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Antise­mi­tismus und Gesell­schafts­the­orie

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 55-68

Die raison d’etre einer emanzipatorischen Gesellschaftstheorie wird heute nirgends plastischer als am Antisemitismus. Das gemeine Alltagsbewußtsein gibt sich damit zufrieden, zu behaupten: Antisemitismus hat es gegeben, aber Antisemitismus gibt es nicht mehr. An dieser Behauptung ist nichts wahr, sie ist so alt wie die moderne bürgerliche Gesellschaft selbst. Der Umgang mit Geschichte und Zeit kann an ihr studiert werden; denn diese Alltagsweisheit ist eine Variante des Satzes: Geschichte hat es gegeben, aber gibt es nicht mehr.

Man sollte sich nicht durch die Begriffsgeschichte verführen lassen, die man im Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe« kurz und etwas zu knapp nachlesen kanno Dort schreiben zwei ausgewiesene Historiker, Reinhard Rürup und Thomas Nipperdey: »Das Wort Antisemitismus ist nach 1945 in Deutschland zweifellos häufiger gebraucht worden als in den zwölf Jahren vorher. Wissenschaft, Publizistik und Pädagogik haben den Antisemitismus als ein Schlüsselphänomen analysiert. Dabei ist die Bedeutung des Begriffs ‚Antisemitismus‘ außerordentlich erweitert worden: er meint nicht mehr nur die antijüdische Bewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert — die man nun meist als ‚`modernen Antisemitismus‘ bezeichnet —, sondern alle judenfeindlichen Äußerungen, Strömungen und Bewegungen in der Geschichte. Antisemitismus ist zu einem ‚Synonym für eine unfreundliche oder feindselige Haltung den Juden gegenüber‘ geworden. Versuche, die ältere, nicht rassisch bestimmte Judenfeindschaft als ‚Antijudaismus‘ oder ‚Antimosaismus‘ vom modernen Antisemitismus abzusetzen, sind praktisch erfolglos geblieben: im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich der Begriff Antisemitismus in seinem weitesten Sinne im wesentlichen durchgesetzt. Auch die Wissenschaft wird diesen Sprachgebrauch berücksichtigen müssen; für ein angemessenes historisches Verständnis des Phänomens ‚Antisemitismus‘ kann sie jedoch auf den älteren, engeren Begriff nicht verzichten. [1]

Begriffsgeschichte muß sich daran orientieren, wann der Begriff auftaucht und wie er verwendet wird. Obwohl viele Originalitätsrecht für sich verbuchen möchten, stammt das Wort aus den Berliner Diskussionen des Jahres 1879, in dem als Reaktion auf die Sumpfblüten der Gründerzeit eine heftige antisemitische Diskussion und Agitation einsetzte. Sachlich schien die Diskussion gerechtfertigt, weil mit dem Abschluß des deutsch-französischen Krieges und der Gründung des Zweiten Reiches auch die Emanzipationsgesetzgebung in Deutschland abgeschlossen wurde. Die Ergebnisse dieses Prozesses wurden unter den Gebildeten im sogenannten »Berliner Antisemitismusstreit« diskutiert, den Walter Boehlich hervorragend dokumentiert hat. [2] Auffällig in diesem Berliner Antisemitismusstreit von damals bleibt, daß die antijüdischen Argumentationen sich vom vulgären Antisemitismus distanzieren.

Diese antisemitische Agitation begann mit den Reden des Hofpredigers Stoecker, der am 19. September 1879 »Unsere Forderungen an das moderne Judentum« formulierte. Er wollte den Antisemitismus aus der konservativen Ecke herausholen und zum Gadget seiner christlich-sozialen, d.h. antisozialdemokratischen Arbeiterbewegung machen. Nein, dumm war dieser Stoecker nicht, denn er wußte genau, worum es geht: »Marx und Lassalle haben das Problem nicht nach der Börse, sondern nach der Industrie hin gesucht, die Industriellen für alle sozialen Mißstände verantwortlich gemacht und den Haß der Arbeiter auf sie gelenkt. Unsere Bewegung korrigiert das in etwa: Wir zeigen dem Volk die Wurzeln seiner Not in der Geldmacht, dem Mammonsgeist der Börse.« [3] Wie sehr Mitte der siebziger Jahre die Agitation in ei-ne einheitliche, antisozialistische Richtung ging, zeigt die Artikelserie von Otto Glagau aus der »Gartenlaube« im Jahre 1876/77: »Das Judentum«, schreibt Glagau, »ist das angewandte, bis zum Extrem durchgeführte Manchestertum. Es kennt nur noch den Handel, und auch davon nur den Schacher und Wucher. Es arbeitet nicht selber, sondern läßt andere für sich arbeiten, es handelt und spekuliert mit den Arbeits- und Geistesprodukten anderer. Sein Zentrum ist die Börse… Als ein fremder Stamm steht es dem Deutschen Volk gegenüber und saugt ihm das Mark aus. Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und Judenfrage, alles übrige ist Schwindel.« [4]

Diese Zusammenhänge hat Paul W. Massing in einer Arbeit untersucht, erschienen in der von Max Horkheimer initiierten Reihe bei Harper & Brother, New York, die den berühmten Titel trug: »Studies in Prejudice«. Paul W. Massing nannte sein Buch »Rehearsal for Destruction«, das dann, zehn Jahre später, 1959 in Westdeutschland unter dem Titel »Vorgeschichte des politischen Antisemitismus« mit einem Vorwort von Horkheimer und Adorno erschien. Reinhard Rürup nennt Massings Arbeit den »funktionalistischen Interpretationsansatz, der auch in der westlichen Forschung eine wichtige Rolle spielt.« [5] Im klassifikatorischen Wissenschaftsdeutsch von heute ist völlig untergegangen, daß diese Studie Massings im Zusammenhang der Arbeiten des »Instituts für Sozialforschung« in Amerika zu sehen ist, dem einzigen wirklichen Versuch emanzipatorischer Gesellschaftstheorie, den Antisemitismus und die Rückwirkung von Auschwitz auf Gesellschaftsveränderung zu begreifen. Titel, Übersetzung und Fortführung dieser Arbeiten sind immer weiter in Sklavensprache gehalten worden —Begriffe wie Vorurteil, autoritärer Charakter etc., die heute den wirklichen Zusammenhang der Antisemitismusstudien des Instituts verschleiern. Das bedeutende siebenteilige Kapitel »Elemente des Antisemitismus« aus der »Dialektik der Aufklärung« ist schon bei Rürup zu einem eigenwilligen, keiner Fortsetzung fähigen Interpretationsansatz gworden. Es wird gar nicht gesehen, daß dies kein Produkt westlicher Forschung ist, was auf den Mangel marxistisch-leninistischer Theoreme zurückweist, sondern der Versuch einer kritischen Gesellschaftstheorie, die aus der Tradition der Marxschen stammt, den Antisemitismus in seinen Formwandlungen zu begreifen. Die Marxismen-Leninismen in West und Ost haben angesichts und nach Auschwitz in der Analyse des Antisemitismus vollständig versagt. Reinhard Rürup weist zurecht darauf hin, daß der marxistisch-leninistische »Beitrag zur Entwicklung der internationalen Antisemitismusforschung bis heute erstaunlich gering ist.« [6]

