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Und sie bewegt sich doch

Zwischenbemerkungen zur »Erneuerung der SPD«

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 24-32

Mindestens fünfzehn Jahre Opposition hatte Herbert Wehner seiner Partei vorausgesagt, als sie 1982 aus der Regierung gedrängt wurde. Manche Kritiker der SPD sahen damals sogar schon das »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts« heraufziehen. Führende Genossen hingegen glaubten mit einer »erneuerten Partei« bereits 1987 wieder »auf Sieg setzen« zu können. Seit dem Desaster bei der Bundestagswahl und nachdem mit dem Duo Vogel/Fuchs zwei alte Bekannte statt der »Enkel-Generation« die Führung der Sozialdemokratie übernommen haben, ist kaum mehr die Rede von der Erneuerung der SPD. Bewegt sich inhaltlich nichts mehr bei der größten westdeutschen Oppositionspartei?

Immerhin will sich die SPD in knapp zwei Jahren ein neues Grundsatzprogramm geben, das das Godesberger Programm von 1959 ersetzen soll. Godesberg hatte sich im nach hinein als Schlüssel zur Regierungsmacht erwiesen, weil sich die Partei seinerzeit offiziell zur sozialen Marktwirtschaft, also zur kapitalistischen Ordnung, in der Bundesrepublik bekannte. Die ökonomische Neuorientierung, das auf der Grundlage von Godesberg entwickelte Konzept einer keynesianischen Globalsteuerung der westdeutschen Wirtschaft hatte der SPD 1966 den Eintritt in die Große Koalition verschafft. Umgekehrt führte die Rückwendung des Bürgertums zu konservativen wirtschaftspolitischen Strategien, die sich 1982 im sogenannten Lambsdorff-Papier ausdrückte, zum Sturz des sozialdemokratischen Kanzlers Helmut Schmidt. Von daher erscheint es zwingend, den Stand der wirtschaftspolitischen Debatte in der SPD als Gradmesser für ihre viel beschworene Lernfähigkeit und ihre möglicherweise wiedergewonnene Regierungsfähigkeit zu nehmen.

Der wirtschaftspolitische Lernprozeß der Sozialdemokratie begann bereits Mitte der siebziger Jahre. Damals versagte ganz offensichtlich das keynesianische Erfolgsrezept, nach dem überall dort, wo sich Krisentendenzen abzeichneten, der Staat als Nachfrager einspringen sollte. Es zeigte sich, daß eine staatliche Nachfrageregulierung angesichts riesiger, weltweit zirkulierender Kapitalmassen nicht mehr zur Vollbeschäftigung, sondern nur zu einer ständig wachsenden Staatsverschuldung führte. Notgedrungen suchte die Partei deshalb nach einem neuen Konzept. Bereits 1975 legten Volker Hauff und Fritz Scharpf einen Ansatz dafür vor, den sie »aktive Strukturpolitik« nannten und der zunehmend zur Handlungsanleitung für sozialdemokratische Wirtschaftspolitiker wurde. Da für den Staat das Geld immer knapper werde, stellten Hauff und Scharpf fest, könne er nicht mehr eine gleichmäßige Entwicklung aller Sektoren zu fördern versuchen. Vielmehr, so empfahlen sie, hätte er sich darauf konzentrieren sollen, solche Branchen zu unterstützen, denen Erfolge auf dem Weltmarkt zuzutrauen seien. Durch Spitzenleistungen und Exporterfolge in »Zukunftsbranchen« sollten die Importe in anderen Gebieten mehr als kompensiert werden. Die Vorschläge von Hauff und Scharpf liefen darauf hinaus, die vom Kapital eingeleiteten strukturellen Veränderungen zu beschleunigen, um so die Chancen der »Zukunftsbranchen« auf dem Weltmarkt zu erhöhen. Sie hofften, die in den »alten« Branchen wegfallenden Arbeitsplätze durch zusätzliche in den neuen Industrien ersetzen zu können.

