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Rezension: „Nicht in einem Vakuum statt­ge­funden“

Andersen, Arne/Feest, Johannes/Scheerer, Sebastian: Apartheid in Israel – Tabu in Deutschland? Neuer ISP Verlag 2024, 500 S., 24,80 €.

Das Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, da der Kampf der Palästinenser*innen um Gleichberechtigung, Souveränität und Rückkehrrecht im wörtlichsten Sinne in Trümmern liegt. Solidaritätsproteste mit den Palästinenser*innen in Europa und an zahlreichen US-amerikanischen Universitäten richten ihren Fokus auf die Sache der Palästinenser*innen und besonders auf die Kriegsführung Israels im Gaza gegen die Terrorgruppe Hamas, die schockierend viele zivile palästinensische Opfer fordert. Unmittelbarer Auslöser war der brutale Überfall der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen im Süden Israels am 7. Oktober 2023 mit etwa 1200 Getöteten, sexualisierter Gewalt, Folter und massenhafter Entführung von Israelis in den Gazastreifen.

Das Buch ist eine einzige große Anklage gegen Israel – wegen der kontinuierlichen Unterdrückung des palästinensischen Volkes und insbesondere wegen der nach Ansicht des Autorenteams belegbaren Existenz von Apartheid in Teilen Israels. Historisch weit ausholend wird die Unterdrückungsgeschichte der Palästinenser*innen beschrieben – und damit informativ dicht und anschaulich vor Augen geführt, was UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 23. Oktober 2023 im Blick auf die Ereignisse des 7. Oktobers kommentiert hatte: Die Angriffe der Hamas hätten „nicht in einem Vakuum stattgefunden“. Das palästinensische Volk habe „56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten“.

Für die deutsche Politik hat die Wahrnehmung der palästinensischen Perspektive im Israel-Palästina-Konflikt über Jahrzehnte nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Zwar liegen Klassiker vor, wie Gudrun Krämers Werk Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel von 2002 oder Helga Baumgartens Kein Frieden für Palästina. Der lange Krieg gegen Gaza, Besatzung und Widerstand von 2021. Ebenso erschien in neuerer Zeit etwa das Buch Palästina und die Palästinenser von Muriel Asseburg. Dennoch sind Kenntnisse über die Geschichte der Palästinenser*innen und deren Befreiungsbewegungen in der deutschen Öffentlichkeit wenig vorhanden.

Das Buch gliedert sich folgendermaßen: Das erste Kapitel widmet sich der deutschen Verantwortung am Holocaust, das zweite Kapitel handelt dann von Palästina, genauer der Geschichte Palästinas, der Nakba und dem Vorwurf der Apartheid. Das dritte Kapitel beleuchtet die BDS-Bewergung und den „Boykott der Boykotteure“, gefolgt vom vierten Kapitel zur Beziehung von Meinungsfreiheit und dem Antisemitismusvorwurf. Ein Fazit rundet das Buch ab.

Wenn von der deutschen Verantwortung am Holocaust im ersten Kapitel des Buches die Rede ist, wird schnell deutlich, dass diese historische Verantwortung als Antwort auf die nationalsozialistischen Verbrechen eine verengte Fokussierung auf Israel zur Konsequenz hatte. Angela Merkels Rede – 2008 in der Knesset, dem israelischen Parlament, vorgetragen – unterstrich jene Staatsräson Deutschlands, die das Eintreten für die Sicherheit Israels zur deutschen Verpflichtung macht. Auf das Schicksal der Palästinenser*innen ist sie lediglich durch den pauschalen Hinweis auf die deutsche Unterstützung einer Zwei-Staaten-Lösung eingegangen.

Politische Ignoranz und wenig Empathie konstatieren die Autoren der deutschen Debatte um den Beschluss des Deutschen Bundestages von 2019, der die 2005 von der palästinensischen Zivilgesellschaft und Exilant*innen ins Leben gerufene Bewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) gegen Israel als antisemitisch bezeichnete. Die Kommunen wurden aufgefordert, keine Räumlichkeiten für antiisraelische Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Damit sollte ein deutliches Signal der Politik gegen den „Neuen Antisemitismus“ gesetzt werden. Zahlreiche Verbote derartiger Veranstaltungen durch Kommunen sind von deutschen Gerichten allerdings wieder gekippt worden.

