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Rezension: Wie die Aufar­b­ei­tung der deutschen Vergan­gen­heit mit der inter­es­sen­ge­lei­teten deutschen Israel­po­litik zusam­men­hängt

Marwecki, Daniel: Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson, Wallstein 2024, 212 S., 22,00 €.

Daniel Marwecki, Jahrgang 1987, lehrt Internationale Beziehungen an der University of Hong Kong und arbeitet als Journalist. Bereits im Jahr 2020 hat er eine englische Version dieses Buches veröffentlicht, dem eine an der SOAS in London (School of Oriental and African Studies) 2018 eingereichte Dissertation zugrunde lag. Mit dem englischen Titel Germany and Israel: Whitewashing and Statebuilding wollte der Autor seine zentrale These auf den Punkt bringen. Demnach lassen „die deutsch-israelischen Beziehungen sich im Kern als Tauschgeschäft begreifen […], bei dem Deutschland Absolution erhielt, und Israel dafür Alles, was es brauchte, um seinen Staat aufzubauen: Wirtschaftsgüter, Waffen, Finanzhilfe“ (S. 7). Marwecki hat das Buch selbst ins Deutsche übersetzt, den Text gekürzt und mit einem Schlusskapitel versehen. Dabei hat er historische Fachdebatten nicht ins Deutsche übertragen, oft auf Fußnoten verzichtet und den Text gestraft.

Herausgekommen ist ein sehr gut lesbarer deutscher Text für ein breites Publikum, der die deutsch-israelischen Beziehungen in die Weltgeschichte, vor allem in die postkoloniale Geschichte und in die Ost-Westkonfrontation des Kalten Krieges einordnet. Die deutsche Überarbeitung war abgeschlossen, als der Krieg zwischen der Hamas und Israel begann. Das Fazit im vorletzten Kapitel des Buches hat den Stand von August 2023. Nur das kurze Postskriptum (S. 198-202), „in dem dieser Krieg durch die Brille dieses Buches reflektiert wird“ (S. 10) ist nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 geschrieben worden.

Der Autor unterscheidet drei Phasen der deutschen Israelpolitik. Der ersten Phase gibt er die Überschrift Rehabilitierung. Sie währt von der Nachkriegszeit bis 1965/1967 und wird im Buch in den ersten zwei Teilen auf 72 Seiten beschrieben. Nach 1965 setzt, so Marwecki, eine Phase der Normalisierung ein, die zusammen mit dem Kalten Krieg endet. Sie wird im dritten Teil des Buches auf 42 Seiten behandelt. Die deutsche Israel-Politik seit der Wiedervereinigung, ihre dritte Phase beschreibt der Autor mit dem Begriff Staatsräson im vierten Teil des Buches auf 32 Seiten. Konsequent listet er in allen drei Phasen die konkreten deutsch-israelischen Beziehungen auf. Aber dabei bleibt es nicht: Er zeigt auch, in welchem Verhältnis die deutsch-israelischen Beziehungen zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands stehen. Oft geschieht das spiegelbildlich zur Politik der DDR. Dadurch werden den Lesenden auch Zusammenhänge der bundesdeutschen Israelpolitik mit der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West, insbesondere zwischen den USA und der Sowjetunion deutlich. Das Verhältnis der Bundesrepublik zu den durch die israelische Staatsgründung heimatlos gewordenen Palästinenser*innen behandelt Marwecki in allen drei Phasen ausführlich als Umgang mit einem Kollateralschaden der Existenz Israels, für den die deutsche Israelpolitik keine direkte Verantwortung übernehmen will.

Rehabilitierung

In den ersten zwei Teilen des Buches werden eingängig und überzeugend die historischen Fakten rekonstruiert, die die besonderen Beziehungen Deutschlands zu Israel begründen. Sie umfassen den Zeitraum vom Gründungskrieg Israels 1948/49, über den Suez-Krieg von 1956 bis zum Sechs-Tage-Krieg von 1967. In dieser Zeit war Deutschland, so zeigt es der Autor, der wichtigste Verbündete Israels. Erst danach wurde Deutschland in dieser Rolle von den USA abgelöst.

