, Menschen Achtung entgegenzubringen. Demütigung versteht er als den Ausschluss eines Menschen aus der menschlichen Gesellschaft und die Einschränkung von Kontrollfähigkeit. Die gegenwärtige ökonomische Situation und die ihr immanente Ungleichheit widerspreche der Notwendigkeit individuellen Seins im Sinne von Partizipation, Antizipation und Integration. (Margalit 1997) Das stellt die Soziale Arbeit und angrenzende Arbeitsfelder vor die Aufgabe, solidarisch mit den Betroffenen daran zu wirken, den Erhalt beziehungsweise die Wiederherstellung gemeinsamer Lebens- und Lernumfelder aller Menschen zu sichern. In der Umkehrung dieser Überlegung tritt nach Jantzen (1982: 280) soziale Benachteiligung und Behinderung dann „ein, wenn der Mensch von der Möglichkeit isoliert wird, sich das kulturelle Erbe anzueignen“. Auf diesem Verallgemeinerungsniveau geht es um alle Menschen, die von der Aneignung ausgeschlossen werden und um den damit verbundenen Verlust von Menschlichkeit nicht nur für die Gruppe der Ausgeschlossenen.
Es ist dieser Ausschluss der Menschlichkeit, der durch jene geschieht, die den gesellschaftlichen Ausschluss von Menschen betreiben, den Christa Wolf (2010) zu dem Übel erklärt, das alle Unbill der Welt verursacht (vgl. auch Arnold 2016).
Menschen unter das Verdikt ihrer Nützlichkeit zu stellen, gehört zu diesen Übeln, die den Ausschluss der Menschlichkeit durch den Ausschluss von Menschen herbeiführt (Steffens 2022; Grams 2022; El Domiaty et al. 2018).
Dieser Ausschluss – von der Kälte des Schleifens sozialer Rechte bis dahin, behinderten Menschen nach dem Leben zu trachten – ist auf vulgäre Weise wirtschaftlich bedingt. Er folgt ordinären Interessen. In dieser Logik gilt: „[…] Satan erscheint in allem, was sich der Obrigkeit nicht fügt oder qua Natur als satanische Schöpfung zu betrachten ist. Dies sind bei Luther ebenso körperlich missgestaltete Kinder, so genannte Wechselbälge, wie die Sexualität der Frauen, die aufständischen Bauern und natürlich, durch ihren Verrat an Jesus, die Juden und darüber hinaus jede Art des Denkens und Einforderns von gegen die Obrigkeit gerichteten Menschenrechten“ (Jantzen 2018a: 20).
Dr. Wolfram Grams ist Oberstudiendirektor a. D. Er hat Sozialpädagogik, Politik und Philosophie in Hildesheim, Hannover und Marburg studiert und bei Reinhard Kühnl mit einer Arbeit zur Kontinuität nazistischer Eliten im Bildungswesen von BRD und DDR promoviert. Er war langjährig als Lehrbeauftragter an Hochschulen, in der öffentlichen Verwaltung und in der gewerkschaftlichen Arbeit. Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zur Allgemeinen Pädagogik, Sozialarbeit, Schule und Bildungspolitik. Langjährige Tätigkeit als Direktor beruflicher Schulen mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik. Grams ist stellvertretender Vorsitzender der Humanistischen Union und Mitglied der Redaktion der vorgänge.
Literatur
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Arnold, Jörg 2016: Wohin sind wir unterwegs? Nachdenken über Christa Wolfs „Stadt der Engel“, in: Plöse, Michael et al. (Hrsg.): „Worüber reden wir eigentlich?“ Festgabe für Rosemarie Will. Unter Mitarbeit von Rosemarie Will, Berlin, S. 62–86.
Beck, Ulrich 1999: Die Arbeitsgesellschaft als Risikogesellschaft, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 7-8, S. 414–418.
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Grams, Wolfram 1998: Ökonomisierung kontra Ethik. Lassen sich ethische Standards der Sozialen Arbeit sichern? Empowerment als Gegenstrategie, in: Blätter der Wohlfahrtspflege: Deutsche Zeitschrift für Soziale Arbeit, Jg. 145, H. 11/12, S. 231–233.
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