Mangelnde Empathie begleite die Debatte, insofern sie ausgerechnet zum 71. Jahrestag der sogenannten Nakba (Katastrophe) stattfand, die als markante Zäsur durch Flucht und Vertreibung von circa 750.000 Palästinenser*innen in deren geschichtliches Bewusstsein einging. Politische Ignoranz liege vor, weil in der Debatte das „Kauft nicht bei Juden“ – eine vom NS-Staat evozierte Kampagne gegen die wehrlose jüdische Minderheit – in völliger Verkennung der politischen Machtverhältnisse gleichgesetzt wurde mit der gewaltfreien Boykott-Bewegung des BDS gegen einen hochgerüsteten israelischen Staat, der mit Militärrecht die Dominanz als Besatzungsmacht ausübt.

Die Autoren führen zahlreiche historische Beispiele für Boykott-Bewegungen an. Insbesondere der Erfolg von Boykotts gegen das Apartheidsystem Südafrikas veranlasste die israelische Regierung, mit Hilfe von eigens eingerichteten Regierungsinstitutionen und Millionen von US-Dollar (nicht zuletzt aus den USA), alles zur Delegitimierung der BDS-Bewegung zu unternehmen. Der Deutsche Bundestag hat mit seinem BDS-Beschluss 2019 willfährig dazu beigetragen. Im dritten Kapitel des Buches wird auf die BDS-Bewegung ausführlich eingegangen.

Die Autoren weisen zudem darauf hin, dass ein Existenzrecht der palästinensischen Bevölkerung in dieser Bundestagsdebatte nicht erwähnt wurde. Zugespitzt schreiben sie: „Während alle Juden weltweit als Bürger nach Israel einreisen und dort Staatsbürger werden können, weil sie Palästina als ihre angestammte, uralte Heimat ansehen, bleibt den vertriebenen und ausgewanderten Palästinensern dieses Recht verwehrt. Die willentliche Bevorzugung einer Gruppe (Juden) gegenüber einer anderen (Palästinenser) ist aber rassistisch.“

Was ist Antise­mi­tis­mus? Streit um die Antise­mi­tis­mus-­De­fi­ni­tion

Noch im ersten Kapitel beschäftigen sich die Autoren kritisch mit der Antisemitismus-Definition. Die Unterscheidung von legitimer israelbezogener Kritik und antisemitischen Ressentiments war auch für die Humanistische Union bedeutsam. Das zeigte sie unter anderem durch Beteiligung an einer Podiumsveranstaltung im Oktober 2022 zur Frage: Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus: eine Alternative zur Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA? Die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde dort insbesondere wegen ihrer Unschärfe kritisiert.

Die Autoren zitieren Peter Ullrich, Soziologe und Kulturwissenschaftler, der bereits in einem Gutachten für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und Medico International auf die Schwächen der IHRA-Definition hingewiesen hatte. Sie sei „ein Einfallstor für politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus moralisch zu diskreditieren“ (Ullrich 2019: 1). In der Antisemitismusforschung sei die IHRA-Definition keineswegs Konsens, vielmehr führe sie dort ein Nischendasein. Besonders kritisierte Ullrich ihre Vagheit, wenn es dort beispielsweise hieß, Antisemitismus sei eine „bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass […] ausdrücken kann“.

Demgegenüber bevorzugen die Autoren die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die im Jahr 2021 – unterzeichnet von 207 Wissenschaftler*innen aus der Antisemitismus-Forschung – der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. In Leitlinie 12 heißt es, dass die Kritik oder Ablehnung „des Zionismus als einer Form des Nationalismus“ nicht per se antisemitisch sei. Leitlinie 13 beschreibt, dass es auch nicht per se antisemitisch sei, auf „systematische rassistische Diskriminierung hinzuweisen.“ Und weiter: „Daher ist der, wenngleich umstrittene, Vergleich Israels mit historischen Beispielen einschließlich Siedlerkolonialismus oder Apartheid nicht per se antisemitisch.“ Leitlinie 14 sagt: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen [sind] gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protestes gegen Staaten.“

Palästina

Das zweite Kapitel des Buches befasst sich zunächst mit der palästinensischen Geschichte: Der jüdisch-palästinensische Konflikt begann nicht erst mit der Nakba und der Gründung des Staates Israel 1948, sondern hat seine Ursprünge bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das osmanische Reich hatte Palästina um das Jahr 1500 erobert und es als ein Teil Syriens in sein Reich eingliedert. Erst 1917 endete die osmanische Herrschaft. Mit „Palästina“ beziehen sich die Autoren auf die geografische Region, die heute das Gebiet des Staates Israel, das Westjordanland und Gaza umfasst.

