Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 91: Digitale Demokratie

Offener Brief

an alle diejenigen, die sich nicht ohne weiteres »volkszählen« ließen

Dokumentation

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 99-101

I. Die Volkszählung und ihre amtlich-gerichtlichen »Nachbereinigungen« sind noch im Gange. Wie soll »man« sich dazu verhalten, da die Opposition seither sehr erfolgreich gewesen ist. Wir stellen folgende Überlegungen zur Diskussion, damit das Politikum der Opposition wider die Volkszählung nicht zunichte gemacht werde. In einem Satz formuliert: Wir schlagen vor, den Volkszählungsboykott auf schweyksche Art auslaufen zu lassen.

II. Die regierungsamtliche, mit allen möglichen Zwangsknüppeln versehene Volkszählung war von Anfang an eine Zumutung, weil sie zu vernünftiger demokratischer Planung nicht nütze ist. Stattdessen wurde ohne genaue Angabe der Aufgaben von Bürgerin und Bürger eine höchst mißbräuchliche Vorleistung verlangt. Eine Zumutung, weil viele der Fragen ohne Not das informationelle Selbstbestimmungsrecht verletzten. Eine Zumutung, weil diese »Volkszählung« mit einem Milliardenaufwand unternommen worden ist. Das aber in Zeiten, da unvermindert Arbeitslosigkeit herrscht und sozialstaatliche Leistungen just für die Gezählten abgebaut werden. Eine Zumutung, weil die Volkszählung zurecht als Mosaikstein im Rahmen der anderen Sicherheitsgesetze interpretiert wurde.

III. Deswegen haben viele Bürgerinnen und Bürger nicht mitgemacht. Die Volkszählung ist zu einer weiteren Fehlinvestition des Staates geworden. Sie ist nach ihrer eigenen Logik gescheitert:

  • Eine nicht genau zählbare aber in die Millionen gehende Menge von Bürgerinnen und Bürgern haben die Fragebögen so ausgefüllt, wie wenn sie »Dienst nach Vorschrift« geleistet hätten. Sie haben sich formal korrekt verhalten, aber inhaltlich durch die Art, wie sie die Fragen beantworteten, die von ihnen gegebenen Informationen wertlos gemacht. Die Auswertung dieser Fragebögen erbringt nichts anderes als eine systematische Fehlinformation.
  • Eine beträchtliche Anzahl hat die Bögen, so sie sie überhaupt erhalten hat, nicht zurückgeschickt, auf Mahnungen nicht reagiert und das Verfahren bis heute verschleppt.
  • Eine kleinere Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern hat auf Androhungen, mit Zwangsgeld überzogen zu werden, mit Widersprüchen und Klagen bei den zuständigen Verwaltungsgerichten auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung reagiert. Ein Ende dieser Verfahren ist nicht in Sicht. Von dieser Gruppe gibt es nicht wenige, die sich darauf eingestellt haben, in jedem Fall weiterzuboykottieren, selbst wenn es zur Vollstreckung der ersten Zwangsgelder kommen sollte.

Kurzum: Unabhängig davon, ob eine kleinere oder größere Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern sich weiter verweigern wird, eins steht fest: Diese Volkszählung hat in nur höchst eingeschränktem Maße stattgefunden. Denn ein großer Teil des Volkes hat sich nicht zählen lassen. Er hat sich so oder so aus der staatlich ausgeworfenen Informationsschlinge herausgezogen.

IV. Deshalb war die Opposition gegen die Volkszählung überaus erfolgreich. Sie stellt eines der am meisten erfreulichen Signale dieser immer noch bestenfalls halb demokratischen Republik dar. Die Opposition hat nämlich in all ihren unterschiedlichen Variationen gezeigt — und gerade dieser Verweigerungspluralismus ist trefflich —, daß wenn nicht eine Mehrheit, so doch eine weit über die 10 Prozent hinausreichende qualifizierte Minderheit sich staatlich-autoritärem Verlangen nicht einfach unbesehen beugt. Ja selbst die Mehrheit, die mutmaßlich korrekt ausfüllte, hat dies vielfach nur nach zahlreichen Diskussionen in den Familien und widerstrebend getan.

Deswegen: Es wird mutmaßlich sogar problematischere Wege der Datenbeschaffung in Zukunft geben. Wachsamkeit und Mißtrauen sind mehr denn je erforderlich. Eine solche Volkszählung aber werden sich selbst die sanktionsgewaltigen Politiker nicht mehr leisten wollen.