Es gehört schon zur Verkümmerung des Denkens, das den Stalinismus nicht unbeschadet überstanden hat, Marx und Marxismus mit östlicher Forschung zu identifizieren. Diese Eindimensionalität ist im Kalten Krieg erst recht befestigt worden. Aus dieser Kalten-Kriegs-Situation ist auch nur zu verstehen, warum Horkheimer und Adorno, aber auch Marcuse, bis zu einem gewissen Grade der Sklavensprache verhaftet blieben. Der letzte große Kampf, in dem die kritischen Theoretiker sich als aktive Momente und Akteure dieses Kampfes sahen, richtete sich gegen den Nationalsozialismus. Im Nachlaß der Schriften Max Horkheimers findet sich eine Rede vom 16. April 1943, wohl in kleinem Kreis gehalten: »Seit vielen Jahren ist es nun unsere Überzeugung, daß die tagtägliche Verteidigung gegen den Antisemitismus, gegen die Lügen und Verbrechen unserer Feinde, nur eine Seite unseres Kampfes um Selbsterhaltung sein kann. Den Krebs behandeln wir in Kliniken, wir pflegen die Kranken und versuchen, ihre Schmerzen zu lindern und ihr Leben zu verlängern. Aber außerhalb der Kliniken, und unabhängig von ihren Bemühungen, geht die unermüdliche Forschungsarbeit weiter: eine methodische und gut organisierte Untersuchung, in der das Wissen aus den verschiedenen Sphären vereinigt wird. Ebenso sollte der tägliche Kampf gegen den Antisemitismus mit einer wohlgeplanten Erforschung der zugrundeliegenden destruktiven Tendenzen einhergehen. Unser Interesse als Juden, das uns zum Engagement bei dieser Arbeit veranlaßt, ist gleichbedeutend mit unserer Aufgabe als Kämpfer für die Zukunft der Menschheit. Wie nämlich die biologischen Untersuchungen der Natur einer Krankheit oft bessere Erkenntnisse über andere Plagen oder gar eine tiefere Einsicht in die Natur der Krankheit als solche mit sich gebracht haben, so könnte sich wohl auch die unerschrockene Untersuchung des Antisemitismus als der beste Zugang zur Erklärung der antidernokratischen Gefühle der Massen erweisen und zu neuen Methoden, um deren emotionale und moralische Verfassung auf den Stand zu bringen, der in den Wissenschaften und in der Industrie erreicht wurde«. [7]

Der wirkliche Zusammenhang, in dem das Antisemitismus-Kapitel der »Dialektik der Aufklärung« steht, wird hier sichtbar. Es ist derselbe, in dem die »Studies in Prejudice« und »Authoritarian Personality« stehen. Zunächst einmal ist es nicht einzelnen Forscherkarrieren zuzurechnen, sondern es geht im alten Sinne um eine verbindliche Theorie —ein »die Individuen übergreifendes Denken«, eben dasselbe, was die Marxsche Theorie intendiert zu sein, als Marxismus aber nicht mehr ist. Das Studium des Antisemitismus sollte damals den Schlüssel liefern, warum Befreiung mißglückt. Wir behaupten, daß das Studium des Antisemitismus das Bedürfnis nach einer historisch greifenden kritischen Theorie der Gesamtgesellschaft schafft, weil man sonst in den Aporien der antisemitischen Fragestellungen selbst steckenbleibt. Adorno spricht dies schon in der »Authoritarian Personality« aus: »Dem Problem der `Einzigartigkeit‘ des jüdischen Phänomens und folglich des Antisemitismus kann man nur durch Rekurs auf eine Theorie nahekommen, die den Rahmen dieser Studie überschreitet. Eine solche Theorie würde weder eine Vielfalt von `Faktoren‘ aufzählen, noch einen spezifischen als `den‘ Anlaß auswählen, sondern eher einen geschlossenen Rahmen entwickeln, in dem alle `Elemente‘ konsistent miteinander verbunden sind, was auf nichts weniger als auf eine Theorie der modernen Gesellschaft als Ganzer hinauslaufen würde.« [8]

Das genau sollte die »Dialektik der Aufklärung« leisten, aber sie ist eine Sammlung philosophischer Fragmente geworden. Das Antisemitismuskapitel entspricht auch nicht dem Adornoschen Anspruch, sondern die Elemente des Antisemitismus folgen recht unvermittelt und thesenhaft aufeinander. Aber emanzipatorische Gesellschaftstheorie findet hier einen Ansatzpunkt, an dem sie sich in der Analyse bewähren muß. Ich möchte an dieser Stelle vor gedanklicher Bequemlichkeit warnen. Der Entstehungszeitraum der Antisemitismusstudien und der »Dialektik der Aufklärung« wird uns aus dem Horkheimerschen Nachlaß noch einmal ganz deutlich. Es geht nicht allein — wie Habermas sagt — um die »Dekomposition der bürgerlichen Kultur… in Deutschland« [9], sondern um den Untergang einer Welt. Hinter diesen Erkenntnisstand kann man nicht willkürlich zurück, um eine »positive« Theorie der Moderne zu liefern. In unserem Nachdenken über die »Dialektik der Aufklärung« muß aufgehoben sein, daß sie als einzige emanzipatorische Theorie den mörderischen Augenblick reflektiert. Horkheimer versucht 1943 seinen Zuhörern in einer weiteren Rede »das Ausmaß der Katastrophe in Erinnerung zu rufen«. Er zitiert Edwin C. Johnson vor dem Kongreß, der am 14. Januar 1943 sagte: »In den Herzen muß die Erkenntnis reifen und Fuß fassen, daß Israel nicht allein bluten darf, sondern daß seine Wunden die Wunden der ganzen Menschheit sind. Die Juden in Europa werden zu 7 000 pro Tag oder zu 5 pro Minute abgeschlachtet. In den 10 Minuten, die mir für dieses Programm zugebilligt wurden, sind 50 Juden schmachvoll in den Tod geschickt worden.« [10]