Der erste Teil (S. 19-53) ist vor allem eine Analyse von Inhalt und Wirkungen des Luxemburg-Abkommens von 1952, das für Deutschland ein Wiedergutmachungsabkommen sein sollte, von Israel hingegen als eine Vereinbarung von Strafzahlungen angesehen wurde. Der Autor beginnt damit, die Motivation Konrad Adenauers als Regierungschef Deutschlands zu erklären, das Luxemburg-Abkommen abzuschließen (S. 10-35). Beschrieben wird der zweckorientierte, instrumentelle Charakter der von Adenauer verfolgten Politik gegenüber Israel. Für Adenauers Politik der Westbindung der Bundesrepublik waren Deutschlands Beziehungen zu Israel ein wichtiger Baustein, um das Verhältnis der BRD nach den Verbrechen der Naziherrschaft gegenüber der westlichen Welt zu normalisieren. Das diente dem Interesse der BRD nach Wiederanerkennung durch die westliche Staatengemeinschaft. Marwecki betont, dass die BRD in dieser Zeit nicht seine Nazivergangenheit aufarbeitete, die alten Eliten blieben an der Macht. „Weil die Nazifizierung von Staat und Gesellschaft so gründlich gewesen war, hätte eine ebenso gründliche Denazifizierung die Geburt der Bundesrepublik verunmöglicht“ (S. 24). Den Leser*innen wird die Aufnahme der besonderen Beziehungen Deutschlands zu Israel als Kompensationsakt für eine allgemeine Aufarbeitung der Nazivergangenheit und Wiedergutmachung an den Opfern des Nationalsozialismus beschrieben. Das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel galt dem zionistischem Staatsprojekt als Ganzes und nur mittelbar einem kleinen Kreis der Opfer der Naziherrschaft. Um die Frage zu beantworten, ob es eine Entschädigung ohne Aufarbeitung war, resümiert Marwecki kurz die westdeutsche Aufarbeitungspolitik. Die nach dem Bundesentschädigungsgesetz geleisteten Zahlungen von 71 Milliarden Euro bis 2013 gingen überwiegend an jüdische Überlebende, die eine Verbindung zum Deutschen Reich in seinen Grenzen von 1937 nachweisen konnten. Die Masse der überlebenden Opfer des Holocausts in Osteuropa blieb ohne Entschädigung, ebenso wie Roma und Sinti, Homosexuelle, Opfer der medizinischen Experimente und alle vom NS-Regime aus politischen Gründen Verfolgten (S. 22ff.). Es ist dem Autor darin zu zustimmen, „dass schon der bundesrepublikanische Umgang mit den Tätern […] die These ad absurdum führt, nach der sich die deutsche Israel-Politik aus moralischen Gründen speiste“ (S. 25). Der zweite Abschnitt (Staatsaufbau: Ein Industrieprogramm für Israel, S. 35-43) beschreibt den schwierigen und schnellen Aufstieg Israels vom Agrarstaat zu einem modernen Industriestaat und würdigt die Hilfeleistungen Deutschlands als lebensnotwendige Hilfen für Israels Industrialisierung, an denen die westdeutsche Industrie sehr gut verdiente. Die von der BRD an Israel gezahlten 3,45 Milliarden DM wurden zu zwei Dritteln in Form von Waren gezahlt, die der Staat den deutschen Herstellern bezahlte. Der dritte Abschnitt analysiert die Wirkungen des Abkommens von 1952 im arabisch-israelischen Konflikt (S. 43-53). Darin geht es um die Frage, ob und wenn ja, welche Verantwortung Deutschland wegen seiner Israel-Politik für den israelisch-palästinensischen Konflikt trägt. Marwecki beginnt mit der These, dass die deutsche Israel-Politik nie abseits vom Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser*innen stattfand, sondern stets ein Teil davon war. Dieser Konflikt „handelt vom Kampf zweier nationaler Kollektive um dasselbe Territorium“ (S. 43). Als am 14. Mai 1948 das britische Mandat über Palästina endete und Ben Gurion die Staatsgründung Israels ausrief, begann am nächsten Tag der militärische Angriff Ägyptens, Jordaniens und Syriens. Dieser Krieg endete nach einem Jahr mit einem Sieg Israels und der Vertreibung von etwa 750.000 Palästinenser*innen. Soweit die unbestreitbaren Fakten. Wie Marwecki die daraus folgende Situation beschreibt, überzeugt. „Für die arabischen Staaten geht es dabei um die Wiedergewinnung arabischen Territoriums. Für die palästinensischen Flüchtlinge ging es um ihre Rückkehr. Für Israel ging es um das staatliche Überleben“ (S. 44). Mit ihrer Israel-Politik sicherte die Bundesrepublik das staatliche Überleben Israels in den folgenden zwei Jahrzehnten. Dabei war ihr das palästinensische Flüchtlingsproblem von Anfang an bewusst, dies belegt der Autor minutiös. Gleichwohl hält er kausale Verbindungen zwischen Nationalsozialismus, der Gründung Israels und der palästinensischen Katastrophe, der Nakba, für fragwürdig. Israel sei keine Folgeerscheinung der Shoa, weil der Zionismus älter sei als Nazideutschland (S. 48f.). Darüber lässt sich sicher streiten, es ist aber nicht nötig, weil Marwecki nicht nur von der historischen Verantwortung Deutschlands für Israel ausgeht, sondern auch die Frage stellt, „wie Deutschland es mit denen hält, die für Israels Staatsgründung weichen mussten und deren Zukunft bis heute ungeklärt ist“ (S. 49). Der Autor zeigt, dass es gegenüber den verstreuten und traumatisierten Palästinenser*innen keine wirkliche eigenständige deutsche Politik gab. Deutschland zahlte 1957 etwa 70.000 DM an das Hilfswerk der Vereinten Nationen UNRWA.