Der jüdische Anspruch auf dieses Gebiet sei theologisch begründet. Dem Erzvater Abraham versprach Gott das Land von Ägypten bis an den Euphrat (Gen. 15, 18-21). Auf dem ersten Zionistenkongress 1897 hieß es in dem von Theodor Herzl formulierten Programm: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“.

Zur Größenordnung: Um 1900 lebten in „Palästina“ circa 590.000 Menschen, davon waren etwa 4,5 Prozent Jüd*innen. Das vom Zionisten Israel Zangwill 1901 geprägte Motto „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ war also alles andere als zutreffend. Die Autoren geben Einblick in die Frühgeschichte des jüdischen Landerwerbs: So habe die osmanische Bodenrechtsreformen von 1858 jüdische Landkäufe ermöglicht. Ein ergänzendes Gesetz von 1867 erlaubte es ausländischen Investoren, Land zu erwerben. Erstmalig war damit jüdischen Einwandernden aus Europa der Landerwerb möglich.

1922 verabschiedete der Völkerbund das britische Mandat für „Palästina“, das nichts anderes als die Fortsetzung der Kolonialherrschaft im neuem Gewand war (Grudrun 2002: 195). Völkerrechtlich maßgebend für das Mandat war die Balfour-Deklaration von 1917, die dem jüdischen Volk (the Jewish people) gewissermaßen als Vorwegnahme eines Staatsvolks die „Wiederherstellung seiner nationalen Heimstätte“ garantierte. Für die „nicht-jüdischen“ Teile der Bevölkerung – gemeint sind die Palästinenser*innen – war lediglich die „Entwicklung von Selbstverwaltungseinheiten“ vorgesehen.

Der arabisch-palästinensische Nationalismus und eine palästinensische Identität haben sich gegen die zionistische, in mehreren Wellen erfolgende Einwanderung und Landnahme sowie gegen die britische Besatzungsmacht herausgebildet – kulminierend in der palästinensischen Revolte 1936-39.

Als Ursache machen die Autoren die massive Verschlechterung der Lebenslage der palästinensischen Mehrheit und die als Bedrohung empfundene zionistische Einwanderung und Landnahme aus. Die Umwandlung der traditionellen Agrargesellschaft in eine kapitalistische Landwirtschaft hatte bereits im 19. Jahrhundert zur Verschuldung vieler palästinensischer Kleinbäuer*innen geführt, die gezwungen waren, ihr Land zu verkaufen – wegen nicht mehr bedienbarer Kredite zu hohen Zinsen und wegen einer extrem hohen Landsteuer. Hinzu kamen die hohe Arbeitslosigkeit und Missernten 1929 und 1936.

Die Revoltierenden, die zahlreiche Dörfer und Städte eingenommen hatten, forderten: Ende der jüdischen Einwanderung, Verbot von Landkäufen an Juden und die nationale Unabhängigkeit. Mit aller Härte schlug die britische Mandatsmacht, unterstützt von 20.000 jüdischen Haganah-Kämpfern, den Aufstand nieder. Dabei setzte Großbritannien die Royal Air Force ein und scheute auch nicht vor Folter zurück. Für die Palästinenser*innen war der Aufstand, so die Autoren, ambivalent: Es war „ein eindeutiger Wendepunkt auf dem Weg zur nationalen Identität Palästinas“. Andererseits endete er mit einer Niederlage, „die das palästinensische Volk der Staatsgründung Israels und der Nakba wehrlos auslieferte.“

War für das jüdische Volk die Staatsgründung Israels 1948 die Erfüllung eines lang gehegten Traums, bedeutete die vorher und nachher erfolgte Flucht vor Gräueln und die Vertreibung von etwa 750.000 Palästinenser*innen in die umliegenden arabischen Staaten, die Krieg gegen Israel führten, eine Katastrophe (Nabka): Familien und Kommunen wurden zerrissen, Besitz und Eigentum geraubt, Menschen getötet. Das beschreiben die Autoren eindrucksvoll. Die Palästinenser*innen als Volk waren auf der politischen Landkarte nicht existent. In den 1930er Jahren euphemistisch als „Transfer“ bezeichnet, den die Mandatsmacht Großbritannien erledigen sollte, und durch Zitate unter anderem Ben Gurions belegt, war dies von jüdischen Politikern auch beabsichtigt.