Es geht darum, ein historisches Bewußtsein von Einzigartigkeit und Wiederholbarkeit von Auschwitz zu entwickeln — ein paradoxes, ein widersprüchliches Bewußtsein, das schwer zu ertragen ist. Deswegen weichen die Menschen meist davor zurück, weil das Falsche am täglichen Betrieb und die Ohnmacht der Individuen sichtbar wird. Auschwitz bleibt der nervus rerum kritischer Theorie; ohne Reflexion auf Auschwitz verharmlost man alles, was Horkheimer, Adorno, Löwenthal und Marcuse gedacht haben. Daraus folgt auch, daß man sich einen anderen Namen wählen müßte, wenn man kritische Theorie, für die die Erfahrung von Auschwitz marginal sein soll, betreiben wollte. Kritische Theorie ohne »Dialektik der Aufklärung« läßt sich nur in eine schlechte Unendlichkeit verlängern. [11] Ohne dies »Bewußtsein von Nöten« kann Gesellschaftstheorie nicht kritisch sein, sondern schlägt um in Betriebsamkeit und Affirmation. Auschwitz wird zum thema probandum, ob emanzipatorische Theorie nach Auschwitz überhaupt möglich ist. Erst wenn man so fragt, glaue ich, wird einem die zentrale Bedeutung dieser Reflexion bewußt.

Die Vernunftkritik der »Dialektik der Aufklärung« ist keine intellektuelle Grille von Horkheimer und Adorno, sondern die äußerste Anstrengung, dem Sinnverlust von Geschichte nicht zu erliegen. Der Zeitkern vernünftiger Wahrheit liegt in der Aufklärung und ihrer versuchten Verwirklichung der Französischen Revolution als nucleus; diese Zeit versucht Hegel in Gedanken zu fassen: Es ist nichts anderes als die Epoche der Emanzipation, die Heine noch 1828 bei der Besichtigung des Schlachtfelds von Marengo in die großartigen Worte faßt, schon mit dem Schuß Ironie, der aus dem Leid mißglückter Befreiung kommt: »Was aber ist die große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischer Schwarzen und dergleichen unterdrückten Völker, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie. Mögen immerhin einige philosophische Renegaten der Freiheit die feinsten Kettenschlüsse schmieden, um uns zu beweisen, daß Millionen Menschen geschaffen sind als Lasttiere einiger tausend priviligierter Ritter, sie werden uns den-noch nicht davon überzeugen können, solange sie uns, wie Voltaire sagt, nicht nach-weisen, daß jene mit Sätteln auf dem Rücken und diese mit Sporen an den Füßen zur Welt gekommen sind.« [12]

Heine versucht, auf die kleinlichsten Verhältnisse in dem größten Zusammenhange aufmerksam zu machen. »Frankfurter Juden« steht für die widerspruchsvolle Geschichte der Frankfurter Judenemanzipation im Gefolge der Französischen Revolution. Die Große Revolution selbst hatte die französischen Juden am 13. November 1791 emanzipiert. Bis dahin waren die Juden Objekte aufgeklärter Bürokraten gewesen. Mirabeau orientierte sich an der deutschen Diskussion, die vor allem vom preußischen Kriegsrat Dohm, der eine »bürgerliche Besserung« der Juden von oben anstrebte, geführt wurde. Aus dieser Sicht blieb die Emanzipation der Juden eine Erziehungsfrage, in der die Juden erst zu Bürgern, d.h. zu Menschen gebessert wer-den sollten, bevor sie Menschen- und Bürgerrechte erhielten. Reinhard Rürup, der beste Historiker des Emanzipationsvorganges in jüngster Zeit, schreibt: »Wirkliche Fortschritte wurden in Deutschland erst unter dem Einfluß Napoleons bzw. der durch ihn bewirkten Erschütterungen und Veränderungen erzielt. Zur vollen Emanzipation kam es in allen von Frankreich unmittelbar oder mittelbar beherrschten Gebieten: zuerst in den zu Frankreich geschlagenen linksrheinischen Departements, dann im Großherzogtum Berg und im Königreich Westfalen« (Dekret vom 27.1.1808). [13]

Im Jahr 1808 kam es allerdings zu einem Tiefpunkt, als Napoleon, um die antisemitische Agitation im Elsaß zu beruhigen, das »Décret Infäme« erließ, das auf zehn Jahre die bürgerlichen Rechte der Juden suspendierte. Napoleon beantwortete die Agrarkrise der verschuldeten Elsässer Bauern auf seine Weise, in dem er den Haß gegen jüdische Kleincreditoren auf seine Mühlen lenkte. Der Schaden dieser Maßnahme blieb immens. Die Bauern, mit deren Kraft die bürgerliche Revolution sich überhaupt durchsetzt, sind bekanntlich die ersten Opfer der bürgerlichen Gesellschaft; Eigentum an Grund und Boden wird kapitalisiert und diesem Prozeß ist die Mehrzahl der Bauern nicht gewachsen, verschuldet sich und gerät in unausweichliche Not. Man fühlt sich betrogen, aber man durchschaut nicht den Gesamtvorgang von Kapitalisierung, hinter dem die großen Eigentümer stehen, sondern man sieht nur den auf dem Land lebenden Creditor — in Gebieten wie dem Elsaß, sozusagen ein Stück deutsch-jüdischer Agrarverhältnisse in Frankreich, jüdische Creditoren. Der Wucher besteht vor allem darin, daß Juden Geldwirtschaft im agrarischen Milieu repräsentieren — ein Milieu, in dem der produzierte Mehrwert außerordentlich gering ist. Den Emanzipationsfeinden in Süddeutschland gab das Decret Infäme besten Agitationsstoff in die Hand, eben daß die vorbehaltlose Gewährung gleicher Rechte wie 1797 nicht durchzuhalten wäre.

