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Volks­zäh­lung von innen

Oder: Der Bericht eines Volkszählungsopfers

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 75-83

Noch immer ist viel von der Volkszählung zu lesen; manches von den Kritikern, mehr noch aber die Jubelberichte und Erfolgsmeldungen der Offiziellen da oben. Nichts allerdings erfährt man darüber, was in den Erhebungsstellen landauf, landab wirklich abgelaufen ist. Aber jetzt hat sich doch einer gefunden, der davon berichten will, wie die Volkszählung in der Erhebungsstelle seiner Stadt verlaufen ist.

Aber bevor wir die Nase direkt in eine Erhebungsstelle stecken, zunächst ein paar Worte zur Einschätzung der Volkszählung durch die Kommunen —auch der Verwaltungsspitzen. Wer in die Presse schaut, könnte meinen, die Verwaltungsoberen und Bürgermeister seien hellauf begeistert. Glaubt ihnen kein Wort! In Wirklichkeit sind ihnen die ganzen Statistiken und Erhebungen einfach nur lästig — sie kosten Arbeit und Geld und bringen den Kommunen nichts. Bezeichnend für den Wert aller Erhebungen ist, daß die meisten im Agrarbereich laufen — Viehzählungen vom Zuchtbullen bis zum letzten Legehuhn, Erhebungen über die Bodennutzung usw.; oft auch noch jährlich — und daß gerade in diesem Bereich analog zu der anwachsenden Datenflut auch die Probleme zunehmen, statt gelöst zu werden.

Wenn nun von den Oberfunktionären der kommunalen Spitzenverbände immer wieder beteuert wird, die Daten der Volkszählung würden dringendst benötigt, um in den Gemeinden und Städten endlich bedarfsgerecht Kindergärten, Schulen, Straßen und ähnliches planen zu können, so ist dies blanker Unsinn: Es wird in der ganzen Bundesrepublik nicht eine Gemeinde oder Stadt geben, in der die Verwaltung nicht genau darüber unterrichtet ist, in welchem Orts- oder Stadtteil welche Bevölkerungsgruppen mit welchen Kinderzahlen leben usw. Die ganzen Stellungnahmen und Aufrufe der kommunalen Funktionäre sind reine Gefälligkeitsaussagen auf Bestellung des Innenministers.

So wurde auch bei uns in einer Besprechung von den Verwaltungschefs offen eingestanden, daß für sie die ganzen zu sammelnden Daten der Volkszählung völlig uninteressant seien — mit einer großen Ausnahme! Und das ist die amtliche Einwohnerzahl, die für die einzelne Stadt oder Gemeinde am Ende der Volkszählung rauskommt. Diese wird nämlich durch sie neu festgestellt. Und für die Kommunen handelt es sich hierbei nicht nur um eine statistische Zahl, sondern sie läßt sich in klingender Münze aufwiegen, weil die Zuweisungen im Rahmen der Finanzausgleiche sich nach eben dieser amtlichen Einwohnerzahl richten. Und alle Kommunen sind natürlich überzeugt, in Wirklichkeit mehr Einwohner zu haben als derzeit amtlich anerkannt. In Bonn hingegen glaubt man, die bisherige amtliche Bevölkerungszahl sei in Wirklichkeit zu hoch angesetzt. Wie diese Rechnung nach Abschluß der Auswertung der Volkszählung einmal aufgehen soll, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat diese eher finanztechnische Seite bei der Durchführung der Volkszählung in den Kommunen eine bedeutende Rolle gespielt, und manch scheinbar unsinniges Tun wird erst hierdurch verständlich.