Im zweiten Teil geht Marwecki der Frage nach, ob die BRD mit ihrer Israel-Politik einen deutschen Sonderweg im Nahen Osten verfolgte (S. 53-101). Dieser Teil beginnt mit der Schilderung der Rolle Israels im Suez-Krieg 1956 (S. 55-70). 1952 kam nach einem Militärputsch Gamal Abdel Nasser in Ägypten an die Macht; er verstaatlichte 1956 den Suezkanal. Daraufhin entschlossen sich Großbritannien, Frankreich und Israel zu einer militärischen Invasion, die scheiterte. „David Ben-Gurion wollte dem ägyptischen Herrscher für seine Unterstützung der palästinensischen Sache abstrafen und hoffte vermutlich, sich mit dem Sinai eine strategische Pufferzone aus dem ägyptischen Territorium heraus schneiden zu können“ (S. 56). Die USA waren über den nicht abgesprochenen Angriff verärgert und arbeiteten mit der Sowjetunion im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zusammen, um den Angriff zurückzufahren. Nasser wurde nicht gestürzt, sondern zum Helden der nichtwestlichen Welt. Israel galt in „arabischen Augen nun endgültig als Kolonialstaat und als Werkzeug des imperialen Westens“ (S. 57). Adenauer hielt angesichts dieses Desasters an seiner Unterstützung für Israels fest – trotz gegenteiliger Wünsche der USA. Nach dem Suez-Krieg begann eine intensive militärische Zusammenarbeit mit Israel. Marwecki beschreibt die militärische Zusammenarbeit mit Israel und die deutschen Waffenlieferungen ausführlich. Zwar war das Auswärtige Amt gegen die Militärbeziehungen, weil es die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der arabischen Staaten mit der DDR fürchtete, wenn die Waffenlieferungen an Israel herauskämen. Es hätte dann wegen der Hallstein-Doktrin seinerseits die diplomatischen Beziehungen zu den arabischen Staaten abbrechen müssen, und die deutsche Wirtschaft hätte erhebliche Nachteile erlitten. Aber das Verteidigungsministerium unter Franz-Josef Strauß setzte sich durch und über die Bedenken hinweg. Acht Jahre nach dem Wiedergutmachungsabkommen fand im März 1960 im New Yorker Hotel Astoria eine Begegnung zwischen Adenauer und Ben-Gurion statt. Für Marwecki ist das ein Symbol der besonderen Beziehungen Deutschlands zu Israel aus dieser Zeit (S. 70-85). Der „Wiedergutwerdung“ Deutschlands, die das Bild zeigen soll, liegt Folgendes zu Grunde: „Was Israel Deutschland geben konnte, war erstens Absolution und zweitens geopolitischer Nutzen im Kalten Krieg. Was Deutschland Israel gehen konnte, war ein unverzichtbar Beitrag zum Aufbau des israelischen Staates“ (S. 71). Die Entzauberung der deutsch-israelischen Versöhnung als politisches Tauschgeschäft ist die größte Leistung von Marwecki. Beim Treffen in New York wurden Israel neue umfangreiche finanzielle und militärische Unterstützungen zugesichert. Der Autor deckt auf, wie diese vor dem Hintergrund des Eichmann-Prozesses abgewickelt wurden. Adolf Eichmann wurde im Mai 1960, zwei Monate nach dem New Yorker Treffen, in Argentinien von Agenten des Mossad festgenommen. Von April bis Dezember fand in Jerusalem der Eichmann-Prozess statt. Am 31. Mai 1962 wurde Eichmann hingerichtet. Marwecki belegt, wie die in New York vereinbarten Waffenlieferung und Finanzhilfen benutzt wurden, um auf den Verlauf des Prozesses einzuwirken (S. 79ff.). Israel erhielt die erste Tranche der vereinbarten Finanzhilfen erst im Dezember 1961, nachdem das Urteil verkündet und der Prozess vorbei war. Am Ende dieses Abschnittes wird der Frage nachgegangen, ob die Bundesrepublik das israelische Atomprojekt finanziert hat. Marwecki geht davon aus, dass Israel der einzige Staat in dieser Weltregion ist, der über Nuklearwaffen verfügt. Seine in den 1960ern entwickelten nuklearen Kapazitäten bringt der Autor in Zusammenhang mit einer Zwei-Milliarden-DM-Sonderzahlung Deutschlands für Israel. Dabei räumt er ein, dass es einen endgültigen Beweis dafür, dass die BRD Israels Atomwaffenprogramm finanziert hat, nicht gibt. Er schließt aber damit ab, dass es Sinn ergeben würde, dass Adenauer und Strauß von der Entwicklung der Atombombe wussten, sie befürworten und unterstützen (S. 85). Der zweite Teil wird damit abgeschlossen, die Wachablösung Deutschlands durch die USA zu beschreiben (S. 85-92) und die deutsche Reaktion auf den für Israel siegreichen Sechs-Tage-Krieg von 1967 darzustellen (7. Blick in den Spiegel: Deutsche Reaktionen auf dem Krieg von 1967, S. 90-101). 1965 nahm die BRD diplomatische Beziehungen mit Israel auf, zeitgleich damit begann die „Wachablösung“ der Bundesrepublik durch die USA. Deutschland wurde zum zweitbesten Freund Israels herabgestuft und bleibt es bis heute. Weil dieser Teil mit den deutschen Reaktionen auf den Sechs-Tage-Krieg endet, vermisst man hier eine Analyse der bundesdeutschen Reaktion auf die UN-Resolution 242 des Sicherheitsrates vom 22. November 1967.