Die Designation der Juden zu Opfern des Volkszorns besitzt Tradition. Seit den Kreuzzügen, also gut tausend Jahre, werden sie mit wechselnden anderen Gruppen zu Objekten von Herrschaft gemacht. Schon früh beginnt die Durchsetzung der Waffenlosigkeit und die Verbannung in das Geldwesen, die gesetzlich erzwungen wird. Ebenfalls gesetzlich erzwungen wird die äußerliche Kennzeichnung in der Kleiderordnung, wie Hut und gelber Fleck, wie die entsprechende Wohnordnung. Aus dieser entsteht das Ghetto, eine wahrhaft europäische Einrichtung. Vorurteil hieß, diesen äußeren Ordnungen unterworfen zu sein. In der Schilderung eines Frankfurter Patrizierkindes namens Johann Wolfgang von Goethe lebt etwas von der Vorurteilshaftigkeit dieses vorbürgerlichen Europas weiter. In »Dichtung und Wahrheit« beschreibt er die Frankfurter Judengasse abfällig:

»Zu den ahnungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der Judenstadt, eigentlich die Judengasse genannt, weil sie kaum aus etwas mehr als einer einzigen Straße besteht, welche in frühen Zeiten zwischen Stadtmauer und Graben wie in einen Zwinger mochte eingeklemmt worden sein. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange, bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler, etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabei schwebten die alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder, die wir in Gottfrieds ‚Chronik` gräßlich ab-gebildet gesehen, düster vor dem jungen Gemüt. Und ob man gleich in der neuern Zeit besser von ihnen dachte, so zeugte doch das große Spott- und Schandgemälde, welches unter dem Brückenturm an einer Bogenwand, zu ihrem Unglimpf, noch ziemlich zu sehen war, außerordentlich gegen sie: denn es war nicht etwa durch einen Privatmutwillen, sondern aus öffentlicher Anstalt verfertigt worden.

Indessen blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes und gingen, wie es nun mochte gekommen sein, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. Außerdem waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch und mochten es wohl leiden, wenn ein Christenknabe, ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies. Äußerst neugierig war ich daher, ihre Zeremonien kennenzulernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beigewohnt und von dem Lauberhüttenfest mir ein Bild gemacht hatte. Überall war ich wohl aufgenommen, gut bewirtet und zur Wiederkehr eingeladen: denn es waren Personen von Einfluß, die mich entweder hinführten oder empfahlen.« [14]

Wenn die Aufklärung schon an einer Lichtgestalt wie Goethe ihre historisch-gesellschaftlichen Grenzen erfährt, ahnt man, wie stark der Gedanke von Emanzipation durch die Wirklichkeit uminterpretiert wird. Das historische Material ragt hier in die Wahrnehmungsstruktur, z.B. die öffentliche Schandzeichnung eines Ritualmords. Das Vorurteil wurde »Zur öffentlichen Beschimpfung, zum Verdruß für die Juden« angebracht. So lautete die Bildunterschrift, die Ludwig Marcuse in seiner Börne-Monographie überliefert. Dieses Vorurteil, nun — wiederum wörtlich —»die Juden daselbst von dergleichen Schelmstücken desto eher abzuhalten« [15], verwandelt sich in die Festigkeit des Volksvorurteils, das vermeint immer im Recht zu sein.
Adorno hat diese Dynamik verselbständigten Meinens an der Rechthaberei beobachtet: »Sie beruht auf Narzißmus, also darauf, daß die Menschen bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben. Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts. Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzißtische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt.« [16] Antisemitisches Meinen lindert die Verletzung.

In den »Judenschlachten«, wie das Ermorden, Vertreiben und Schuldbücherverbrennen im mittelalterlichen Frankfurt genannt wurde, in diesen tapferen »Juden-schlachten« rächten sich die Untertanen für den gewährten Schutz der Herrschaft an den Juden. Und immer wieder wiesen sie auf die Tat, die ihnen Legitimation gab; die Juden hätten den Messias nicht nur geleugnet, sondern ans Kreuz geschlagen. Man hat dies religiösen Judenhaß oder Antijudaismus genannt; aber das leuchtet nicht ein. Der Hinweis Sigmund Freuds, daß es sich hier um »schlecht getaufte Christen« [17] handelt, die gegen die Härte der Zivilisationsgebote einen barbarischen Groll entwickeln, kann hier weiterhelfen. Der revoltehafte Charakter dieser »Judenschlachten«, der schlechte Ausnahmezustand, der den Normalzustand strenger Herrschaft befestigt, läßt sich als antisemitischer Untertanengeist fassen. Die Revolte ist Resultat unmittelbarer Herrschaft, schlecht gelungener Internalisierung von Gewalt. In der jüdischen Tradition gibt es einen Ausdruck für traditionelle Judenhasser: Rechoim. Von diesem Wort stammt der Begriff »Rischess«, eine Verballhornung von rischuss, was hebräisch Bosheit bedeutet. Meinung als Gewalttat, die jederzeit praktisch werden kann — das gehört zum antisemitischen Urstoff. Feindschaft ohne Vermittlung, Ansehen ohne Anerkennung — diese Erbschaft vorbürgerlicher Zeit geht in die bürgerliche Gesellschaft ein.