Jetzt zum Ablauf der Zählung selbst. Und zwar in einer Kleinstadt unter 20 000 Einwohner (Stand vor der Volkszählung), mitten in der Provinz. Die erste frohe Botschaft, zum 25.5. 1987 werde eine Volkszählung stattfinden und auch wir wären wieder dabei, ereilte uns bereits Ende 1985. Die Kollegen, die sich erst 1983 über den Abbruch der Volkszählung gefreut hatten, waren darüber wenig begeistert (ich selbst hatte zu diesem Zeitpunkt noch nichts mit der Volkszählung zu tun). Zunächst kam nur das Übliche, Reklame halt. Aber im Laufe des Jahres 1986 wurde es schon konkreter, und uns wurde deutlich, daß diese Volkszählung viel arbeitsaufwendiger werden würde als die 1983 geplante. Damals waren die ganzen Vorbereitungen ein-schließlich Vorerhebung (übrigens bis zur Zählerschulung!) so nebenbei im Ordnungs- und Meldeamt mitgemacht worden. Abschottung und Datenschutz waren damals noch nicht vorgesehen. Das Meldeamt war jetzt enttäuscht, daß es keinen Abgleich mit dem Melderegister mehr geben sollte (»So bringt uns doch die ganze Zählung nichts«), während unter den Finanzleuten eher euphorische Stimmung herrschte, denn der Meldeabgleich könnte ja auch die Einwohnerzahl verringern.

Nach den Sommerferien 1986 wurde dann das Personal für die Volkszählung bestellt, also zunächst der Erhebungsstellenleiter mitsamt seinem Vertreter. Keines der beiden Opfer dieser Personalplanung war bei uns davon begeistert, aber man kann sich kaum dagegen wehren, will man seinen krisensicheren Behördenjob behalten. Ein getrennter Raum für die Erhebungsstelle existierte noch nicht. Es war ja auch noch nichts weiter zu tun, und die so zu neuen Würden Gekommenen verblieben zunächst an ihren bisherigen Arbeitsplätzen. Aber geschult werden mußte das neue Personal natürlich. Da gab es nun zwei Arten von Schulungen. Zum einen die vom Statistischen Landesamt ausgerichtete: Hier wurde vor allem der technische Ablauf erläutert — mit dem Ziel, den Computern das Datenfutter möglichst mundgerecht präsentieren zu können. Natürlich ging’s auch gegen die bösen Chaoten, die die ach so wichtige Zählung sabotieren wollten. Aber das wären ja eh nur wenige, und mit denen werde man schon fertig.

Außerdem fanden Schulungen der kommunalen Verwaltungsschule statt. Der dortige Referent stammte selbst aus der Kommunalverwaltung (einer großen mit eigenem statistischen Amt). Zu Anfang stellte dieser erst einmal klar, daß die Ausbilder vom Statistischen Landesamt ja auch viel Unsinn erzählen würden. Ansonsten waren besonders die Tips interessant, wie möglichst viele Einwohner zu zählen sind. Zum einen sollten alle noch gemeldeten Personen berücksichtigt werden. Für den Fall, daß diese Personen unter der angeblichen Adresse tatsächlich nicht mehr aufzufinden seien (z.B. weil sie dort schon lange nicht mehr wohnen), sollte der Zähler sie als »längere Zeit ortsabwesend« auflisten — wegen der späteren Ersatzerfassung. Dazu seien auch alle noch nicht Gemeldeten zu erfassen, die ihm zufällig über den Weg laufen sollten — und seien es am 25. Mai zufällig mit ihrem Wohnwagen im Ort anwesende Gleisarbeiter. Alle wenn möglich mit Hauptwohnsitz, denn jeder zusätzliche Einwohner bringt der Stadt ja zusätzliches Geld. Aller Voraussicht nach wird die Bevölkerung der BRD am 25.5.1987 sprunghaft um eine Million angestiegen sein.

Derart geschult konnten wir jetzt daran gehen, das Volk zu zählen. Das heißt, zunächst einmal nahmen wir uns die Hütten und Paläste des Volkes vor. Gebäudevorerhebung nennt man sowas. Anhand von vorhandenen Listen wurde allen Gebäudeeigentümern ein Gebäudebogen zugeschickt. Allerdings natürlich nur jenen, die in den Listen erfaßt waren. Wer aus irgendeinem Grund nicht drin stand, wurde eben nicht befragt, und niemand vermißte seine Angaben. Insoweit sind in diesem Bereich die Daten nach der Volkszählung auch nicht genauer als die schon zuvor bekannten.