V. Dennoch: Vom Bundesinnenministerium, dem Statistischen Bundesamt und den einschlägigen Institutionen der Länder wird selbstverständlich so getan, als sei die Volkszählung »ein Erfolg« gewesen. Denn welcher Politiker wollte, autoritär wie sie’s gewohnt sind, »Akzeptanz« einzuwerben, noch einmal an die Öffentlichkeit treten und eingestehen: Diese von Anfang an unnötige und geldverschwenderische, ja Bürgerrecht verletzende Volkszählung (oder andere politische Maßnahmen) ist politisch nicht durchsetzbar. Aus diesem Grunde könne es geschehen, daß weiterhin Personen, die sich der Ausfüllung bis jetzt entzogen, mit Zwangsgeldandrohungen und schließlich mit Zwangsgeldern überzogen werden. Wenigstens disziplinierend will »man« Herr, sprich Staat, bleiben. (Obgleich, wenn denn die Zählung erfolgreich gewesen sein sollte, wie vom höchsten Statisten schon verlautbart, eine weitere Belangung von der Zahlung unbescholtener Bürger überhaupt nicht mehr zu rechtfertigen ist.) Disziplinierungshilfe können die staatlichen Instanzen in der Zwischenzeit von den meisten Gerichten (Verwaltungsgerichten) erwarten. Jüngst ist in einem Vorbeschluß des Bundesverfassungsgerichts so argumentiert worden, daß die drei Verfassungsrichter an der Volkszählung nichts grundrechtlich auszusetzen fänden und deswegen eine Klage von vornherein nicht zuließen.

VI. Angesichts dieser Situation stellt sich wie so oft die Frage:  was tun? Wie soll sich der einzelne, die einzelne, die bis jetzt nicht (schweyk’sch) ausgefüllt haben, weiterhin verhalten?

Die Situation ist in den einzelnen Ländern und Regionen sehr verschieden. Sie stellt sich auch für die einzelnen Personen unterschiedlich dar. Deswegen müssen alle Gruppen und einzelnen letztlich situationsspezifisch selber entscheiden, wie sie sich weiter zu verhalten gedenken. Nur eines sollte allen klar und deutlich sein: Protest und Opposition wider die Volkszählung waren wichtig. Sie waren nicht zuletzt deshalb vonnöten, weil im Unterschied zu anderen Maßnahmen, die die Grundrechte der Bürger unterhöhlen, hier jeder Bürger und jede Bürgerin gebraucht wurden und sich deswegen so oder so verweigern konnten. Ein klares antiautoritäres, ein klares demokratisches Zeichen mußte gegeben werden. Es ist gegeben worden. Und die Volkszählung ist in der Sache gescheitert. Zugleich aber ist es nun nicht angezeigt, daß Bürgerin oder Bürger mehr riskieren, als sie sich zumuten können. Die Volkszählung ist nicht der Fall absoluten Widerstands, ohne das Wenn und das Aber der Kosten finanziell, psychisch und politisch zu beachten. Sie ist außerdem, wir wiederholen uns, der Sache nach gescheitert. Das wichtige Zeichen des nicht im Vorschuß gegebenen Staatsvertrauens ist erfolgt. Also sollen die einzelnen je nach Situation Widerspruch einlegen und bei den Verwaltungsgerichten klagen, aber auch bedenken, daß ein Abbruch des Boykotts sinnvoll sein kann. Andere aber, die Prozesse scheuen, die die Kosten befürchten können, ohne feige zu sein, ohne ihr persönlich-politisches Gesicht zu verlieren, ohne der Oppositionsbewegung in den Arm zu fallen, sollen ihre Ausfüllungspflicht am braven Soldaten Schweyk orientieren. Und der war brav, indem er sich bückte, wenn’s Zeit war, sich aber dennoch nicht unterdrücken ließ. Deswegen arbeitete er mit dem uralten Mittel des frommen Betrugs. Wir raten den VoBo-Initiativen als Träger des Boykotts, den Volkszählungsboykott auf schweyksche Art auslaufen zu lassen.

Die Behörden und Gerichte aber müssen sich bei allen Maßnahmen gegen Volkszählungsgegnern und -gegnerinnen bewußt sein, daß mit nachträglichen Zwangsmaßnahmen die Volkszählung nicht zu retten ist. Die Warnungen der Gegner der Volkszählung haben sich als gerechtfertigt herausgestellt. Daher verbieten sich weitere Zwangsmaßnahmen.

Berlin, 5. November 1987

nach oben