Dieser »Rischess«, dieser vorbürgerliche Antisemitismus, wird erst in der bürgerlichen Gesellschaft zentral. Der vorbürgeriiche Antisemitismus schafft die Illusion, der Antisemitismus habe etwas mit den Juden zu tun — tatsächlich hat er, insoweit sie Opfer von Gewalttat und Verfolgung sind. Sie sind eben Einsprengsel in einer manichäischen Welt, an deren Rand sie stehen. Die Juden in der vorbürgerlichen Gesellschaft sind marginal; sie sind Objekt von Angriff und Apologetik. Die Alter-native von Angriff und Apologetik verlassen zu haben, darin besteht ein Verdienst bürgerlicher Aufklärung. Daß die Aufklärer die Juden falsch gesehen und interpretiert haben, läßt sich aus einer Kritik der Aufklärung begreifen; denn die Vernunft der Aufklärung ist grenzenlos, sie anerkennt nicht das bestimmte geschichtliche Konkretum. Insofern werden auch die Juden oft in der aufklärerischen Literatur als Demonstrations- und Spottobjekt behandelt. Aber daraus ist fälschlicherweise jüngst die »judenfeindliche Tendenz der Aufklärung« gemacht worden, wie Leon Poliakov im Untertitel den fünften Band seiner »Geschichte des Antisemitismus« nannte. [18] Diese Art der Interpretation führt zu einem Irrweg, nämlich in der Aufklärung eine selbständige antisemitische Quelle zu erblicken. Es ist der Mangel an dialektischer Aufklärung, einer sich selbst reflektierenden Aufklärung, der die häßlichen Attacken gegen die Juden in der aufklärerischen Literatur ausmacht. Es gibt aber kein anderes Denken, mit dem wir den Übergang von vorbürgerlicher in bürgerliche Gesellschaft begreifen und zugleich die Bedingungen erkennen können, warum Emanzipation sich verkehrt.

Mit dem Formwechsel von vorbürgerlicher zu bürgerlicher Gesellschaft ändert auch der Antisemitismus seine Gestalt. Die Ausweitung der Zirkulationssphäre zur gesellschaftlichen Form, in der gesellschaftlicher Verkehr stattfindet, macht die bürgerliche Gesellschaft zur eigentlich antisemitischen Gesellschaft. Margherita von Brentano hat das sehr schön auf den Begriff gebracht: »Daß Emanzipation und Liberalismus nicht gelangen, daß sie nicht verwirklichen, was einmal die Aufklärung und die Revolution an Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aufbrechen ließen, dafür, und nicht für eine partielle Schwierigkeit im Verhältnis einer bestimmten Gruppe zur Gesamtgesellschaft ist der Antisemitismus ein Index. Antisemitische Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, in der die zahlenmäßig größten Schichten des Volkes ihr unerhelltes Unbehagen, ja ihre Wut und Verzweiflung in Haß gegen eine schwache, an den Ursachen des Unbehagens durchaus unschuldige Minderheit um-setzen, entsteht im ausgeprägten Sinne erst mit bürgerlicher Revolution, Liberalismus und industrieller Wirtschaft.« [19] So weit, so klar: Moderner Antisemitismus ist unauflöslich mit mißglückter Emanzipation aus vorkapitalistischen Verhältnissen verknüpft.

Daß die meisten Historiker bloß zu einer mechanischen Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus gekommen sind, sollte nicht verwundern. Immerhin liegt darin ein Fortschritt gegenüber Annahmen eines »ewigen Antisemitismus«, der zur Legitimation bestimmter Praxis mehr dient als zur Erkenntnis geschichtlicher Wahrheit. Wie sehr Deutschland im Zeichen mißglückter Emanzipation steht, läßt sich an den HEP-HEP-Unruhen des Jahres 1819 ablesen. Sie kombinierten die Frustration über die sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon mit der ökonomischen Not unmittelbar nach denselben. Zusammenrottungen des Kleinbürgertums, von Bauern aus der Umgebung, Handlungsgehilfen und auch studentischer Jugend —(mit der Ausnahme Heidelbergs) folgten — angestachelt durch Agitationen von Professoren wie Fries und Rühs — Aufrufen zur Plünderung jüdischer Kramläden. Von Würzburg bis Frankfurt reichte die Bewegung. Es läßt sich die Entstehung des modernen Antisemitismus zu einem Zeitpunkt beobachten, als es das Wort Antisemitismus noch gar nicht gab. Während man das hassenswerte Kollektivobjekt in den Juden, den Feinden zuhause, gefunden hat, stellt sich das falsche Kollektivsubjekt und seine Ideologie schon ein: die Nation. Es bedurfte aber zunächst des vollständigen Zusammenbruchs aller emanzipatorischen Hoffnungen, um die ungeheure Gewalt des schieren Nationalismus ohne Gesellschaftsveränderung in Freiheit zu setzen. Mitten im Krieg, 1943, im äußersten Bewußtsein des Massenmords, hat Max Horkheimer das Spezifikum deutscher Geschichte und Kultur hervorgehoben, das die gesamte Geschichte gescheiterter und verkehrter Emanzipation durchzieht: »Wie die deutsche Musik und Philosophie schon aufgrund ihrer Struktur den Begriff der Grenze bedrohen und dazu neigen, die Faktizität zu transzendieren, so hat sich die politische Aggressivität Deutschlands niemals mit den nationalen Grenzen ausgesöhnt, deren Überschreitung in der Phantasie das Wesen der Sehnsucht deutscher Dichtung ausmachte. Sowohl das Größte als auch das Geringste deutschen Geists kreist um die Revolte gegen endliche, unabänderliche Bedingungen.« [20] Seit 1850 löst sich diese Revolte von möglicher Gesellschaftsveränderung und geht ganz in der Nation und nationalen Kultur auf: Rehearsal for Destruction beginnt, Vorprobe der Vernichtung. Vernichtet werden in den Gaskammern von Auschwitz soll eine Gesellschaft, die Züge dessen trug, was nicht in die Logik von Geschichte paßt — Züge, wie Adorno und Horkheimer im Augenblick der Vernichtung festgehalten haben: »des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos«. [21] Mit der Endlösung, die die Nazis versprachen, geht auch der Antisemitismus unter, wie er einst gewesen war — als falscher Protest gegen mißglückte Befreiung, als Ressentiment. Was heute existiert als falsches Bewußtsein nach Auschwitz, ist anders; aber was es ist, das müssen wir erst noch begreifen.