Verschickt wurden die Gebäudefragebögen noch vom Rathaus aus, zur Entgegennahme der Antworten zogen wir in die inzwischen eingerichtete Erhebungsstelle um. Alles schön abgeschottet — gemäß der Vorschrift. Dort konnten wir die ausgefüllten Gebäudebögen in Empfang nehmen. Inzwischen war es Anfang 1987. Zunächst kamen die Bögen haufenweise, dann nur noch stoßweise, und, nachdem rund 50% der Bögen zurück waren, kam fast nichts mehr. Die andere Hälfte der Hauseigentümer wollte wohl nicht so recht. Dann mußten sie eben durch eine Mahnung motiviert werden — natürlich mit Hinweis auf die Verpflichtung und leicht drohendem Unterton. Danach kamen noch an die 40% der Bögen, die restlichen 10%, mit Ausnahme einiger weniger, die noch Monate später eintrudelten, blieben verschollen. Es war übrigens ausdrücklich bestimmt worden, daß bei der Gebäudevorerhebung keine Zwangsmittel verhängt werde sollten — zwecks Hebung der Akzeptanz.

Das Programm bei dieser Vorerhebung war recht bescheiden, es waren nur fünf einfache Fragen zu beantworten. Daß da jemand etwas falsch macht, konnten wir uns kaum vorstellen. Aber wir hatten nicht mit der Phantasie der Bürger gerechnet. Die meisten Bögen waren wohl richtig ausgefüllt, aber daneben gab es haufenweise Bögen mit den zum Teil merkwürdigsten Fehlern. Da waren statt der vorgesehenen Striche ausführliche Erläuterungen zu finden, statt des ursprünglichen Baujahrs wurden gleich mehrere zur Auswahl angegeben, und die Frage nach sozialen Wohnungsbaumitteln wurde meist garnicht beantwortet — wahrscheinlich wußten die derzeitigen Eigentümer einfach nicht, wie der Bau des Hauses einmal finanziert worden war. Die meisten Fehler aber fanden sich bei der Frage »Handelt es sich bei dem Gebäude um ein Wohnheim?«. Dies sollte nur angestrichen werden, wenn es sich z.B. um ein Altersheim handelt. Es haben dann aber sehr viele Leute, die sich in ihrem Haus eben recht heimisch fühlen, diese Frage bejaht. Das statistische Landesamt hat deshalb später auf die Berichtigung dieser falschen Antworten durch die Erhebungsstelle verzichtet; dafür sollte, wenn es sich wirklich um ein Wohnheim handelt, »stimmt« daneben geschrieben werden.

Unsere nächste Arbeit, die schon parallel zur Gebäudeerhebung in Angriff genommen wurde, war die Werbung der Zähler. Keine leichte Aufgabe, immerhin würden wir über 100 Zähler benötigen und sollten wir sie nicht zusammenbringen, würde die ganze Zählung im Sand verlaufen. Zwang sollte dabei möglichst nicht angewendet werden, obwohl er vom Gesetzgeber vorgesehen war. Aber das wäre doch Wahnsinn gewesen, denn wir waren letztlich auf eine gute Kooperation der Zähler angewiesen. Und die gibt’s nur freiwillig oder gar nicht. Woher aber die Leute nehmen? Zuerst haben wir auf jene zurückgegriffen, die schon 1983 zählen wollten. Immerhin hatten wir damals die komplette Zählermannschaft zusammengetrommelt. Uns war natürlich klar, daß nicht mehr alle bereit sein würden, und es hat auch nur etwa ein Drittel von ihnen die Zählerbestellung angenommen. Weiter hatten wir die Möglichkeit, von allen umliegenden Behörden Listen mit Namen und Anschriften ihrer ortsansässigen Mitarbeiter zu verlangen, und von dieser Möglichkeit haben wir auch fleißig Gebrauch gemacht. Wenn auch manchmal unwillig, waren die Behörden doch letztlich verpflichtet, unserer Bitte nachzukommen. Einem Personalsachbearbeiter war dabei wohl besonders unwohl, denn er bat uns telefonisch, wir möchten doch seinen Kollegen nicht verraten, daß er uns die Anschriften gegeben hätte. Haben wir dann auch nicht gemacht.

