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Volks­zäh­lung und »innere Sicherheit«

12 Thesen

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 91-98

1. Eine Auswertung des Erfolgs der staatlichen Volkszählung 1987 ist derzeit noch nicht möglich. Zu unvollständig und zu widersprüchlich sind die Daten über den Umfang von »hartem« und »weichen Boykott« und über die Fehlerquoten in den Bögen. Während z.B. für die größeren Städte Baden-Württembergs zwischen 40 und 60% falsch oder unvollständig ausgefüllte Bögen bei den zwischen 50 und 70% Anteil per Post zurückgesandter Bögen und ein Restbestand von überhaupt nicht abgegebenen Bögen von 3 bis 9% gemeldet werden, behauptete der Präsident des Bundesamtes für Statistik, Hölder, schon am 26.10.1987, es gäbe insgesamt nur noch eine geringe Dunkelziffer im Bereich von 5% (WAZ vom 27.10.87). Der Leiter des Statistischen Landesamts Bremen sprach, obwohl dort bis heute keine Zwangsgeldandrohungen eingeleitet wurden, von einem Rücklauf von 90 bis 95% und einer Fehlerquote insgesamt von »etwa 20%« (taz 21.11.87; den dpa-Angaben zu Stuttgart, Ulm, Mannheim, Freiburg, Tübingen zufolge müßte sie dort bei 30 bis 40% liegen!). Ein Sprecher des Deutschen Städtetags stellte fest: »Die Ergebnisse waren insgesamt so gut wie die der Zählung des Jahres 1970« (dpa/BZ 27.10.87).

Darüber hinaus sind, während in vielen ländlichen Gebieten schon im Juli 1987 »Vollzug« gemeldet werden konnte, in vielen Großstädten bis heute die Zählungen einschließlich der Ausschöpfung der Zwangsgeldfestsetzung etc. nicht abgeschlossen, und über das weitere Vorgehen (Eskalation bis zur Zwangshaft?) ist noch nicht entschieden. Insbesondere in SPD-regierten Städten wird aber zunehmend erklärt, man wolle auf weitere Zwangsmittel verzichten (z.B. Bremen, Freiburg, mehrere Ruhrgebietsstädte).

2. Soviel läßt sich aber auch schon im Rahmen einer Zwischenbilanz sagen: Die Strategie des »harten Boykotts« als effektive politische Massenbewegung hat eine Niederlage erlitten. Von vornherein niedrig war die Zahl der »harten Boykotteure« in Städten mit überwiegender Arbeiterbevölkerung. In Städten mit hohem Studenten- und intellektuellem Mittelschichts-Anteil — in Baden-Württemberg besonders Tübingen und Freiburg — wurden wesentlich mit Hilfe massiver Zwangsgelddrohungen, Veranstaltungsverboten, Durchsuchungen, Strafverfahren, gleichgeschalteter Verwaltungsgerichts-Schnellverfahren die Zahlen von bis zu 20% auf oft unter 3% heruntergedrückt (z.B. Freiburg: Mitte August: Versand von 11 630 Heranziehungsbescheiden an »Säumige« = ca. 18% der Auskunftspflichten; Mitte September: nur noch 6 000 Säumige = 9% ; Mitte November: Restbestand von 2 800 Säumigen = unter 3%; BZ 19.8., 9.9., 11.11.87).

Trotz entsprechender Propagandabehauptungen vor allem durch Bundesinnenminister Zimmermann spricht nichts dafür, daß diese Entwicklung auf zunehmende Einsicht großer Bevölkerungsteile in den tieferen Sinn der Volkszählung zurückzuführen ist. Selbst nach Angaben des Bundesinnenministers machten sich noch kurz vor Beginn der Volkszählung »mehr als 40% der Bundesbürger … über die Datensicherheit bei der Volkszählung Sorgen« (dpa/BZ 01.04.1987). Daß gerade auch in Städten mit hohem Arbeiteranteil Skepsis bestand (und besteht), zeigt das Ergebnis der »Probevolkszählung« in einigen Ruhrgebietsstädten im April 1986. In Dortmund etwa machten 40% nicht mit (zit. nach Kempas: Zum Scheitern verurteilt — das Schicksal der Volkserfassung 1983 bis 1987, in: Restrisiko Mensch, Hrsg. Gössner u.a., Bremen 1987).