Der von Nasser betriebene arabische Nationalismus weckte Hoffnungen auf palästinensischer Seite, zumal es zur Gründung der Fatah (Bewegung zur Befreiung Palästinas) 1959 und der PLO (Palästinensiche Befreiungsorganisation) 1964 und zur Bildung des militärischen Flügels der Fatah kam.

Der in israelischer Diktion als präventiver Sechs-Tage-Krieg (1967) bezeichnete Sieg gegen die arabischen Nachbarn war für die Palästinenser*innen ein Rückschlag (als Naksa bezeichnet), machte er doch deutlich, dass von diesen Nachbarn für die Befreiung der palästinensischen Bevölkerung nicht mehr viel zu erwarten war.

Es kam in den nächsten Jahrzehnten zu einer Abfolge von völkerrechtlich legalen palästinensischen Widerstandsbewegungen gegen die israelische Besatzung des Westjordanlands, des Gaza und Ost-Jerusalems. Ebenso erfolgten aber auch völkerrechtlich illegale Anschläge auf Zivilist*innen in Israel, Selbstmordattentate und Flugzeugentführungen. Der ausbleibende Erfolg dieser Aktionen für die Befreiung der Palästinenser*innen führte schließlich zu einem Einschwenken der PLO Arafats auf internationales diplomatisches Vorgehen und auf das Beschreiten von Rechtswegen.

Der von Yitzhak Rabin und Schimon Perez vorangetriebene Friedensprozess, beginnend mit der Nahost-Friedenskonferenz in Madrid 1990 bis zum Oslo-2-Abkommen 1995 und den Camp-David-Verhandlungen im Jahr 2000, scheiterte. US-Präsident Clinton hat letztlich den PLO-Führer Arafat dafür verantwortlich gemacht. Tatsächlich aber waren die Souveränität Palästinas und das Rückkehrrecht der Palästinenser*innen in diesem Friedensprozess nicht Gegenstand der Verhandlungen, die sich unter anderem mit dem Prozess der Entwicklung eines palästinensischen Staates befassten.

Während der Zeit des Friedensprozesses wuchs die Zahl der Siedler*innen vor allem in der Westbank von etwa 280.000 auf circa 400.000 in den besetzten Gebieten. Dieser „Siedlerkolonialismus“ war und ist nach Ansicht der Autoren ein Verstoß gegen die Genfer Konvention, die keine Ansiedlung von Bürger*innen des Kernlandes in den besetzten Gebieten erlaubt, schon gar nicht auf Dauer.

Apartheid – Die Situation der Paläs­ti­nenser heute und ihr Widerstand

Als Kriterien für das Vorhandensein von Apartheid beziehen sich die Autoren auf die Definition, die der UN-Sonderberichterstatter Michael Lynck in seinem Bericht vom März 2022 benannt hatte. Sie waren von Wissenschaftler*innen und Menschenrechtsorganisationen entwickelt worden, die die Bedeutung von Apartheid im internationalen Recht bewertet hatten. Als konstituierend für den Apartheid-Vorwurf gelten folgende Merkmale:

  • Das Bestehen eines institutionalisierten Systems der systematischen Rassenunterdrückung und -diskriminierung;

  • die Gründung dieses Systems in der Absicht, die Vorherrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere aufrechtzuerhalten;

  • das Begehen unmenschlicher Handlungen als fester Bestandteil des Regimes.