Normalisierung

Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen wurde Normalisierung zu einem Schlüsselbegriff in der Außenpolitik gegenüber Israel. Marwecki setzt ihn in Anführungsstriche, um seinen erinnerungspolitisch fragwürdigen Gehalt zu unterstreichen. Er beschreibt ausführlich die Nazi-Vergangenheit des ersten deutschen Botschafters in Israel und das Fortwirken der Diplomaten des deutschen Faschismus im Auswärtigen Amt. Die BRD wollte nun die Unterstützung für Israel reduzieren und sich von den militärischen, geheimen Beziehungen lösen. Der Autor stellt fest, dass dies für alle fünf Kanzler nach Adenauer galt. Für Erhardt, Brandt und Kohl berichtet er ausführlich über ihre Ansichten zur deutschen Nazi-Vergangenheit. Die Vergangenheit sollte mit der Nachkriegszeit beendet sein, so Erhardt in seiner Regierungserklärung 1965. In der Israel-Politik wollte man sich vom Reparationsgedanken lösen. Marwecki stellt fest, dass das westdeutsche Normalisierungsbestreben aber auch ökonomische Gründe hatte, die durch die Umstellung der Wirtschaft von Kohle auf Öl bewirkt wurden. Er schreibt, „das Verhältnis zu Israel zu ‚normalisieren‘ und der palästinensischen Nationalbewegung wachsendes Verständnis entgegenzubringen – das waren in erster Linie Konzessionen an die erdölexportierenden arabischen Staaten, die sie nach der Nationalisierung der Ölproduktion in den siebziger Jahren im OPEC- Kartell […] auszuspielen wussten“ (S. 103). Das führte zu krisenhaften Beziehungen zu Israel zwischen 1965 und den späten 1980er Jahren. Trotzdem unterstreicht der Autor, dass die Militärbeziehungen zwischen beiden Ländern weiter gingen. „Sie stabilisierten und institutionalisierten sich, wurden vielgliedriger, komplexer. Es galt, was auch schon für die Nachkriegszeit der Fall war: Das große und reiche Westdeutschland mit seinem Einfluss in Europa, war für Israel einfach zu wichtig“ (S. 104).

8. „Die Normalisierung beginnt jetzt“: Die deutsche Israelpolitik nach 1967, (S. 105-116): Dabei steht fest: „[M]it dem Botschafteraustausch hörte Westdeutschland auf, Israel in dem Umfang zu unterstützen, wie es unter Adenauer und Strauß der Fall war. Die geheimen Finanzhilfen hörten auf, ebenso wie militärische Großlieferungen“ (S. 114). Mit der sozialliberalen Koalition löste Willy Brandt 1969 Kurt Georg Kiesinger, der unter anderem unter Ribbentrop im Auswärtigen Amt im Nationalsozialismus Karriere gemacht hatte, als Bundeskanzler ab. Die sozialliberale Koalition beendete die Adenauer-Ära, die Westbindung der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt Realität. In der Israel-Politik setzte Brandt die Politik der