Die »aktive Strukturpolitik« ähnelte auf den ersten Blick einer konsequenten Fortsetzung des alten Keynesianismus. Da das Geld knapper wurde, erschien es einleuchtend, daß der Staat es dort einsetzte, wo am schnellsten Erfolge zu erwarten waren. In Wahrheit stellte das Konzept von Hauff und Scharpf aber den Keynesianismus auf den Kopf. Der Staat griff jetzt weniger den Branchen oder Regionen unter die Arme, die von der Krise besonders betroffen waren. Er förderte vielmehr gezielt jene, die ohnehin schon stark waren. Für absterbende Branchen wie die Stahlindustrie sollten allenfalls noch »Sterbehilfen« gezahlt werden, um »soziale Explosionen« zu verhindern.

Der auf ein stetiges Wirtschaftswachstum gegründete soziale Konsens blieb dennoch erhalten. Die Arbeiter-Wähler vertrauten weiterhin auf die Fähigkeit der SPD, als Regierungspartei die Krise zu meistern und wieder für Vollbeschäftigung zu sorgen. Die Gewerkschaften gingen nicht gegen die beginnenden Massenentlassungen auf die Straße, sondern demonstrierten für jene Branche, die zum Symbol für die vermeintliche neue Industrie-Struktur wurde: die Atomwirtschaft.

Um die in der gesamten Republik errichteten Atomkraftwerke sollten »neue Ruhrgebiete« entstehen. Atommeiler »Made in Germany« galten als Exportschlager der Zukunft. Nachdem das alte Wachstumsmodell, das auf dem massenhaften Konsum von Verbrauchsgütern beruht hatte, auslief, schien ein neues gefunden.

Doch die Träume von gigantischen Industrieansiedlungen und Exportrekorden blieben Illusionen. Einige Sozialdemokraten begannen daher, sich von dem mit dem Atom verbundenen Wachstumsmodell wieder zu lösen. Sie mußten allerdings wie Hans-Ulrich Klose feststellen, daß ein Ausstieg aus diesem Modell trotz dessen offensichtlichen Scheiterns von großen Teilen der Partei nicht mitgetragen wurde.

Die Schwäche der lauter werdenden innerparteilichen Opposition bestand darin, daß sie mit der Forderung nach einer Politik des »qualitativen Wachstums« keine grundlegende Alternative formulieren konnte. Die von ihrem Wortführer Erhard Eppler beschriebenen »Wege aus der Gefahr« bestanden — ökonomisch betrachtet — aus einer Mischung von alten keynesianischen Rezepten und einer anderen Form von »aktiver Strukturpolitik«. Wie auch Hauff und Scharpf verlangte er vom Staat, er solle bestimmte technologische und wirtschaftliche Entwicklungslinien (»Pfade«) aufgreifen und fördern. Diese »Pfade« seien aber nicht nach Weltmarkt-, sondern nach sozial-ökologischen Kriterien auszusuchen. Durch Akzentverschiebungen im Haushalt sollte der Staat die Wirtschaft auf die richtigen »Pfade« dirigieren, ohne die Autonomie des Kapitals anzutasten.

Epplers Ansatz hätte zu einer gewaltigen Ausdehnung der staatlichen Nachfrage und zu einer Wiederbelebung des Keynesianismus führen müssen. Genauso wie die Politik des »Weltwirtschaftskanzlers« Schmidt sollte das »qualitative Wachstum« allen Klassen zugute kommen und am behaupteten gemeinsamen Produktionsinteresse von Arbeit und Kapital ansetzen. Es klammerte die sich verschärfenden Klassenwidersprüche und die härter werdenden Verteilungskonflikte aus und erschien deshalb nur als ein anderer Weg zum selben Ziel. Schmidt war so nicht ernsthaft herauszufordern, weil das Konzept wirtschaftspolitisch lediglich Strategien anbot, die bereits erprobt worden waren und nicht funktioniert hatten.

Genauso wenig wie Schmidts innerparteiliche Kritiker hatte die damalige Opposition eine wirtschaftspolitische Alternative vorzuweisen. Die Konturen eines neuen marktwirtschaftlichen Wachstumsmodells kannte seinerzeit niemand. Deshalb, so argumentierten die Konservativen, solle sich der Staat aus der Wirtschaft zurückziehen und die Marktkräfte ungehemmt wirken lassen. Das freie Unternehmertum werde dann schon neue Wachstumsfelder finden und ein neues Wachstumsmodell kreieren. Immer größere Teile der FDP schlossen sich dieser ldeologie an und spätestens mit der ersten »Haushaltsoperation« 1981 unterwarf sich ihr auch die SPD. Sie leitete die »Entfesselung der Marktkräfte« durch den Abbau sozialstaatlicher Leistungen aktiv mit ein, womit ihre eigenen Wähler empfindlich getroffen wurden.