Nur ausgerechnet der Bundeswehrverwaltung ist es gelungen, sich zu drücken. Zunächst teilte sie auf unser Schreiben hin mit, nach einer Übereinkunft zwischen Verteidigungsminister und Statistischem Bundesamt bräuchte sie keine Namen und Anschriften mitzuteilen. Und, als ob sie uns an der Nase herumführen wollte, fügte sie hinzu, von ihren Mitarbeitern müßten soundsoviel Beamte, Angestellte und Arbeiter in unserer Stadt wohnen. Damit konnten wir natürlich garnichts anfangen, aber wir wollten nun nicht gerade die, die selbst jährlich soviele unschuldige junge Männer zu unfreiwilligem Frondienst pressen, ungeschoren davon kommen lassen. Darum haben wir uns umgehend beim Statistischen Landesamt beschwert; und siehe da, die vom Bund hatten uns nur die halbe Wahrheit erzählt. Sie mußten uns zwar nicht alle Mitarbeiter bekanntgeben, aber dafür auf Anforderung eine bestimmte Anzahl von Zählern namentlich mitteilen. Wir haben dann auch gleich eine bestimmte Anzahl angefordert, trafen aber neuerlich auf eine Mauer des Schweigens. Auf Anfrage hieß es, freiwillig wolle ja keiner, und bevor man zwangsverpflichten könne, müßten erst Schwierigkeiten mit dem Personalrat geklärt werden. Da wir aber mit der Zählung nicht solange warten konnten, gelang es ihnen dann doch, sich erfolgreich zu drücken.

Aus den Behördenlisten haben wir schließlich nach und nach die benötigten Zähler bestellt, bis die erforderliche Zahl erreicht war und auch noch eine kleine Reserve blieb (meist die, die lieber nicht wollten bzw. nur, wenn’s unbedingt sein muß). Überwältigend war die Resonanz auf unsere Bestellung dabei nicht, und wir hatten hunderte von Schreiben zu verschicken. Dabei hatten wir in dem Schreiben noch ganz geschickt zunächst die Bestellung zum Zähler ausgesprochen, dann auf die Verpflichtung jedes Bürgers zur Annahme des Ehrenamts hingewiesen und erst ganz zum Schluß um schriftliche Annahme der Bestellung gebeten, so daß viele geglaubt haben werden, sie müßten zählen. Es meldeten sich natürlich auch Freiwillige, bei uns so etwa ein Fünftel, und die Zählerentschädigung stellte z.B. für Schüler und Arbeitslose durchaus einen gewissen Anreiz dar. Die Entschädigung war übrigens gestaffelt, neben einem Grundbetrag je nach Größe des Bezirks gab’s noch eine »Erfolgsprämie« für jeden vom Zähler ausgefüllt wieder mitgebrachten Bogen, da uns die Postversender sicher mehr Arbeit bereiten würden. In manchen Städten und Gemeinden kam noch ein »Kopfgeld« für jeden neu entdeckten Einwohner hinzu. Ich möchte nicht wissen, wieviele »potemkinsche Einwohner« da manch ein Zähler »entdeckt« hat.

Nachdem wir so alle Zähler beisammen hatten (auf die Gruppe der Lehrer, die ja bekanntlich für praktische Arbeiten nicht so gut zu gebrauchen ist, hatten wir zum Glück nicht zurückgreifen müssen), konnten wir darangehen, die Zähler zu schulen und ihnen ihre Zählunterlagen zu übergeben.

Die Zähierschulungen bestanden hauptsächlich darin, den Zählern das Ausfüllen der verschiedenen Erhebungsunterlagen und Listen zu erklären. Daneben gab es einige Verhaltenshinweise — z.B. bei Verweigerern: Laßt Euch nicht auf Diskussionen ein, weist kurz auf die Verpflichtung hin und zieht Eures Wegs (auch war uns nicht besonders daran gelegen, daß die Zähler in Diskussionen vielleicht die wildesten Ansichten vertreten, die dann auf uns zurückfallen), und es wurde auf die verschiedenen Abgabemöglichkeiten hingewiesen. Zum Schluß kam — damit auch alle dablieben — die Zählerentschädigung. Spätestens hier hörten wieder alle zu. Vorher war die Aufmerksamkeit bei vielen aber nicht sehr groß, wie wir schnell feststellen konnten.