Trotz dieser objektiv gegebenen günstigen Voraussetzungen für die Organisierung eines breiten Widerstands muß heute festgestellt werden: Nicht nur ist der »harte Boykott« weitgehend gescheitert. Während noch bis etwa Mitte des Jahres 1987 vor allem von seiten der GRÜNEN massiv zum zivilen Ungehorsam aufgerufen und entsprechende Aktionen — von Demonstrationen bis zur gemeinsamen Vernichtung von Volkszählungsbögen — durchgeführt wurden, versandete vielmehr insgesamt seitdem die Bewegung zusehends, verhaspelte sich immer mehr in der Beratung und Beratschlagung der »rechtlichen Möglichkeiten« und ließ ihre Teilnehmer mit dem Kopfzerbrechen über das Durchhalten oder Ausweichen vor dem individuellen Streit mit dem Staat zurück. Der »weiche Boykott«, wenn er denn tatsächlich bewußt massenhaft praktiziert wurde, war nicht das Ergebnis einer gemeinsamen Revision einer als falsch erkannten Taktik. Er bildete nur noch eine notdürftige Ausflucht aus dem Dilemma.

3. Es hilft wenig, dieser Feststellung entgegenzuhalten, immerhin sei ja auch so eine weitgehende statistische Unbrauchbarkeit der Erhebung erreicht worden — was übrigens durchaus fraglich ist. Denn damit kann man sich nicht ´¼ber die eingetretene politische Defensive hinwegtrösten. Ebensowenig kann diese mit der in der Tat vielfach brachialen staatlichen Repression und Propagandakampagne »entschuldigt« werden — die bei genauer Untersuchung vorhersehbar war und auch von vielen vorhergesagt wurde. Die Ursachen müssen tiefer gesucht werden. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, daß eine breite Bewegung gegen die anstehenden staatlichen Maßnahmen im Bereich der »inneren Sicherheit« sich nicht befriedigend entwickeln kann.

4. Meines Erachtens liegen die Ursachen für die politischen Schwächen der Bewegung gegen die Volkszählung in einer bei weiten Teilen dieser Bewegung, vor allem auch bei den GRÜNEN, unzulänglichen oder gar falschen Analyse des sozialen Gehalts und der politischen Dimension der Volkszählung, in der Folge dann mangelhafte und falsch gewichtete Öffentlichkeitsarbeit und eine ebensolche Taktik hinsichtlich der Verbindung von Öffentlichkeitsarbeit / Aktion / Organisation des gesamten Potentials gegen die Volkszählung. Bestimmend für die Öffentlichkeitsarbeit war der vordergründige Horror vor dem Computer-Staat, der den einzelnen Bürger gewissermaßen schluckt und — letztlich willkürlich — seiner individuellen Freiheits- und Intimspähre beraubt. Verschiedene sich überschneidende Theorieansätze über den Staat bzw. seine repressiven Teile liegen dem zugrunde:

  • Die in der Tat hinsichtlich Aufbau und Nutzung polizeilicher und personenbezogener Informationsbestände umwälzende Entwicklung der Datentechnik habe sich sozusagen verselbständigt, ihre technische und letztlich unmenschliche Eigenlogik entwickelt, nach der nun alle Bürger immer mehr Opfer eines alles erfassenden »Überwachungsstaates« würden.
  • Der Ausbau von Polizei und Geheimdiensten, die vor allem auf die Datentechnik zurückgreifen könnten, sei Ergebnis einer organisations-soziologisch zu erklärenden Eigendynamik bürokratischer Apparate.
  • Die Entwicklung sei darüberhinaus wesentlich bestimmt durch den reaktionären Eifer führender Polizeistrategen, etwa des früheren BKA-Chefs Herold (Verfechter des »Sonnenstaats«) oder des Baden-Württembergischen Landespolizeipräsidenten Stümper.
  • Die Logik der präventiven Erfassung und Ausschaltung auch sozialer Gefahrenherde ergäbe sich zudem aus dem nicht mehr beherrschbaren Gefahrenpotential im Falle »unkontrollierbarer« Zuspitzungen von Konflikten, vor allem angesichts der vorhandenen hochentwickelten Technik (etwa Kernkraftwerkstechnik, Kriegstechnik etc.).