Als sich, auch in der Folge dieser Politik, von 1980 auf 1982 die Arbeitslosenzahlen verdoppelten, war die Geduld der Arbeiter mit »ihrer« Regierung zu Ende. Bei den anstehenden Landtagswahlen blieben viele zu Hause. Die Stuttgarter Massendemonstration machte der Partei klar, daß ihr Bündnis mit den Gewerkschaften gefährdet war. Schon aus reinem Selbsterhaltungswillen heraus mußte sich die SPD deshalb der Forderung nach einer Verschärfung der Kürzungspolitik — wie sie der damalige Wirtschaftsminister Lambsdorff in seinem berüchtigten Papier verlangte — verweigern, auch wenn dies den Verlust der Regierungsmacht nach sich zog.

Seitdem setzte die Rechts-Koalition die von Schmidt begonnene Politik in verschärfter Form fort. Sie kürzte nicht nur quantitativ mehr, sondern ging auch qualitativ weiter, indem sie etwa mit der Änderung des §116 die Gewerkschaften offen angriff. Während woanders die Kontinuität weitgehend gewahrt wurde, bestand in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der neuen Koalition die eigentliche Wende. Zu dieser Politik eine Alternative zu entwickeln, darin mußte folglich in erster Linie die versprochene »Erneuerung der SPD in der Opposition« bestehen.

Zumindest auf den ersten Blick ist davon aber wenig zu sehen. Die Beiträge sozialdemokratischer Parlamentarier erschöpfen sich meist in einer eher moralischen Kritik an der Umverteilung von unten nach oben, ohne eine Gegenstrategie aufzuzeigen. Die klarste wirtschaftspolitische Aussage des Kanzlerkandidaten Rau bestand seinerzeit darin, daß er alle Kürzungen der Regierung zurücknehmen wollte. Kurz darauf schränkte er ein, er werde nur in ganz wenigen Punkten den alten Zustand wieder herstellen. Als Gegenstrategie kann das wohl kaum gelten.

Anderen prominenten Parteiführern, die in den letzten Jahren in Büchern über die wirtschaftspolitische Erneuerung der SPD nachgedacht haben, ist auch nicht viel Aufregendes eingefallen. Wolfgang Roth (»Der Weg aus der Krise«) und Peter Glotz (»Die Arbeit der Zuspitzung«) bedauern vor allem, daß die SPD sich von ihren doch eigentlich richtigen Konzepten der siebziger Jahre habe abbringen lassen. Wirtschaftspolitisch würden sie am liebsten da weitermachen, womit Schmidt aufhören mußte. Von der oft versprochenen Lernfähigkeit ist in ihren Werken wenig zu spüren.

Daß sich die führenden Sozialdemokraten so schwer von ihren alten Konzepten verabschieden können, hat einen einfachen Grund: Während die Rechts-Koalition in Bonn unter den Stichwort »mehr Markt« vor allem strukturpolitischen Kahlschlag betrieb, wurde von den Unions-Regierungen in Baden -Würtemberg und Bayern fast genau jene »aktive Strukturpolitik« umgesetzt, die Hauff und Scharpf vorgeschwebt hatte — und das auch noch vergleichsweise erfolgreich.

Statt neue Ruhrgebiete zu errichten, hat man im Süden der Republik jene Branchen gefördert, die sowohl die wachsende Nachfrage wohlhabender Mittelschichten nach Luxusgütern und anspruchsvollen Dienstleistungen befriedigen, als auch auf den expandierenden Rüstungsmärkten erfolgreich sind. Auf diesen beiden Säulen, Mittelschichtenkonsum und Waffen, beruht der derzeitige weltweite Aufschwung in erster Linie. Genau auf diese Märkte sind jene Konzerne zugeschnitten, die in den letzten Jahren in den Großräumen Stuttgart und München um Firmen wie Daimler-Benz, MBB, Siemens etc. mit massiver Unterstützung der Landesregierungen entstanden sind. Hier ließ sich tatsächlich ein neues Wachstumsmodell etablieren, auch wenn der Konjunkturabschwung in den USA bereits heute anzeigt, daß sich daraus keines-falls ein zweites »Wirtschaftswunder« und schon gar kein Beschäftigungswunder entwickeln wird.