Gleich nachdem die Zähler mit ihrem Karton losgezogen waren — für »Zählerkoffer« hatten wir kein Geld, und in eine Mappe wie noch 1983 paßte der ganze Papierkram nicht — stand bei uns das Telefon nicht mehr still. Ständig gab es Rückfragen der Zähler, oft nach den einfachsten Dingen. Aber schlimmer waren die Beschwerden der Gezählten. Da gab es z.B. einige Zähler, die wollten einfach keine Umschläge für den Postversand rausrücken, sondern die ausgefüllten Bögen unbedingt selbst wieder mitnehmen – das brachte ja auch mehr Geld. Ein anderer stand, eh man sich versah, unaufgefordert mitten in der Wohnung. Und ein besonders schlauer Zähler erzählte überall, eigentlich sei er ja gar kein Zähler, sondern seine Frau, er würde sie nur vertreten. Das stimmte zwar nicht, seine Frau war wohl zunächst angeschrieben worden, da sie aber zeitlich nicht konnte, hatte er sich angeboten und war auch ordentlich zum Zähler bestellt worden. Aber bei den Leuten in seinem Bezirk rief dies doch einige Verwirrung hervor. Auf jeden Fall mußten wir schon einige Tage nach Beginn der Zählung in einem Rundschreiben nochmals auf einige wichtige Verhaltensregeln hinweisen, worüber dann wieder die Zähler beleidigt waren, die meinten, sie hätten doch alles korrekt erledigt.

Ärger gab es auch mit dem Zählereinsatz in der Nachbarschaft. Wir hatten zwar darauf geachtet, daß die Zähler nicht im eigenen Bezirk wohnen, wollten aber auch zu lange Anfahrtswege vermeiden. Und so kam es dann doch zu Beschwerden, weil die Zähler manchmal peinlich nahe an ihrem Bezirk wohnten. Meistens konnten die Beschwerden mit vielen Worten und unter Hinweis auf den Postversand abgewendet werden. Wo nicht, tauchten sie halt später in Widersprüchen wieder auf. In einem Bezirk war es uns gar tatsächlich passiert, daß der Zähler mitten in seinem Bezirk wohnte. In letzter Minute konnten wir die betreffende Straße noch rausnehmen und einem anderen Zähler übertragen.

Nachdem die Zählung vor Ort mit kleinen Pannen gelaufen war, kamen die Unterlagen so nach und nach zur Erhebungsstelle zurück. Die meisten Zähler hatten ihre Aufgabe ja so einigermaßen erledigt, aber neben einigen wirklich sehr gut bearbeiteten Bezirken gab es mindestens genauso viele, die man glatt vergessen konnte: in einige hätten wir sogleich einen neuen Zähler schicken können. Dort mußte die Adressenliste anhand der vorhandenen Meldelisten völlig neu rekonstruiert werden, die Fehlenden wurden erst mal als Postversender angenommen. Auf die Vollständigkeit der Antworten hatte nur ein Teil der Zähler geachtet, so daß viele Bögen so lückenhaft beantwortet waren, wie wir es eigentlich nur beim Postversand erwartet hätten. Von der Möglichkeit der Postrücksendung hatten im Durchschnitt 20% Gebrauch gemacht, allerdings mit sehr großen Unterschieden zwischen den einzelnen Bezirken. Einige brachten fast alle Bögen mit zurück (vielleicht mit Hinweis auf die sonst entgehende Entschädigung), ein anderer dagegen nur eine Handvoll, der Rest sollte mit der Post kommen. Bereits die Annahme der Bögen verweigert hatten nur wenige, denen sie dann mit der Post zugeschickt wurden — natürlich unter Hinweis auf mögliche Zwangs- und Bußgelder. Daß die Zählung nur mit Druck durchgesetzt werden konnte, hatten wir auch schon gemerkt.

Der Postrücklauf brachte uns zwar in der ersten Zeit Berge von Volkszählungsumschlägen und viel Arbeit, aber trotzdem waren nach Ablauf der Frist nur etwas mehr als die Hälfte der Bögen eingegangen. Es waren Hunderte von Mahnungen zu schreiben, natürlich wieder mit dem entsprechenden Nach-Druck. In den folgenden Wochen gingen wiederum eine ganze Menge Bögen ein, trotzdem mußten später noch einige Hundert Heranziehungsbescheide erlassen werden.