5. Die naheliegende Konsequenz aus solcher Computer-Staat-Idealogie ist es, von der Möglichkeit und Notwendigkeit der Mobilisierung letztlich aller Bürger — egal ob Kapitalist, Mittelschichts-Intellektueller oder Arbeiter — gegen die »totale Erfassung« und demgegenüber der Geltendmachung individueller Freiheitsspähre und menschlichen Umgangs miteinander auszugehen. Der Kampf gegen die Volkszählung muß von diesem Standpunkt aus sowohl von seiner objektiven Bedeutung her als auch von den Möglichkeiten der Entwicklung politischen Bewußtseins als gerade-zu zentral angesehen werden — und nicht, wie meiner Ansicht nach angemessener, lediglich als eine von vielfältigen politischen Kampfaufgaben im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Staats in der BRD. Gleichzeitig ist logisch, daß sich dieser Standpunkt auf die Geltendmachung des individuellen Rechts gegen-über dem Staat orientiert, weitaus weniger aber auf die Entwicklung von kollektiven und demokratischen Gegenstrukturen. Die außerordentlich starke Fixierung auf alle möglichen »Rechtswege« für jeden einzelnen zum rechtsstaatlichen Abblocken seiner persönlichen Zählung in der Bewegung gegen die Volkszählung — man denke nur an die unzähligen Flugblätter mit »Rechtsratschlägen«, die vielen »Ratgeber« auf dem Buchmarkt, die entsprechenden Debatten in den VoBo-Initiativen — ist also auch durchaus kein Zufall, sondern Produkt dieser skizzierten Ideologie.

6. Die Voraussetzung der aus der ldeologie hervorsprießenden Taktik des zivilen Ungehorsams und der Geltendmachung von individuellen Rechtsansprüchen gegen-über dem Staat ist freilich auch, daß im Staat selbst und bei den Herrschenden doch ein beträchtliches Potential an eigenem Unbehagen über die Computerisierung und die Zerstörung der individuellen Freiheitssphäre vorhanden sei, also auch — etwa in der Justiz — Interesse existieren müsse, sich ernsthaft mit den Anliegen der Boykotteure zu befassen.

Auch wenn es hier und da Verwaltungsgerichte gegeben hat, die in einzelnen Eilverfahren gegen Heranziehungsbescheide dem Rechtssuchenden Recht gaben: Im großen und ganzen haben sowohl Exekutive als auch Judikatur und darüberhinaüs weite Teile der Presse (auch die liberale) mit großer Entschlossenheit die grundsätzlichen Argumente gegen die Volkszählung, die durch das neue Volkszählungsgesetz ja keineswegs ausgeräumt waren, unter den Tisch gekehrt.

Abweichende Entscheidungen von Gerichten stützten sich stets nur auf Sonderprobleme, etwa die allzu offensichtliche Identität von Gemeindeverwaltung und Erhebungsstelle, die allzu direkte Nachbarschaft des Zählers zum Gezählten, die allzu-lange Aufbewahrung der Mantelbögen, das direkte Auftauchen des eigenen Namens in Frage Nr. 12 bei kleinen Selbständigen.

Die Justiz hat sich nicht einmal gescheut, ganz unverhüllt den Rechtsanspruch auf Einzelfallentscheidung außer Kraft zu setzen — so die 4. Kammer des VG Freiburg, die innerhalb von 10 Tagen 1 000 wortgleiche Ablehnungen von Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz »produzierte«, ohne noch auf irgendeines der konkreten Einzelargumente einzugehen (Beschlüsse vom 27.8. 1987 ff., AZ VG Freiburg Z 4 K 1 bis 1000/1987; inzwischen vom VGH Baden-Württemberg abgesegnet). Ebenso computermäßig organisierten durchweg die Erhebungsstellen selbst ihre Zwangsandrohungen gegen Säumige.

Die die Bewegung gegen die Volkszählung bestimmende Taktik hat sich also als naiv erwiesen. Der ihr zugrundeliegende Glaube an das Gute im Rechtsstaat wurde mit computermäßiger Repression verhöhnt.