Daß Unionspolitiker das Konzept der »aktiven Strukturpolitik« so viel besser anwenden konnten als dessen Erfinder, hatte vor allem zwei Gründe. Zum einen gab es in ihren Ländern weniger »alte« Industrien, die absterben mußten. Zum anderen ergänzten sie den Entwurf von Hauff und Scharpf um eine wichtige mittelständische Komponente. In den kleinen und mittleren Unternehmern sahen sie Initiatoren für strukturelle Neuerungen, die sie gezielt förderten. Besonders im Dienstleistungsbereich wurde der neue Mittelstand neben den Großkonzernen zu einer Stütze des Aufschwungs.

Die SPD hatte diese traditionell CDU-wählende Gruppe zunächst vernachlässigt. Nach kurzer Oppositionszeit versuchte die Parteiführung aber bereits, diese Lücke im Programm zu schließen. Schon der erste Entwurf der wirtschaftspolitischen Programmkommission versprach Ende 1983, »Freiräume für die Entwicklung kleinerer und mittlerer Unternehmen (zu) schaffen, auf deren Innovationen wir angewiesen sind.« Auf dem Wirtschaftskongreß in Hamburg im Mai 1986, wo die SPD der »Fachwelt« ihre wiedergewonnene ökonomische Kompetenz beweisen wollte, stellte sie dann den »unternehmenden Unternehmer« in den Mittelpunkt ihrer Politik. Die Partei-Linke kritisierte zu Recht, daß in den dort vorgelegten Papieren keine programmatisch-richtungsweisende Linie mehr zu erkennen sei, die sich von der aufgeklärter Konservativer noch unterscheide.

Von staatlicher Regulierung der Ökonomie, für die SPD früher immer eingetreten war, war kaum noch die Rede. Allenfalls das Programm »Arbeit und Umwelt« konnte noch als ein Schritt in diese Richtung verstanden werden. Aber »Arbeit und Umwelt« war kein staatliches Beschäftigungsprogramm mehr, das gleichzeitig zur Reparatur von Umweltschäden beitragen soll. Im Kern ging es nur noch darum, getreu konservativen Mustern die Rahmenbedingungen für die Unternehmen so zu gestalten, daß die ökologischen Probleme »im Rahmen marktwirtschaftlicher Prozesse abgearbeitet werden können« (Willy Brandt). Dazu ist neben veränderten Rahmenbedingungen durch verschärfte Grenzwerte, wie sie auch der CSU-Minister Zimmermann erlassen hat, eine größere Nachfrage der Kommunen nach Umwelttechnologien nötig, wie sie mittlerweile auch der neue CDA -Vorsitzende Ulf Fink fordert. Hier setzte die SPD mit »Arbeit und Umwelt« an. Gemäß diesem Programm sollte die Kreditanstalt für Wiederaufbau den Kommunen für Umweltinvestitionen zinsverbilligte Darlehen anbieten. Die Gelder für die Zinssubventionen sollten aber nicht der Staat, sondern die Verbraucher aufbringen, die die SPD mir einer Energieabgabe belasten will.

Nach unterschiedlichen Schätzungen könnten auf diese Weise 200 000 bis 400 000 Arbeitsplätze geschaffen werden — und zwar innerhalb von zehn Jahren! Daß die SPD-Führung dieses Programm angesichts einer Sockelarbeitslosigkeit von über zwei Millionen unter der Überschrift »dem Abschwung begegnen« neu präsentierte, zeigt mehr als deutlich, wie wenig wirtschaftspolitische Alternativen gegenüber den Konservativen sie tatsächlich besitzt.

Ganz schuldlos an dieser Entwicklung war aber auch die Partei-Linke nicht. Wirtschaftspolitische Positionspapiere, die während der »Erneuerungsphase« etwa die »Parlamentarische Linke« oder der »Frankfurter Kreis« vorgelegt hatten, versuchten nur, die Diskussion um alte keynesianische Rezepte oder das »qualitative Wachstum« wiederzubeleben. Neue Ideen wurden nicht entwickelt und so spielten die Papiere in der innerparteilichen Diskussion kaum eine Rolle.