Doch zunächst zu den Bögen, die uns schon vorlagen. Bereits bei den Bögen, die die Zähler wieder mit zurückgebracht hatten, fehlte so einiges. Offenbar hatten auch viele Zähler nicht genau verstanden, wer wann welche Fragen zu beantworten hatte. So gab es Bezirke, in denen bei Schülern fast durchgängig die Schule nicht angegeben war. Weiter fehlten häufig: die Größe der Wohnung (wußten wahrscheinlich viele wirklich nicht), die Höhe der Miete (wollte man wahrscheinlich nicht angeben), die Arbeitsstätte und der Beruf. All diese unvollständigen Bögen hätten wir durch Rückfragen ergänzen müssen. Bei Tausenden von Nachfragen ein sehr zeitaufwendiges Verfahren, zunächst ein telefonischer Versuch und dann vielleicht auch noch schriftlich. Wir haben es uns deshalb etwas einfacher gemacht: Größe und Ausstattung der Wohnung, Miete und Baujahr haben wir halt nach der Örtlichkeit geschätzt (besser gesagt: geraten, da wir die Örtlichkeit meist nicht kannten). Die Schulangabe haben wir nach den Schuleinzugsbereichen ergänzt, Beruf und Berufsausbildung nach dem Arbeitgeber erraten. Religion war im Zweifelsfall immer evangelisch; weil sowieso rund 90% der Bevölkerung bei uns evangelisch sind, wird die Trefferquote dabei recht hoch gewesen sein. Und wer fast gar nichts ausgefüllt hat, den macht man halt arbeitslos, dann entfallen nämlich die meisten Folgefragen. Nur in einigen Fällen, z.B, bei fehlenden Arbeitsstätten, war nachzufragen. Aber selbst dies war immer noch ein ziemlicher Arbeitsaufwand bei der Menge.

Während der Durcharbeitung der Bögen wurde deutlich, daß sich in den Bögen wahrscheinlich eine Unzahl von Fehlern verstecken. Teils wurden sie wohl aus Unwillen gegenüber der Volkszählung oder Mißtrauen gegenüber dem Staat gemacht (so ergab sich aus privaten Gesprächen immer wieder, daß die meisten trotz gegenteiliger Beteuerung fest davon überzeugt sind, daß sich z.B. das Finanzamt der Daten bedienen wird), teils aber auch dadurch, daß man mit der komplizierten Fragestellung nicht klarkam. Und wer die Bögen sowieso nur widerwillig ausfüllt, macht sich kaum die Mühe, auch noch alles klein-, kursiv- und quergedruckte im Bogen zu lesen oder seine Wohnfläche genau auszumessen. Deutlich wurden die Fehler z.B. bei den Wohnblocks. Obwohl dort alle Wohnungen die gleiche Größe haben und alle Mieten ähnlich hoch sein müßten, gab es bei zehn Wohnungen acht verschiedene Angaben. Auch war auffällig, daß es kaum Wohnungen gab, die mit sozialen Mitteln gefördert wurden, obwohl die meisten Neubauten ohne diese kaum gebaut werden können. Hier wird wohl auch ein gewisses Mißtrauen mitgespielt haben. Insgesamt wird wohl in mindestens der Hälfte aller Bögen mindestens ein Fehler stecken. Eine weitere Fehlerquote mag bei uns darin liegen, daß wir zwar alle nach Jahresbeginn neu angemeldeten Einwohner in die Listen eingearbeitet haben, die Aufstellung der bis zum Stichtag noch weggezogenen Bürger aber leider verlegt wurde und diese deshalb nicht gestrichen werden konnten. Und wen der Zähler am Stichtag nicht antraf, der mußte halt als längere Zeit ortsabwesend ersatzerfaßt werden. Dies mag zwar manchmal zu Fehlern führen, aber wenigstens wirkt es sich auf unsere amtliche Einwohnerzahl später nicht negativ aus.