Kein theoretisches Buch reflektiert aber den welthistorischen Augenblick von Auschwitz als Moment seines Entstehens — á  jour, im Entstehungsprozeß —, wie »Dialektik der Aufklärung«. Es ist gerade die Entfernung von Osteuropa nach Amerika, die diese Reflexion möglich macht. Adornos » minima moralia« bezeichnen genau, was wir meinen: 1944 notiert er den Abschnitt »Weit vom Schuß«. »Der Gedanke, daß nach diesem Krieg das Leben ’normal‘ weitergehen oder gar die Kultur ‚wiederaufgebaut‘ werden könnte — als wäre nicht der Wiederaufbau von Kultur schon allein deren Negation —, ist idiotisch. Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur eigentlich noch?« [22]

Der Rückfall in die Barbarei ist bereits geschehen. Das Zeitalter, aus dem noch Hegel und Marx, aber auch Horkheimer und die frühen kritischen Theoretiker dachten, geht unter. An Zukunft kann gar nicht als geglückte Befreiung gedacht werden: »Solange es Zug um Zug weitergeht, ist die Katastrophe perpetuiert. Man muß nur an die Rache für die Ermordeten denken. Werden ebensoviele von den anderen um-gebracht, so wird das Grauen zur Einrichtung und das vorkapitalistische Schema der Blutrache, das seit undenklichen Zeiten bloß noch in abgelegenen Gebirgsgegenden waltete, erweitert wieder eingeführt, mit ganzen Nationen als subjektlosem Subjekt. Werden jedoch die Toten nicht gerächt und Gnade geübt, so hat der ungestrafte Faschismus totz allem seinen Sieg weg, und nachdem er einmal zeigte, wie leicht es geht, wird es an anderen Stellen sich fortsetzen.« [23]

Die Bruchstelle zur Praxis, allzu oft naiv beschworen, ist hier zu suchen. Was soll geschehen? Was soll mit Deutschland geschehen? Kann ein subjektloses Subjekt verantwortlich sein? Wenn ja, wie? »Auf die Frage, was man mit dem geschlagenen Deutschland anfangen soll, wüßte ich nur zweierlei zu antworten. Einmal: ich möchte um keinen Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder Rechtstitel für Henker liefern. Dann: ich möchte keinem und gar mit der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes rächt. Das ist eine durch und durch unbefriedigende, widerpruchsvolle und der Verallgemeinerung ebenso wie der Praxis spottende Antwort.« [24] Der ungestrafte Faschismus gehört zur Erbschaft dieser Zeit und deutlich bei den Feiern zum 40. Jahrestag der Befreiung ist geworden: Die Ermordung von Millionen Juden soll nur ein Zwischenspiel sein. In West und Ost triumphiert das Schema nationaler Befreiung, bei dem die ermordeten Juden zum Geburtsopfer Israels gemacht werden. So gewinnt Geschichte einen falschen Sinn, mit dem es sich aber besser leben läßt — als im paradoxen Bewußtsein, das Unbegreifbare begreifen zu wollen. Emanzipation aus vorbürgerlichen Verhältnissen schien möglich, aus menschlichen Verhältnissen, die wir mit dem Wort Auschwitz kenn-zeichnen, nicht. Daraus gibt es nur eine Befreiung von außen, die ein Leben schenkt — danach, aber keine Befreiung im Sinne von neuem Leben. In der kritischen Theorie nach Auschwitz ist immer die Selbstreflexion auf bloßes Entronnensein erhalten geblieben, die den Opfern die Treue hält, ohne deren Erfahrung als die eigene zu usurpieren. Popularisierung und Ausschlachtung, signifikante Merkmale der Medienschlacht um den zum »Holocaust« entwirklichten Massenmord in den Konzentrationslagern der Nazis, finden sich in den Schriften von Horkheimer und Adorno nicht, sondern die Betonung von Distanz und Reflexion, die nur aus Distanz möglich ist.

Auschwitz zersetzt die Erfahrung. Ohne die Erfahrungsmöglichkeit zerfällt aber die Fähigkeit der Subjekte, sich dem Antisemitismus zu widersetzen. Die antisemitische Gesellschaft transformiert sich, ohne den Antisemitismus zu zerstören. 1947 sahen sich Horkheimer und Adorno genötigt, an die »Elemente des Antisemitismus« eine Nachschrift anzuhängen, die mit dem provozierenden Satz beginnt: »Aber es gibt keine Antisemiten mehr.« [25] Viele Leute meinen, man brauche nur diesen Satz zu zitieren, um die komplette historische Idiotie von Horkheimer und Adorno bloßzulegen. Aber noch mehr als sonst kommt es beim Antisemitismus auf den Zusammenhang an. Die Bestimmung des Zusammenhangs ergibt erst den spezifischen Stellen-wert und damit auch Inhalt des Antisemitismus an. Das ist nicht nur funktionalistisch, wie Rürup meint, sondern dialektisch, als Funktion und Verselbständigung, zugleich, die mit Auschwitz bezeichnet wird. »Die erfahrungsmäßigen ‚Elemente des Antisemitismus’«, heißt es in der erwähnten Nachschrift zur »Dialektik der Aufklärung«, »außer Kraft gesetzt durch Erfahrungsverlust, der im Ticketdenken sich anzeigt, werden vom Ticket nochmals mobilisiert. Als bereits zersetzte schaffen sie dem Neo-Antisemiten das schlechte Gewissen und damit die Unersättlichkeit des Bösen.« [26]

Die Geschichte nach 1945 ist von der Durchsetzung der »Ticketmentalität« gekennzeichnet. Horkheimer und Adorno wollen mit diesem Ausdruck eine Veränderung im ideologischen Prozeß markieren, der mit kulturindustrieller Organisation zusammenhängt. Auf die Analyse des Antisemitismus angewandt bedeutet es, daß der spezifische antisemitische Zusammenhang nach Auschwitz ein anderer geworden ist als vorher. Das Pseudos antisemitischer ldeologiebildung bestand schon von Beginn an darin, den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang in den Augen der Unterdrückten so zu verzerren, als ob am Ende die Frage einer menschenwürdigen Existenz von dem richtigen oder falschen Umgang mit den Juden abhinge. Wir haben den vorkapitalistischen Antisemitismus in Europa als integralen aber marginalen Bestandteil von Herrschaft gekennzeichnet, die Geldzirkulation und jüdische Existenz im falschen Bewußtsein der Unterdrückten zusammenschmiedet. Mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft verändert sich dieses Bewußtsein, weil oberflächlich die bürgerliche Gesellschaft aus einem Netz von Tauschbeziehungen zu bestehen scheint. In der antisemitischen Vorstellung bedeutet das: »Die Juden sind überall.« Der entscheidende Schritt in der modernen Geschichte wird mit der Universalisierung der Warenproduktion gemacht, alles wird nun Gegenstand sachlicher Verhältnisse — sogar die Äußerung menschlicher Subjektivität, die menschliche Arbeitskraft. Mit dieser Universalisierung der zirkulativen Möglichkeiten werden auch die Idiosynkrasien, die an der marginalen Zirkulation hingen, universalisiert. Der einst marginale Antisemitismus, integraler Bestandteil christlicher Kultur, verwandelt sich in eine Alltagsreligion, die durch den Mechanismus der Personalisierung in der verdinglichten Welt etwas gibt, woran man sich halten kann: Haß auf den Juden.