Dennoch wurde die Vorlage der wirtschaftspolitischen Programmkommission nicht Bestandteil jener Nürnberger Beschlüsse, mit denen die Partei ihre programmatische Erneuerung dokumentieren wollte. An ihrer Stelle wurde ein eilig zusammengeschriebener Kompromißantrag angenommen, der sich vom Papier des Vorstands nicht grundsätzlich, wohl aber in der Tonlage, unterschied. Die Ansicht der Parteiführung, daß zur Überwindung der Arbeitslosigkeit ein »soziales Bündnis« von Staat, Bundesbank und Tarifparteien notwendig sei, wurde nicht mehr erwähnt. Stattdessen wurde die Forderung nach mehr »Mitbestimmung, Mitwirkung und Teilhabe der Arbeitnehmer« stärker betont. Gegenüber der ursprünglichen Vorlage stellt das insofern nur eine Akzentverschiebung dar, als auch die Partei-Spitze schon lange für »eine neue Runde der Mitbestimmung und des Mitbesitz« eingetreten war. Nachdem sich die beiden großen Parteien mit ihrer auf ein Wachstum der »Zukunftsbranchen« gerichteten Strukturpolitik weitgehend angeglichen hatten, sah die SPD an dieser Stelle noch eine Lücke im Programm der Union. Nur die Sozialdemokratie, so Peter Glotz, sei in der Lage, den anarchischen Strukturwandel auf Seiten des Kapitals gesamtgesellschaftlich in einen Prozeß »sozial gesteuerter Innovationen« zu überführen.

Das soll über die »Beteiligung am Sagen und Haben« geschehen. Unter Beteiligung am Haben verstehen Sozialdemokraten die Gründung von Investmentfonds, die tarifvertraglich zu vereinbaren wäre. Weil quasi ein Teil ihres Lohns dorthin flösse, wären die Beschäftigten Anteilseigner dieser Fonds, die von den Gewerkschaften mitverwaltet und eventuell vom Staat steuerlich begünstigt würden. Durch zukunftsträchtige Investitionen sollten die Fonds Arbeitsplätze schaffen. Die Gewerkschaften würden also eine Unternehmerrolle übernehmen. Das Desaster der Gemeinwirtschaft beweist, daß sie sich dann notgedrungen an den Sachzwängen des Marktes, statt an den Interessen von Beschäftigten orientieren müßten.

Bei einer Ausweitung der Mitbestimmung geht es allen Flügeln der SPD im Gegensatz zu früher nicht mehr um die Gewerkschaften als Gegenmacht, die mehr Einfluß erhalten soll. Vielmehr soll heute die »antagonistische Kooperation« (Glotz) institutionell abgesichert werden, sollen die Gewerkschaften in den Prozeß des Strukturwandels eingebunden werden, damit sie die »schmerzhaften Entscheidungen« mittragen und so den sozialen Konsens stabilisieren helfen. Diese Rolle hatten ihnen schon Hauff und Scharpf zugedacht. Sie wird heute von Glotz und Roth ebenso wie vom Partei-Linken Lafontaine in beinahe erstaunlicher Offenheit hervorgehoben, während sich die SPD im gegenwärtig wichtigsten Klassen-Konflikt um die Arbeitszeit und um Flexibilisierung merklich zurückhält.

»Wer die dritte industrielle Revolution ohne die Aufklärungs- und Vermittlungskompetenz (sic!) der Gewerkschaften durchstehen will, ist ein Narr und wird nichts anderes provozieren als moderne Weber-Aufstände«, warnt Glotz die Konservativen und die Unternehmer. Auch Lafontaine hielte es für ungeschickt, den ökonomisch wie ökologisch notwendigen Wandel ohne oder gegen die Gewerkschaften durchführen zu wollen. Er zählt sie zwar nicht zu den Kräften des »anderen Fortschritts« (Buchtitel), für den er eintritt, aber sie sind mit seiner Politik angesprochen. Wer ganze Industrieanlagen stilllegen wolle, ohne über das Schicksal der Beschäftigten ein Wort zu verlieren, der »muß sich die Gewerkschaften zum Gegner machen, die in dem Maße immer strukturkonservativ sein werden, wie sie nicht zulassen können, daß die Existenzgrundlagen der Arbeitnehmer von heute auf morgen vernichtet werden.« Auch wenn sich Lafontaine mit diesem Hinweis explizit an die Ökologen wendet, sind natürlich ebenfalls die Konservativen gemeint, deren Politik ja tatsächlich die Stilllegung ganzer Industrieanlagen zur Folge hat.