7. Alle unter 4. skizzierten Theorieansätze beschreiben bestimmte Erscheinungen in der Entwicklung staatlicher Repression durchaus richtig. Die daraus abgeleiteten Annahmen einer eigenlogischen oder subjektiv bedingten Entwicklung des Apparats ist aber kurzschlüssig.
Zweifellos kennzeichnet das Interesse der Herrschenden an der Handhabung des Staats als unbedingtes Systemverteidigungsinstrumentarium mit durchaus vielfältigen »Möglichkeiten« für die Beherrschten von der Integration bis hin zur offenen Repression, dagegen gerade nicht ein Interesse an der Organisierung eines demokratischen Willensbildungsprozesses, von vornherein die bürgerliche Staatsentwicklung in Deutschland. Schon im preußischen und bismarckschen Staatskonzept drückt sich diese Entwicklung aus, findet in der mörderischen Ausschaltung der »Volksschädlinge« im III. Reich und dem Konzept der »wehrhaften Demokratie« (»keine Freiheit für die Feinde der Freiheit«) dann ihre Fortsetzung. Sie ist die historische Ursache für den Vorsprung in Sachen »innere Sicherheit«, den die BRD gegenüber anderen kapitalistischen Staaten mit revolutionär bürgerlicher Verfassungstradition hat (und auf den Zimmermann, Boge etc. so stolz sind).

8. Ein entscheidender Schub in der Verwissenschaftlichung und Ausdehnung der Systemverteidigungskonzeption auf alle Teile des Staatsapparats, auf seine gesamte Tätigkeit, ja auf die Tätigkeit der Medien, die Arbeitsweise von Unternehmensleitungen und am liebsten auch noch von sämtlichen Parteien und Gewerkschaften (ansonsten Verbot) erfolgt dann aber seit den sechziger Jahren, und zwar nunmehr in allen NATO- und EG-Staaten (einschließlich entsprechender »Entwicklungshilfe« an weitere Staaten). Ausgehend zunächst von Untersuchungen über die Ursachen der Niederlagen imperialistischer Staaten in Befreiungskämpfen in Ländern der »Dritten Welt« (vor allem Algerien, Vietnam) und von Untersuchungen über das Krisenpotential innerhalb der kapitalistischen Länder selbst, werden von NATO-Militärstrategen (z.B. Kitson, Beaufre), hohen Polizeioffizieren und Staatssicherheitsexperten (in der BRD Herold, Stümper und Boge) und Wissenschaftlern im Auftrag von Großunternehmen (Projekte der Thyssen- und Siemens-Stiftungen, der von Rockefeller gegründeten Trilateralen Kommission) umfassende präventive Sicherheitsstrategien entworfen und schrittweise im Ausbau von Polizei- und Militärapparat, Unternehmensführungen, aber auch in der Stadtplanung und im Sozialbereich etc. umgesetzt (vgl. näher hierzu u.a.: M. Schubert, Herrschaftssicherung »im Vorfeld des Krieges« …, in: Restrisiko Mensch, a.a.O., S. 97 ff).

9. Stümper hat, was hier für die Herrschenden untersucht und als Staatstätigkeit etc. organisiert worden ist, auf den Begriff gebracht: »Sicherheitspolitik ist Existenzpolitik geworden« (Stümper, in: Kriminalistik 6/79). Von zentraler Bedeutung ist bei dieser »Existenzpolitik« die Erkenntnis, daß die entscheidende Phase der Auseinandersetzung darum, ob das bestehende System erhalten bleibe oder nicht, nicht erst die Phase eines offenen, gewaltsamen Kampfes mit dem »inneren Feind« sei. Der »Krieg« (mit dieser Kategorie drücken sich nicht nur Bangemann und Zimmermann aus, sondern ganz gängig die führenden Polizeistrategen in der BRD) beginne schon in einer Vorstufe dazu, in der es darum ginge »mit psychologischen Methoden« die Oberhand zu behalten (vgl. hierzu z.B. Schäfer, Direktor des LKA Bremen: Ein Königreich für eine Strategie; in: Kriminalistik 8-9/1982, S. 468 ff). Diese präventive Aufgabe macht es auch erforderlich, daß Daten sämtlicher Bürger verfügbar, ihre sozialen Bedingungen also erkennbar, und das bei einzelnen, sozialen Gruppen, Blocks, Stadtvierteln etc. vorhandene (ggf. mittels z.B. Methoden der Rasterfahndung näher einzugrenzende) Gefahrenpotential frühzeitig ausmachbar ist. Nur so lassen sich differenzierte (statt einfach nur offen repressiver) und flexible Systemerhaltungsstrategien entwickeln, die sowohl in wirtschaftlichen Eingriffen, als auch in Anwendung von Propaganda oder Repression bestehen können.