Normalisierung fort. Die SPD hatte immer geschlossen für die Israel-Abkommen und -hilfen gestimmt. Aber: „Wo die Notwendigkeit zur Rehabilitation die Israelpolitik der Adenauerregierung bestimmte, bestimmten energiepolitische Zwänge die Politik Brandts“ (S. 117). Zugleich ging die Brandt-Regierung wegen der eigenen antifaschistischen Vergangenheit nicht mehr von einer Kollektivschuld Deutschlands gegenüber Israel aus (S. 118) und begann einen neuen Umgang mit dem palästinensischen Flüchtlingsproblem (9. „Politik der Ausgewogenheit“. Die Bundesrepublik und die PLO, S. 116-143). Zunächst bedeutete es nur, dass 1967 eine besondere deutsche Hilfe für Palästina-Flüchtlinge in die Höhe von 50 Millionen DM geleistet wurde. Es blieb aber auch unter Brandt dabei, dass dies keine Anerkennung einer besonderen deutschen Verantwortung gegenüber den Palästina-Flüchtlingen sein sollte. Die Verantwortung für Israel sollte eine Verantwortung für diejenigen, welche für diesen Staat weichen mussten, nicht einschließen. Das war nicht haltbar, der Konflikt kam mit dem Attentat des palästinensischen Terrorkommandos „Schwarzer September“ während der olympischen Spiele 1972 in München nach Deutschland. 1964 hatten die Palästinenser angefangen, sich mit der Gründung der PLO politisch zu organisieren, sie waren nach ihrer Vertreibung überall (mit Ausnahme von Jordanien) staatenlose Flüchtlinge und beim Überleben abhängig von externen Hilfeleistungen. Nach dem israelischen Sieg im Sechs-Tage-Krieg verschlechterte sich ihre Situation weiter. Der arabisch-israelische Krieg von 1973, der Jom-Kippur-Krieg, den das von den arabischen Staaten überfallene Israel mit Unterstützung der USA gewinnen konnte, leitete aber eine Wende im israelisch-arabischen Konflikt ein. Der Kriegsausgang ermöglichte sechs Jahre später das Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel. Israel gab die Sinaihalbinsel zurück. Ägypten gab dafür den Kriegszustand gegen Israel auf, wandte sich vom sowjetischen Lager ab und den USA und dem Westen zu. Der separate Frieden mit Ägypten brachte aber keine Lösung der palästinensischen Frage, zudem änderte sich in dieser Zeit die politische Situation in und um Israel grundlegend. 1977 löste in Israel die rechtsgerichtete Likud-Partei erstmals die Arbeiterpartei von der Regierung ab. 1979 kam ein theokratisches, antiamerikanisches und antiisraelisches Regime im Iran an die Macht und löste den proamerikanischen Schah ab. „Relativ zu diesem westlichen Einflussverlust in der Region verloren der arabisch-israelischen Konflikt und die palästinensische Frage an Bedeutung“ (S. 138), schlussfolgert der Autor überzeugend.