Den Strukturwandel so zu organisieren, daß die Gewerkschaften nicht in die Rolle einer trotzigen, strukturkonservativen Gegenmacht gedrängt werden — das trauen die Sozialdemokraten nur sich selbst zu; und in dieser Fähigkeit sehen sie mittelfristig ihren entscheidenden Vorteil im Ringen um die wirtschaftspolitische »Meinungsführerschaft«. Nicht zufällig bezeichnete denn auch die Parteizeitung »Vorwärts« ein gemeinsames Papier von Hermann Rappe (IG Chemie) und Franz Stein-kühler (IG Metall) als »Durchbruch« und »Schulterschluß« in der innerparteilichen Debatte. Die beiden Gewerkschafter begrüßten das Bemühen der Partei-Führung um soziale Bündnisse und rechtfertigten auch »Solidaropfer« von Beschäftigten, wenn die Lasten insgesamt gerecht verteilt würden. Vorher schon hatte der Gewerkschaftsrat der SPD angeboten, »an der Bewältigung der Wirtschafts- und Beschäftigungskrise mitzuwirken« und »eine sozial gerechte Anpassung der Einrichtungen des Sozialstaates an die wirtschaftliche Entwicklung mitzutragen«. Zur großen Enttäuschung von Peter Glotz wollte aber damals niemand auf dieses Angebot eingehen.

Folgerichtig führten die Sozialdemokraten einen Wahlkampf unter dem Motto »Versöhnen statt Spalten« und stellten sich als einzige Partei dar, die die »antagonistische Kooperation« zwischen Arbeit und Kapital organisieren könnte. Peter Glotz warnte allerdings schon damals davor, die Flexibilität eines Teils der Konservativen zu unterschätzen. Den »sensiblen Kapitalisten« unter ihnen traute er eine differenziertere Strategie gegenüber den Gewerkschaften zu, als sie die »Wende-Regierung« in ihren ersten Amtsjahren verfolgte. »Biedenkopf und Späth … halten sich als Führer bereit, wenn der harte Kurs der Entsolidarisierung in einer scharfen Klassenauseinandersetzung scheitern sollte«.

Mittlerweile hat aber auch die weniger empfindsame Regierung Kohl ihren Kurs gegenüber den Gewerkschaften geändert. Ohne auf Gegenwehr der Bundesregierung zu stoßen, konnte die IG-Metall eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit und eine Erhöhung der Reallöhne durchsetzen — bewies dabei aber gleichzeitig auch jenes »Augenmaß«, das Konservative an westdeutschen Gewerkschaften schätzen: die Einführung der 35-Stunden-Woche wurde erneut vertagt und angesichts der dreijährigen Laufzeit des Tarifvertrags und der gewachsenen Flexibilisierungsmöglichkeiten konnte sich das »Handelsblatt« freuen, daß sich »die Planung von Rationalisierungsinvestitionen oder die Reform der Arbeitsorganisation« wieder lohne. In der Krisenbranche Stahlindustrie einigten sich die »Sozialpartner« mit Hilfe der Bundesregierung auf einen Sanierungsplan, der 35 000 Arbeitsplätze kostet, und auch das Überbrückungskonzept der IG Bergbau für diesen darnieder liegenden Wirtschaftszweig fand bei der Union Anklang. Die von Glotz propagierte »antagonistische Kooperation« läßt sich auch unter konservativer Hegemonie ganz gut an. Die Vermittlung eines sozialen Konsens gelingt zur Verblüffung vieler Sozialdemokraten selbst in der Krise auch ohne die alte Arbeiterpartei. Zur Verwaltung der Krise könnte die SPD allenfalls dann noch einmal gebraucht werden, wenn eine »nationale Notstandssituation« einträte — vergleichbar der Depression am Beginn der 30er Jahre. Für einen solchen Fall haben von Strauß bis Brandt immer alle maßgeblichen Politiker eine Zusammenarbeit von Union und SPD in Aussicht gestellt. Im Unterschied zu 1966 würde sich diesmal aber nicht die Union der SPD unterordnen. Vielmehr sind die Sozialdemokraten auf dem Weg, sich vollends den Konservativen anzuschließen.