Es ist eine besondere Stärke des vorliegenden Buches, das Alltagsleben von Palästinenser*innen unter der Besatzung ausführlich zu beschreiben. Das Ausmaß an physischer Gewalt bis zu Tötungen, an Beschränkungen der Mobilität, an systematischen Diskriminierungen und Demütigungen jeglicher Art durch israelische Justiz, Streitkräfte, Polizei und Siedler wird entsprechend der Menschenrechts-Charta, Völkerrecht und der UN-Charta sowie UN-Beschlüssen mit den jeweils bestehenden Rechtslagen konfrontiert. Diese „Déformation professionelle“ des Autorenteams, bestehend aus einem Kriminologen/Soziologen, Juristen und Historiker, ist durchgängig sachlich-juristisch bezogen und argumentiert erst in zweiter Linie politisch-moralisch.

Für die Westbank wird die Frage, ob dort ein institutionalisiertes System der systematischen Rassenunterdrückung und -diskriminierung besteht (erstes Kriterium für Apartheid), von den Autoren folgendermaßen beantwortet:

„Dass es sich um systematische Diskriminierung handelt, wird deutlich, wenn man wahrnimmt, dass die Siedler politisch und rechtlich die gleichen umfassenden Staatsbürgerrechte und den gleichen Schutz wie die israelischen Juden genießen – obwohl sie nicht auf israelischem Staatsgebiet leben. Sie haben den gleichen Zugang zum sozialen Sicherungssystem, zum Bildungswesen, zu regulären kommunalen Dienstleistungen und zum Recht auf Ein- und Ausreise nach Israel und in weite Teile des Westjordanlandes.“

Demgegenüber, so stellen die Autoren fest, „ist das Leben der 2,7 Millionen Palästinenser in der Westbank durch mehr als 1.800 militärische Anordnungen geregelt, die Fragen wie Sicherheit, Steuern, Verkehr, Raumordnung, natürliche Ressourcen, Reisen und Rechtsprechung betreffen.“ Damit ist nach Ansicht des Autorenteams die Existenz eines institutionalisierten Systems der systematischen Rassenunterdrückung und -diskriminierung gegeben.

In Gaza wird nach dem Rückzug israelischer Truppen 2005 von Beherrschung, Kontrolle und Blockade durch Israel gesprochen. Es handle sich um eine „indirekte Besatzung. Sie erfüllt aber nicht die völkerrechtlichen Kriterien eines Apartheidsystems“, so stellen die Autoren fest. Die völkerrechtlichen Kriterien eines Apartheidsystems in Bezug auf das Verhältnis von jüdischen und palästinensischen Lebensverhältnissen im Kernland Israel sind ebenfalls nicht gegeben.

Zur Frage, ob das System der Rassenunterdrückung in der Absicht gegründet worden sei, die Vorherrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere aufrechtzuerhalten (zweites Kriterium für Apartheid), heißt es: „Für die Westbank herrschte unter israelischen Politikern weitgehender Konsens, dass sie ganz oder in großen Teilen annektiert wird.“ Entsprechend werden israelische Stimmen zitiert. Für Ost-Jerusalem sei die Antwort eindeutig. Mit dem Jerusalem-Gesetz vom 30. Juli 1980 hatte die Knesset Jerusalem „in seiner Gesamtheit als Hauptstadt Israels“ erklärt und „annektierte (damit) den Osten der Stadt endgültig.“

Und schließlich: Werden unmenschliche Handlungen als fester Bestandteil des Regimes begangen (das dritte Kriterium für Apartheid)? Dazu beziehen sich die Autoren auf das Römische Statut des Internationalen Gerichtshofes (IGH), auf das Genfer Abkommen mit dem Zusatzprotokoll vom 8. Juni 1977 und auf den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Lynk von 2022. Dort werden unmenschliche Handlungen definiert. Zahlreiche dieser Tatbestände werden von den Autoren beschrieben. So würden beispielsweise hunderte Palästinenser*innen ohne echtes Verfahren in Haft genommen. Häufig verhänge das Militär Kollektivstrafen, indem es Familienhäuser von Terrorverdächtigen zerstöre. Folter werde offenbar als gängige Praxis gegen palästinensische Gefangene eingesetzt.

Die Beschreibung und Analyse von Tatbeständen, die die Anwendung des Begriffs Apartheit in der Westbank entsprechend den genannten Kriterien plausibel machen, ist eine einzige große Anklage der Autoren gegen die israelische Besatzung.