Der Regierungswechsel von SPD zu CDU 1982 (von Schmidt zu Kohl) bedeutete kein Zurück in die 1950er, sondern führte zu verschiedenen Spielarten des Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Kohls Erinnerungspolitik verfolgte ein Doppelziel: „Die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst und ihrer Täter-Vergangenheit, sowie, damit verbunden, die Umdeutung des deutschen Vernichtungskrieg im Osten hin zu einem gesamten westlichen Kampf gegen den Bolschewismus“ (S. 138f.). Dies demonstrierte Kohl mit seinem Besuch zusammen mit US-Präsident Ronald Reagan am 5. Mai 1985 auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Dort lagen US-amerikanische Soldaten begraben ebenso wie Mitglieder der Waffen-SS, die im französischen Dorf Orandour-sur-Glane ein Massaker begangen hatten. Dem trat Weizsäcker mit seiner Rede zum 8. Mai 1985 entgegen, als er den Tag der deutschen Niederlage zu einem Tag der Befreiung erklärte. „Der Kern von Weizsäckers Rede war, dass er der Deutschen Gesellschaft ein integratives Erinnerungsangebot machte, das sowohl das linksliberale wie das konservative Spektrum einschloss […]. Der Schlüssel zur Erlösung von der lastenden Schuld sollte nun nicht mehr das Vergessen sein, sondern die Erinnerung“ (S. 142). Dabei, so der Autor, argumentierte Weizsäcker theologisch im Sinne einer jüdischen Tradition. Er verweist auf den Satz: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ (S. 142). Dem ist, bezogen auf Weizäckers Wechsel von der Niederlage zur Befreiung, schwer zu folgen, liegt doch in der Befreiungserkenntnis weniger ein Erinnern als ein Eingeständnis von Schuld.

Staatsräson

Seitdem Angela Merkel 2008 im Israelischen Parlament erklärte, Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson, ist die deutsche Israel-Politik moralischer und identitätspolitischer geworden, konstatiert Marwecki. Zudem entziehe sie sich dem demokratischen Diskurs, stamme doch der Begriff Staatsräson aus dem Absolutismus (S. 143). Das deutsche Bekenntnis zu Israel habe etwas von einer Erlösungshoffnung oder zumindest einer Entlastungshoffnung, anders sei der oft sakrale Tonfall nicht zu erklären. Die Kritik am Bekenntnis zur Staatsräson, der zufolge sich Deutschland von Israels Sicherheitsverständnis abhängig mache und damit eine eigene, souveräne und menschenrechtskonforme Politik gegenüber dem Israel-Palästina-Konflikt zu verfolgen verpasse, gehe aber trotzdem fehl. Er habe aufgezeigt, dass Deutschland seine Israel-Politik stets nach nationalem Eigeninteresse ausgerichtet habe. „Das heutige Deutschland ist Israel nicht verbunden, weil Israel das deutsche Schuldempfinden auszunutzen weiß, sondern weil die Beziehungen mit Israel zum integralen Bestandteil deutscher Vergangenheitspolitik seit Ende des Kalten Krieges geworden sind“ (S. 155). Gleichwohl muss gefragt werden, wie weit diese Vergangenheitspolitik Kritik und Distanzierung zur Politik Israels zulässt. Der Autor räumt ein, dass – nicht zuletzt im militärischen Bereich – Deutschland gegenüber Israel über Hebel und Druckmittel verfügt, diese aber, zum Beispiel für einen Stopp des von Deutschland kritisierten Siedlungsbaus, nur selten einsetzt. Insofern verdeutlicht er selbst, dass die Kritik an Israel durch die selbst auferlegte Staatsräson limitiert ist. Später, wenn er über BDS und Apartheid in Israel schreibt, wird deutlich, wie er selbst vom Staatsräson-Denken geprägt ist und ihm folgt.