10. Wie aus diesem politischen Zusammenhang in der BRD seit vielen Jahren »Sicherheitspolitik« gemacht wird, wie insbesondere die Koalitionsvereinbarung zur »inneren Sicherheit« (einschließlich »Vermummungsverbot«, Sicherheitsgesetze etc., vgl. Abdruck in FAZ, 16.3. 1987, S.7) als systematische Weiterentwicklung einer solchen Politik zu begreifen ist, läßt sich relativ leicht erfassen. Für die Volkszählung 1987, die ja ständig als neutrale Datenerfassung zum Wohle aller angepriesen wurde, ist ihr tatsächlicher Zusammenhang als wichtiger Bestandteil der umfassenden »Sicherheits«-Konzeption in vielen Untersuchungen nachgewiesen worden (vgl. die Aufsätze z.B. in Restrisiko Mensch a.a.O. ; in Kutscha/Paech u.a., Totalerfassung, Köln 1987).

Auch die historische Entstehung aus der Volkszählung im III. Reich — die nachweislich der Aussonderung der »Volksschädlinge« und der Kriegsvorbereitung diente — und ihre Anlehnung an die Konzeption eben dieser faschistischen Volkszählung ist belegt (vgl. G. Aly, K.H. Roth: Die restlose Erfassung — Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Berlin, 1987). Andererseits haben selbst bürgerliche Statistiker und Soziologen nachgewiesen, daß, soweit es tatsächlich nur um Belange der Erlangung statistischer Grunddaten für gängige soziale Zwecke geht, andere Methoden als die Volkszählung (wie Mikrozensus, freiwillige Erhebungen mit Stichprobenverfahren etc.) mindestens ebenso zuverlässige, wenn nicht zuverlässigere Angaben liefern (vgl. die Hinweise bei Kuhimann, Planungsschrott, in Restrisiko Mensch, a.a.O., S. VZ 26 ff).

Erst wenn aber die Funktion der Volkszählung begriffen wird als Grunddatenbeschaffung für eine umfassend verstandene präventive kapitalistische Sicherheitspolitik, wird eine klare Frontstellung möglich und die Brisanz der Sache faßbar. Diese Grunddatenbeschaffung ist übrigens durch einen selbst noch relativ hohen Umfang fehlender Angaben durch »harten« oder »weichen Boykott« keineswegs unmöglich gemacht. Denn, wie die meisten Erhebungsstellen auch unverholen mitteilen, lückenhafte oder gar gänzlich fehlende Angaben können mit Hilfe der reichlich schon vorhandenen Datenerfassungen über jeden einzelnen Säumigen (und vielleicht gerade über die Säumigen) »ausgebessert« werden. Für Blockerfassung, Rasterfahndung etc. reicht sowas allemal. In Hinsicht auf diese Grunddatenfunktion im Rahmen eines umfassenden Systems von Datenaustausch und -koppelung im Bereich der »inneren Sicherheit« ist das Volkszählungsgesetz 1987 sogar durchaus effektiver als das Volkszählungsgesetz 1983, weil nunmehr die Daten aller Haushalte, die auf einer Blockseite liegen, zusammengefaßt werden und in dieser Form allgemein zugänglich sind, sodaß eine Reanonymisierung noch erleichtert wird, ebenso eine Ausrasterung sozialer Problemgebiete (vgl. V. Rottmann: Was ist neu an der Volkszählung ’87, in Restrisiko Mensch, S. VZ 7).

11. Die Volkszählung 1987 ist aber nicht nur als Grunddatenbeschaffung selbst bei relativ hoher Fehlerquote für die Zwecke der »inneren Sicherheit« durchaus noch effizient. In ihrem Verlauf hat sich auch immer deutlicher ihr Charakter einer zivil-militärischen Großübung auf dem Gebiet der gesamten BRD und Westberlins (mit z.B. über 500000 Zählern im Einsatz) herauskristallisiert. Die Appelle von Regierungsseite zum unbedingten Zusammenhalt des gesamten Staatsapparats einschließlich der Justiz schon Monate vor dem »Stichtag«, der Werbeaufwand von über 50 Millionen DM, der massenhafte freiwillige und kostenlose Abdruck ganzseitiger (z.T. als Zeitungsartikel getarnter) Werbung in jeder einschlägigen Tageszeitung, je 10 kostenlose Werbespots in ZDF und ARD einerseits, Drohungen, Verhetzung als »Terroristen« oder »Wegbereiter des Terrorismus« (so Zimmermann) und massive Repressionen (Durchsuchungen, Anhalten der gesamten Post (wie bei der AL in Berlin), Bußgelder über 5 000,— DM und mehr (wie in Heidelberg und Bonn), Telefonabhören und Veranstaltungsverbote (wie in Baden-Württemberg)) gegen Volkszählungskritiker andererseits — das alles hat mit der schlichten Erhebung einer Statistik nichts mehr zu tun.