Teile der jüdischen Öffentlichkeit erheben selbst den Vorwurf der Apartheid, während die deutsche Bundesregierung in dieser Frage an der Seite der rechten Netanyahu-Regierung steht. In einem Interview der Welt vom 5. August 2023 meinte der bundesdeutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein: „Israel Apartheid zu unterstellen, delegitimiert den jüdischen Staat und ist daher ein antisemitisches Narrativ, an dessen Verwendung Kritik geübt werden kann und soll.“ Einer der jüdischen Kritiker von Kleins Auffassungen meinte, wenn dieser Recht hätte, dann wären einige der namhaftesten Holocaust- und Antisemitismusforscher*innen Antisemit*innen.

Ausführlich gehen die Autoren nach der Analyse von Israel als Staat der Apartheid auch auf die Charakterisierung als Staat des Siedlerkolonialismus und der Ethnokratie ein, was jeweils spezifische Implikationen für das Verständnis Israels als Demokratie hat: „Apartheid, Siedlerkolonialismus oder Ethnokratie sind in der Beschreibung der israelischen Gesellschaft und den besetzten Gebieten keine Gegensätze, sie beziehen sich lediglich auf unterschiedliche Schwerpunkte“, schreiben die Autoren.

Palästina, Antise­mi­tis­mus­vor­wurf und Meinungs­frei­heit

Beim Begriff des relativ neuen israelbezogenen Antisemitismus geht es häufig weniger um eine rationale wissenschaftliche Auseinandersetzung als vielmehr um den „erbitterten Kampf um die Definitionsmacht über diesen Begriff“. Das zeigte sich, so die Autoren, etwa in den juristischen Auseinandersetzungen um die Behinderung oder das Verbot von israelkritischen Veranstaltungen in öffentlichen Räumen. Bis 2020 waren 117 Vorfälle in 30 Städten zu verzeichnen; die markantesten Fälle und deren gerichtliche Behandlung werden vorgestellt und bewertet. Dabei zeigte sich, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Abgrenzung zwischen israelbezogenem Antisemitismus und legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel schwierig war. Zu einer Vereinfachung der Unterdrückung kritischer Stimmen zu Israel trug allerdings die Kennzeichnung des BDS als antisemitisch bei.

In einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts am 20. Januar 2022, die die Revisionsklage der Stadt München gegen eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes über eine israelkritische Veranstaltung ablehnte, wurde letztinstanzlich festgestellt: „Die Beschränkung des Widmungsumfangs einer kommunalen öffentlichen Einrichtung, die deren Nutzung allein aufgrund der Befassung mit einem bestimmten Thema ausschließt, verletzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit.“ Die Entscheidung des OVG beruhte auf einer ausführlichen Analyse des Art. 5 GG. Unter anderem hieß es:

„Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Wertloyalität aber nicht. Es vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“

Gegen die OVG-Entscheidung regte sich „auf breiter Front ein Widerstand, den es in der jüngeren Geschichte so noch nicht gegeben hat“. Die Front reichte von „Renitenz auf kommunaler Ebene“ bis zur Bundesebene, wo „zunächst das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die OVG-Entscheidung festzustellen“ war.

Die „regierungsamtliche Schockstarre“ wurde nun, so die Autoren, abgelöst von der Suche nach neuen Wegen, die alte Politik fortzusetzen, ohne dabei mit dem Verfassungsrecht in Konflikt zu kommen. Das zeigt auch die Analyse des Abschlussberichts der BLAG (Bund-Länder-Arbeitsgruppe) vom September 2022, der die Begriffe antisemitisch und antiisraelisch austauschbar verwendete. Auf vier Beispielfeldern sollten Praktiken realisiert werden, die an die Antisemitismus-Definition der IHRA angelehnt waren. Dazu gehörten Polizeipraxis, Strafverfolgungspraxis, Förderungspraxis und „Erleichterte Entfernung aus dem öffentlichen Dienst“. Zu Letzterem ist am 1. April 2024 das Gesetz zur Beschleunigung von Disziplinarverfahren in Kraft getreten. Zwar war die Gesetzesnovelle lange vorbereitet, „ihre Verabschiedung steht jedoch in unmittelbarem Zusammenhang mit der seit dem 7. Oktober 2023 entstandenen ‚moralischen Panik‘“ und erinnert die Autoren an die Berufsverbote der Brandt-Ära.