Es ist erneut Fritz Scharpf, der kein Parteiamt zu verlieren hat und keine taktischen Rücksichten zu nehmen braucht, der den Rechtsschwenk der Partei offen konstatiert und befürwortet. In einer Bilanz sozialdemokratischer Krisenpolitik in Europa stellt Scharpf fest, daß überall die sozialdemokratischen Strategien gescheitert seien und nirgendwo eine Anpassung keynesianisch geprägter Konzepte an die aktuelle Situation gelungen sei. Da es einen keynesianischen Ausweg aus der Krise nicht gebe, fordert Scharpf die Partei auf, ihre eigene Niederlage einzugestehen und sich ebenfalls auf den von den Konservativen eingeschlagenen Weg der Angebotspolitik zu begeben. Wie Scharpf weiß, begünstigt eine Angebotspolitik immer die Kapitalbesitzer auf Kosten der Beschäftigten. In »Träumereien am Schreibtisch« entwickelt er deshalb das Bild »einer Ökonomie, in der im Prinzip jeder sowohl Arbeitnehmer als auch Kapitalist wäre, jeder sein Aktienpaket und jeder sein Lohnkonto hätte, (denn dann) wäre beim Wechsel zwischen Nachfrage und Angebotspolitik auch nur über graduelle Verschiebungen zwischen zwei Einkommensarten zu reden — und nicht über strategische Gewinne und Verluste im Klassenkampf«. Daß diese konservativen Träume vom Volkskapitalismus, die auch schon beim Programm der »Beteiligung am Sagen und Haben« anklangen, ausgerechnet quasi am Vorabend des großen Börsenkrachs vom 19. Oktober 1987 in der sozialdemokratischen Diskussion aufgegriffen werden, enthält schon fast tragikomische Züge. In jedem Fall macht es die ganze Hilflosigkeit und Konzeptionslosigkeit deutlich.

Solange allerdings die angestrebte Vermögensverteilung noch nicht erreicht ist und deshalb die Klassengegensätze fortbestehen, so belehrt Scharpf im übrigen die Partei, könne Vollbeschäftigung »allenfalls durch die Umverteilung von Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitseinkommen zu Lasten der großen Mehrheit der derzeit Beschäftigten« erreicht werden — mit anderen Worten: etwa durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, wie es Geißler und andere schon seit Jahren predigen. Noch ist diese Idee vom »Sozialismus in einer Klasse« nicht Programmatik der SPD, Scharpf bezeichnet sie lediglich als »Hoffnung am Ende der achtziger Jahre«. Laut-starker Protest seitens der Partei-Linken gegen die von der Presse viel beachteten Ausführungen Scharpfs war allerdings nicht zu vernehmen. Angesichts des derzeitigen Stands der wirtschaftspolitischen Programmdiskussion in der Partei bleibt zu vermuten, daß auch eine fortgesetzte Anpassung der SPD an die Konservativen auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie nicht viel mehr auslösen wird als jenes »ungute Gefühl«, das Hans-Ulrich-Klose verspürte, als er vor gut einem Jahr die Notwendigkeit der Koalitionsverhandlungen seines Hamburger Landesverbandes mit der CDU gegenüber der »taz« erläuterte.

Anders als in früheren historischen Perioden gibt es heute keine spezifisch sozialdemokratische Strategie zur Überwindung der Krise. Nicht einmal die geringsten Ansätze dafür send erkennbar. Sämtliche in der SPD diskutierten Konzepte schwanken zwischen untauglichen Versuchen, den Keynesianismus wiederzubeleben, und einer Anpassung an die Konservativen. Weil sie sich selbst unter den Bedingungen der sich verschärfenden Krise darauf beschränkt, immer wieder die Erneuerung des Klassenkompromisses anzumahnen, bewegt sich die SPD geradezu zwangsläufig nach rechts.

Ohne eine grundlegende wirtschaftspolitische Alternative ist aber auch eine gesellschaftspolitische Alternative zur sogenannten Zwei-Drittel-Gesellschaft nicht denk-bar. Die wirtschaftspolitische Programm-Diskussion in der SPD, die aus gutem Grund weitgehend hinter verschlossenen Türen geführt wird, belegt deshalb ungewollt eindrucksvoll die These vom »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts«.

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