Wer, wie vielfach aus Kreisen der SPD geschehen, demgegenüber einwendet, man brauche doch aber für die Statistik nicht solch massive Mittel, könne es auch ruhiger und sachlicher machen, der will offensichtlich den wirklichen Charakter der Sache nicht begreifen oder vertuschen. Die Bereitschaft zum Mitmachen bei der Volkszählung wurde durchaus nicht zufälliger- oder verrückterweise von Zimmermann u.a. zur Nagelprobe auf die Treue zum bestehenden Staat erhoben. Ebensowenig waren der Einsatz von Generalbundesanwalt Rebmann (rechtlich in keiner Weise zuständig), Bundesverfassungsgerichts-Vizepräsident Herzog schon im März (vgl. dpa/BZ 17.3. und 21./22.3.87) und die Vergatterung des Deutschen Richtertags im Mai (vgl. dpa/BZ 19.5. 1987) Ausrutscher.

Und schließlich: Auch die ehrenwerten »neutralen« Statistiker wußten von vornherein, worum es (auch) geht und engagierten sich für den zivil-militärischen Auftrag (vgl. Prof. E. Noelle-Neumann, Die Volkszählung als Probe auf die Regierbarkeit, die demoskopische Standortbestimmung mit Blick auf das Rechtsbewußtsein, in: FAZ vom 13.05.1987).

Auch in dieser Hinsicht war die Bewegung aufgrund der in ihr verbreiteten unzulänglichen Einschätzung der Funktion der Volkszählung auf das, was kam, nicht vorbereitet. Die massiven Schläge gleich zu Beginn, insbesondere Bußgelder gegen diverse grüne Abgeordnete und Durchsuchungen von zahlreichen Büros von unterstützenden Organisationen, entfalteten daher um so größere Schockwirkung und wirkten offenbar auch in Richtung auf einen vorsichtigen Rückzug nicht weniger GRÜNER aus der vordersten Front. So wie der Staatsapparat mit Sicherheit seine Erfahrungen mit der Volkszählung auch in dieser Hinsicht auswerten wird, sollte die Bewegung gegen die Volkszählung ihre diesbezüglichen Erfahrungen auswerten.

12. Die Fehler im Verständnis der umfassenderen Zusammenhänge der Volkszählung 1987 hatten gravierende Folgen für Taktik und Organisation.

Die soziale Basis der Bewegung blieben im wesentlichen Studenten und Angehörige der Mittelschichten. Nicht nur inhaltlich und taktisch (Fixierung auf individuelle Rechte) war so die Bewegung zu einem erheblichen Teil desorientiert. Ohne die inhaltliche Vermittlung der Volkszählung gerade als Instrument kapitalistischer Systemerhaltungspolitik (und nicht als Schrecken des Computers) war eine Gewinnung der Arbeiterbewegung, vor allem auch der Gewerkschaften, von vornherein nicht erreichbar (sie wurde allerdings auch nie in größerem Umfang versucht). So blieben Beschlußfassungen in den Gewerkschaften (z.B. IG DruPa, IG Metall, ÖTV) vereinzelt und auf die unteren Ebenen beschränkt.

Gleichzeitig mußte eine Taktik, die individuelle Rechtsverteidigung nicht bloß als flankierende Maßnahme (als was sie notwendig und wichtig sein kann), sondern als Orientierung hatte, statt das Hauptgewicht auf kollektive Kampf- und Äußerungsformen (Beschlußfassungen in Gewerkschaften, Parteien und anderen Organisationen, Initiativen gegenüber Gemeindeparlamenten, Demonstrationen, Informationsveranstaltungen etc.) zu legen, scheitern.

Derzeit stehen zahlreiche von der Regierung geplante Änderungen des Demonstrationsrechts, des politischen Strafrechts und schließlich die Sicherheitsgesetze an. Ohne gründliche Lehren aus den Fehlern der Volkszählungsboykottbewegung wird die erforderliche breite Bewegung dagegen nicht entwickelt werden können.

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