Resümierend stellen die Autoren fest: Zwar sei es erfreulich, dass Verwaltungsgerichte der Meinungsfreiheit zu ihrem Recht verholfen haben, jedoch bestehe weiterhin die Gefahr, dass die IHRA-Definition unkritisch in der Behördenpraxis verwendet wird.

Zum Stand im Gazakrieg (bis April 2024) und möglichen Perspek­tiven danach

Die Autoren gehen auf die Ereignisse des 7. Oktober 2023 ein und unterscheiden dabei zwischen Hamas-Angriffen auf Soldat*innen und militärische Einrichtungen Israels, die völkerrechtlich als Widerstandshandlungen gegen eine Besatzungsmacht gedeckt seien, und den mörderischen Attacken auf israelische Zivilist*innen, die den Autoren zufolge eindeutig gegen den im Genfer Abkommen festgelegten Schutz von Zivilist*innen verstießen. „Mit ihrem Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza zu Wasser, zu Luft und durch die zerstörten Sperranlagen hatte die militärische Führung der Hamas ein Meisterstück vollbracht.“ Dieser Satz dürfte etliche Leser*innen wegen seiner scheinbar positiven Konnotation von an sich schrecklichen Ereignissen schockieren. Allerdings kann er im Gesamtkontext gelesen werden, in dem die Autoren das Versagen des israelischen Sicherheitssystems schildern, das den Hamas-Angreifern die erfolgreiche Durchführung ihres Angriffs auf Israel erleichtert hat.

Der Antrag Südafrikas am 29. Dezember 2023 vor dem IGH, nämlich Israels Vorgehen im Gazastreifen als „Völkermord“ einzustufen, wird ausführlich erläutert ebenso wie das Urteil des IGH am 26. Januar 2024. Dieses folgte zwar nicht Südafrika, das eine sofortige Einstellung der militärischen Handlungen gefordert hatte. Doch ansonsten, so die Autoren, „war das Urteil ein voller Erfolg für die Klägerin“. Das Urteil hielt mit 15 zu zwei Stimmen des Gerichts es „für plausibel“, dass Israel gegen die Völkermordkonvention verstoße. Eine endgültige Klärung wird im Hauptsacheverfahren erfolgen.

Aufgrund des gegenwärtigen Krieges zwischen Israel und der Hamas sowie der Betroffenheit der palästinensischen Bevölkerung durch den Angriff Israels in Gaza ist es schwer vorstellbar, dass Jüd*innen und Palästinenser*innen in naher oder mittlerer Zukunft gleichberechtigt und friedlich miteinander werden leben können. Zu viele Argumente sprechen nach Ansicht der Autoren gegen die Zwei-Staaten-Lösung – etwa die dafür erforderliche Auflösung der Siedlungen in der Westbank und die Zubilligung eines Rückkehrrechts für die Palästinenser*innen.

Die Autoren setzen dem die Vision einer Ein-Staaten-Lösung entgegen:

„Für uns ist die Einstaatenlösung die zukunftsträchtigere Lösung, die letztlich beiden Seiten entgegenkommt. In einem einheitlichen Staat könnten die Siedlungen bestehen bleiben, vorherige Enteignungen müssten allerdings thematisiert und zumindest angemessen entschädigt werden. Der einheitliche Staat Palästina/Israel räumte dabei Juden und Palästinensern ein besonderes Rückkehrrecht ein und das Staatsbürgerschaftsrecht unterscheide nicht zwischen jüdisch und palästinensisch. Ein entsprechender Staat aus zwei Bundesstaten und einem Hauptstadt-Distrikt Jerusalem würde die Möglichkeiten bieten, dass sich beide Gruppen – bei Wahrung ihrer Eigenarten – aufeinander zubewegen.“

Der große Literaturwissenschaftler Hans Mayer schrieb einmal: „Wir wollen nicht ohne Hoffnung leben.“ Vielleicht ist diese Haltung besonders in der heutigen, völlig verfahrenen Situation von Jüd*innen und Palästinenser*innen besonders angebracht.

Werner Koep-Kerstin

Zusätzlich verwendete Literatur

Krämer, Gudrun 2002: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München.

Ullrich, Peter 2019: Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance. Reihe Papers 2/2019, Berlin.

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