Parallel zu den Wirkungen der Staatsraison-These wird in diesem Abschnitt der sogenannte Oslo-Prozess beschrieben, der zu einer israelisch-palästinensischen Friedenslösung führen sollte, aber scheiterte. Deutschland habe in diesem Prozess nicht nur Hoffnung, sondern auch Geld investiert.

Der Abschnitt beginnt mit den Ursprüngen der Staatsräson-Erklärung. Genau wird rekonstruiert, dass es der Sozialdemokrat Rudolf Dressler war, der während seiner Zeit als deutscher Botschafter in Israel und während der Schrecken der zweiten Intifada 2005 die Idee von der Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson entwickelte. Klargestellt wird, dass Merkel bei ihrer Knesset-Rede 2008 aber nicht von der Sicherheitsbedrohung Israels durch Palästinenser*innen ausging, sondern durch den Iran.

Dann wird aber wieder konkret ausgeführt, wie sich diese Staatsräson in Taten ausdrückt. Dazu gibt Marwecki einen ausführlichen Überblick zu den militärische Beziehungen Deutschlands zu Israel nach der Wiedervereinigung. Er beschreibt ausführlich die Lieferung der Dolphin-U-Boote, die atomar gegen den Iran ausgerüstet werden können und belegt damit die Rückkehr zu den, vor der Normalisierungsphase üblichen Großaufträgen. Wie im ersten Abschnitt zeigt er auch hier, wie die deutsche Industrie damit verdient und sich Wettbewerbsvorteile verschafft.

Danach wird über den Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinenser*innen und sein Scheitern im Jahr 2000 berichtet. Es wird das Elend in den palästinensischen Gebieten beschrieben.

„Die Grenze um Gaza sind größtenteils geschlossen, die humanitäre Lage dort ist katastrophal. Im Westjordanland und in Ostjerusalem herrschen zwei Rechtssysteme, eines für israelische Staatsbürger, eines für staatenlose Palästinenserinnen und Palästinenser. Bewegung, Zugang zu Trinkwasser politische Rechte – all das und mehr ist für jene, die keine israelische Staatsbürgerschaft haben, stark eingeschränkt“ (S. 163).

Dass Amnesty International 2022 diese Zustände als Apartheid charakterisiert hat, lehnt Marwecki nicht einfach, wie im herrschenden deutschen Diskurs üblich, als Täter-Opfer-Umkehr ab. Er schreibt vielmehr: „Eine, an den Fakten orientierte Auseinandersetzung um den Bericht von Amnesty fand in Deutschland jedoch nicht statt. Dabei wäre sie nötig gewesen, um den Vorwurf, den Amnesty erhob, argumentativ und nicht lediglich per Skandalisierung entkräften zu können. Denn eines übersieht die Faktenbeschreibung und Abgleichung mit der Rechtsdefinition des Römischen Statuts schon: die politische Intentionalität und dass, wer von Apartheid spricht, über den impliziten historischen Vergleich mit Südafrika kaum schweigen kann“ (S. 164). In Den Haag von Internationalen Strafgerichtshof wird gegenwärtig darüber vor der internationalen Öffentlichkeit gestritten. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gerichtshof dies durch die Brille einer „Staatsräson“ beurteilen wird.

Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit einer Beschreibung der deutschen Friedenshoffnung und der Erörterung Ihrer Perspektiven.

Auch wenn dieser Ausblick scheinbar hoffnungslos stimmt, ist man froh über das Buch. Der Autor zeigt Vieles präzise auf, man kann lernen, wo genau die Probleme liegen, die bewältigt werden müssen, um dauerhaft die Existenz Israels zu sichern. Das weist über eine Staatsräson weit hinaus.

Rosemarie Will

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