Eine Boykottinitiative — offiziell Volkszählungsinitiative — existierte natürlich auch bei uns. Ihre öffentlichen Veranstaltungen hatten durchaus regen Zulauf — die erste Veranstaltung, allerdings noch von einer Partei organisiert, fand sogar in einem städtischen Raum statt. Da immer sorgfältig darauf geachtet wurde, die Veranstaltungen als Informationsveranstaltungen zur Volkszählung zu bezeichnen, gab es keinen Ansatzpunkt für ein staatliches Einschreiten gegen die Initiative, und sie konnte ihre Veranstaltungen und Treffs sogar in der Presse — zumindest in einem Teil derselben — bekanntgeben. Aber trotz des guten Zulaufs bei den Veranstaltungen blieb bei den regelmäßigen Treffs nur ein relativ kleiner Kreis von Aktiven. Dabei wird in der Bevölkerung die Mehrheit der Volkszählung eher ablehnend gegenüberstehen. Aber da man gegen »die da oben eh nichts ausrichten« kann, haben halt die meisten ihren Bogen ausgefüllt — spätestens nach der ersten Mahnung. Und der Heranziehungsbescheid mit Anordnung eines Zwangsgeldes hat den Kreis der Hartnäckigen weiter stark dezimiert.

Widersprüche wurden nur relativ wenige erhoben, zumal der Antrag auf aufschiebende Wirkung des Widerspruchs beim Verwaltungsgericht immer pauschal abgelehnt wurde und auch noch Kosten von 50 DM einbrachte. Bei der Festsetzung des Zwangsgeldes gaben wiederum etliche auf, und als der Vollstreckungsbeamte vor der Tür stand und das Zwangsgeld kassieren wollte, gab es kaum noch einen, der weiter boykottierte. Ist ja auch nicht das Wahre, die Volkszählung noch mitzufinanzieren. Erfolgreicher waren da die Wenigen, die sich der Zählung durch geschicktes Umziehen oder Untertauchen entzogen haben.

Was ist jetzt bei der ganzen Volkszählung bei uns rausgekommen? Nun, zunächst ist die Volkszählung relativ reibungslos verlaufen. Es gab zwar kleine Pannen, aber von großen Problemen — zuwenig Zähler, Ausfall von Zählern während der Zählung usw. — blieben wir verschont. Und mit einigem Druck konnten letztlich ca. 99% der Bögen eingesammelt werden. So wird es in den meisten Kleinstädten und Landgemeinden sein. Bestimmte Tricks — Türschilder auswechseln, sich für jemand anders ausgeben usw. — laufen eben nicht, wo jeder jeden kennt. In den größeren Städten wird es sicherlich anders aussehen. Schon in einer benachbarten Großstadt — so ganz groß ist die noch garnicht — sind die Kollegen bereits beim Rücklauf der Bögen völlig untergegangen und fangen jetzt, wo wir schon abgeliefert haben, erst richtig mit der Sichtung an. Aber der reibungslose technische Ablauf sagt natürlich noch nichts über den Wert und die Verläßlichkeit der gesammelten Daten. Schon die Fehlerquote, die wir bei uns annehmen, wird viele Daten völlig wertlos machen. So kann man die Angaben zur Wohnungsgröße und Miethöhe getrost in den Schornstein schreiben, und auch bei den Daten zum Erwerbsleben (s.o.) wird die Fehlerquote enorm sein. Und die manchmal etwas willkürliche Ergänzung der Bögen, zu der man, wenn ständig auf Einhaltung des Abgabetermins gedrungen wird, ja schon gezwungen ist, trägt auch nicht gerade zur Genauigkeit bei. Vollends zum Flop wird die ganze Volkszählung aber durch das Bestreben aller Kommunen, möglichst viele Einwohner zu zählen. Das Doppeltzählen von Einwohnern wurde ja geradezu angestrebt, und wo regelrechte Kopfprämien für jeden Neuentdeckten ausgesetzt werden, wird auch so mancher Phantomeinwohner mitgezählt worden sein. So werden wohl die Großstädte, die angeblich sowieso mit Einwohnerverlusten rechnen müßten, die Spitzenreiter sein. Wenn da insgesamt nicht eine Million Surplus-Einwohner rauskommen, mogeln die da oben beim Zusammenzählen.

Fazit: Ein Millionenschwindel aus Gründen der Staatsräson!

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