Erst die bürgerliche Gesellschaft wird zur antisemitischen Gesellschaft par excellence. Das Mittel der Personalisierung übersetzt im psychischen Prozeß die sachlich geronnene vermittelte Realität zurück in die unmittelbare Beziehungswelt von Personen, der Psychologismus des kleinen Mannes. Die Juden scheinen überall, obwohl es nur der Wert ist, der sich an alles heftet. Diesen Prozeß nenne ich Alltagsreligion, der mit den Mitteln psychoanalytischer Religionskritik begriffen werden kann. Der Antisemitismus phantasiert eine faktische Wirklichkeit um in psychische Realität, die sich leichter ertragen läßt. Als Massenphänomen könnte man ihn als »Schiefheilung« gesellschaftlichen Unglücks begreifen, die nicht anormalisierend und asozialisierend wirkt wie die individualisierende Neurose, sondern zum integralen Bestand-teil des Alltagslebens wird. Im antisemitischen Meinen wird ständig legitime Gewalt in der psychischen Realität ausgeübt. Das waren ja nur Worte, »persönliche« Meinung. Hypostasierte Meinung — wissen wir — ersetzt die Gewalttat oder ist ein Versprechen auf sie. Die moderne antisemitische Propaganda beutet dieses Versprechen aus — ein Hauch von Raub und Vergewaltigung schwingt bei jedem Satz des Redners mit. Mit der Universalisierung des Warentausches ist die gesellschaftliche Dynamik bezeichnet, die der Antisemitismus auf dem Weg vom vorkapitalistischen ins kapitalistische Europa erhält. Die differenzierte historisch-gesellschaftliche Darstellung läßt sich an dieser Stelle nicht weiter durchführen. Es scheint nun aber offensichtlich zu sein, wie tief der Antisemitismus in der europäischen Geschichte verankert ist, die das wichtigste universale Gesellschaftsmodell hervorgebracht hat, den Kapitalismus. Um die bestimmte Gestalt des modernen Antisemitismus zu beschreiben, müßten wir eine Darstellung des Nationalismus anschließen. Moderner Antisemitismus und Nationalismus lassen sich nicht voneinander trennen; der Nationalismus bietet den abstrakten Warenbesitzern die Identifikationsmöglichkeit. Dieser Nationalismus in seiner besonderen deutschen Gestalt kann hier nicht im einzelnen analysiert werden; aber viele psychische Mechanismen wie etwa der der Projektion lassen sich an ihm genau studieren. Doch die Tendenz der phantasierten jüdischen Weltherrschaft ließ sich schon aus der Verschwisterung von Wert und Unbewußtem ablesen.

Das allerdings, was in Auschwitz geschah — ich nenne diesen Ortsnamen, weil es keinen adäquaten Begriff für das Geschehen gibt —, ließ sich nicht vorhersehen. Es ist auch auf dieser Stufe wichtig, Auschwitz nicht durch Einordnen und Klassifizieren zu verharmlosen. Auschwitz hat die Dimensionen des vorkapitalistischen und des modernen Antisemitismus gesprengt. Auschwitz läßt die Psychologie hinter sich, es geht um die reale Tat, die eiskalte Sachlichkeit des Tötens. Wie wir von führenden Nazis wissen, ist eine zentrale Aufgabe der Vernichtungsmaschinerie die Abstraktion von der Emotionalität, die im Sportpalast noch gefordert war. Die Alltäglichkeit des Antisemitismus, der vorkapitalistische Pogrom und der. agitatorische Ausnahmezustand bilden die Vorbedingungen von Auschwitz, sind aber nicht identisch mit dem Geschehen. Zu Auschwitz gehört eine Qualität des Individuurns, die Adorno die »Kälte des bürgerlichen Subjekts« genannt hat. Diese Qualität trifft auf den Schreibtischtäter ebenso zu wie auf den gleichgültigen Unterstützer, der es gar nicht genau wissen will — währenddessen und nacher. »Es muß doch endlich einmal Schluß sein…« — sagte man in Deutschland schon ungeduldig, unmittelbar nach 1945, Stunde Null.

Die Alltäglichkeit des Antisemitismus kehrt wieder: mit dem modernen Antisemitismus der bürgerlichen Gesellschaft hat es so angefangen, als ob jeden Tag die Stunde Null wäre. Zur herrschenden Ideologie gehört im Westen wie im Osten: Antisemitismus hat es gegeben, aber es gibt ihn nicht mehr. Diese Auffassung folgt aus dem Rationalismus des Warenbesitzers, aus seinem falschen Bewußtsein, seiner freundlichen Fassade — die Gewalt war gestern, im finsteren Mittelalter — oder was man gerade hinter sich gelassen glaubt. Diese Fassade impliziert, daß der explizite Antisemitismus auch Schauspiel war: Ersatz und Versprechen. In dem gesellschaftstheoretisch klarsten Aufsatz zum Antisemitismus notierte Adorno eine Beobachtung an den faschistischen Massen: »Theatralisch sind die Führer ebenso wie der ldentifizierungsakt der Masse, ihre angebliche Raserei und ihr Fanatismus. So wenig wie die Menschen im Innersten wirklich glauben, daß die Juden Teufel sind, glauben sie ganz an den Führer. Sie identifizieren sich nicht mit ihm, sondern agieren diese Identifizierung, schauspielern ihre eigene Begeisterung und nehmen so an der `Show‘ des Führers teil.« [27]

Aus diesem Grund scheint es uns notwendig, vom Antisemitismus als Ausnahme zur Analyse der Produktion von Antisemitismus im Alltag zurückzukehren. Diese Produktion ist 1945 überhaupt nicht unterbrochen, nicht einmal bewußt gemacht worden. Die Psychoanalyse kann dazu dienen, die Verankerung des Antisemitismus im Unbewußten aufzudecken. Das herrschende Bewußtsein tabuiert den Antisemitismus und reproduziert ihn zugleich. Die Lage würde nicht besser, wenn das Tabu aufgehoben würde — ein Tabu, an dem die Kulturindustrie ständig rüttelt — wie zum Beispiel im Frankfurter Faßbinder-Skandal. Das Tabu wird auch von oben politisch gehandhabt, wie es in Deutschland ständig zu erleben ist. Die Arbeitsteilung des seriösen Herrn und des ressentimentsspeienden Dieners wird stets neu einstudiert. Mit der Wiederkehr des Antisemitismus in neuer, verwandelter Gestalt stößt kritisches theoretisches Denken an die Grenze. Die ihrer Grenzen bewußte Aufklärung weiß, warum sie hier nicht haltmachen kann.

Der Wechsel der Gesellschaftsformen verändert den Charakter des Antisemitismus. In der vorbürgerlichen Gesellschaft bedeutet Vorurteil ein öffentlich vollstrecktes Urteil an eine Gruppe, die konkret nichts getan haben muß. Vor-Urteil bedeutet für die Juden, daß sie öffentlich gekennzeichnet werden in ihrer Kleidung, daß sie nur an ganz bestimmten, eingegrenzten Orten wohnen durften und nur ganz beschränkte Rechte genossen. In einem hundertjährigen Prozeß wandelt sich das traditionelle antisemitische Vorurteil von 1770 bis 1870 in Europa zum modernen Vorurteil, das als Ressentiment gegenüber den Juden als einer kaum mehr sichtbaren Gruppe geltend gemacht wird. Die antisemitische Propaganda identifiziert die anonyme ökonomische Ordnung mit der geheimen Macht der Juden. Sie lebt von der Enthüllung unsichtbarer Ursachen für sichtbare Mißstände. Aus diesem Widerspruch entsteht auch das ständige Auf und Ab der antisemitischen Parteien, kurze Aufschwünge werden von langen Flauten abgelöst.

Mit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung nach dem ersten Welt-krieg verändert sich der Charakter des modernen Antisemitismus noch einmal. Der Antisemitismus wird in der nationalsozialistischen Ideologie kombiniert mit Anti-Kapitalismus und Anti-Bolschewismus. Die Erfahrung von Krieg und Bürgerkrieg legitimiert in ihren Augen die Aufhebung des Tötungstabus, bis der Feind rücksichtslos ausgerottet ist. An die Stelle unmittelbarer Gewalt tritt die militärische Disziplin. Schon früh spricht Hitler deshalb von einem »Antisemitismus der Vernunft«, mit dem er sich von der bloßen Propaganda der Antisemitenparteien aus dem Kaiserreich distanziert. Die Nationalsozialisten meinen es ernst.

Auschwitz, das fabrikmäßige Töten von wehrlosen Menschen, wird erst möglich, wenn an die Stelle von antisemitischer Boykottpropaganda, Sportpalastagitation und pogromartiger Plünderung, bürokratische Rationalität, technische Abläufe und militärische Disziplin treten. Das Universum der Vernichtungslager ist ohne die Kälte und Indifferenz nicht möglich, die Charaktereigenschaften von modernen gesellschaftlichen Menschen geworden sind. Auch diese subjektive Bedingung von Auschwitz, die Gleichgültigkeit gegenüber Opfern, besteht nach Auschwitz fort. Verdeckt wird diese Gleichgültigkeit durch die emotionalen Wellen sentimentaler Verkitschung, die vorgibt, sich in Täter und Opfer einfühlen zu können. Das Fortexistieren des Antisemitismus nach Auschwitz drückt sich eher noch als in alten Naziparolen in der Gleichmacherei von Tätern und Opfern aus, die dann Identifikation mit dem Kollektiv ermöglicht, zu dem man sich gehörig fühlt. Die Unbestimmtheit der Gefühlswelt droht in die Bestimmtheit eines neuen bornierten Bewußtseins von nationaler ldentität umzuschlagen. An diesem gefährlichen Wendepunkt im öffentlichen Bewußtsein befinden wir uns heute, jetzt.

Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten am 18. März 1987 auf der internationalen „Tagung »Ebraismo e antiebraismo; immagine e pregiudizio« in Florenz/Italien

Verweise

1 nachgedruckt in: Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975, S. 113f 
2 WalterBoehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Ffm 1965, vgl. dazu auch: Der Berliner Antisemitismusstreit, auch ein Historikerstreit; in: Detlev Claussen (Hg.): Vom Judenhaß zum Antisemitis mus, 1987, S. 130ff
3 nach: Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus; Ffm 1959, S. 11
4 ebd., S. 10
5 Rürup, a.a.O., S. 168
6 ebd., S. 181
7 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 12, Ffm 1985, S. 167
8 Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Ffm 1976, S. 108f, vgl. : Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, Ffm 1987, S. 25ff
9 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Ffm 1985, S. 156
10 Horkheimer, a.a.O., S. 182
11 vgl. Detlev Claussen, Abschied von gestern — Kritische Theorie heute, Bremen 1986                                                                         12 Heinrich Heine, Werke und Briefe, Bd. 3, Berlin und Weimar 1980, S. 259                                                                                           13 13 Rürup, a.a.O., S. 18
14 Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, Bd. 1, Ffm 1975, S. 167f
15 Ludwig Marcuse, Ludwig Börne, Zürich 1977, S. 11f
16 Theodor W. Adorno, Eingriffe, Ffm 1963, S. 150
17 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion; in: Gesammelte Werke Bd. XVI, London 1950, S. 198
18 Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. V, Worms 1983
19 Margherita von Brentano, Die Endlösung —ihre Funktion in Theorie und Praxis des Faschismus; in: H. Huss/A. Schnöder, Antisemitismus, Ffm 1965, S. 56
20 MaxHorkheüner, Deutschlands Erneuerung nach dem Krieg und die Funktion der Kultur; in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, Ffm 1985, S. 187f
21 Max Horkhejmer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 234
22 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Ffm 1951, S. 65
23 ebd.
24 ebd. S. 6Sf
25 Horkheimer/ Adorno, a.a.O., S. 235
26 ebd. 5. 242
27 Theodor W. Adorno, Freudian Theory and the pattern of Fascist Propaganda (1951); dt. in: Helmut Dahmer (Hg.), Analytische Sozialpsychologie, Ffm 1980, S. 340

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