Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 91: Digitale Demokratie

»Nicht grausam und nicht heimtü­ckisch...«

Wie die bundesdeutsche Justiz versuchte, den Mord an Ernst Thälmann aufzuklären.

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 43-54

Das Ermittlungsverfahren hatte 23 Jahre gedauert. So viele Staatsanwälte waren bereit gewesen, die Verdächtigen zu schonen, daß schließlich die Eröffnung einer gerichtlichen Hauptverhandlung gegen den letzten Überlebenden eingeklagt werden mußte. Den Prozeß führte die Schwurgerichtskammer des Krefelder Landgerichts. Nach sechsmonatiger Verhandlungsdauer entschied die Kammer unter dem Vorsitz von Dr. Heinz-Josef Paul am 15. Mai 1986, den angeklagten ehemaligen SS-Oberscharführer und Spieß der Kommandantur im Konzentrationslager Buchenwald Wolfgang Otto, Lehrer im Ruhestand, zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren wegen Beihilfe zum Mord an dem Vorsitzenden der KPD der Weimarer Republik, Ernst Thälmann, zu verurteilen. Zehn Monate später, am 25. März 1987, hob der dritte (politische) Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil auf, weil, so der Senat, die Grenzen der freien Beweiswürdigung vom Krefelder Schwurgericht überschritten worden seien. Obwohl Wolfgang Otto seit Ende 1943 für den ordnungsgemäßen Ablauf der vom Reichssicherheitshauptamt geplanten Tötungen verantwortlich wär, räumte der BGH eine Möglichkeit ein, die nicht mal dem Angeklagten und seinen Verteidigern eingefallen war: daß Otto zwar im Dienst gewesen sei in jener Nacht des 17. August 1944, in der Ernst Thälmann in Buchenwald erschossen wurde, jedoch »ohne in der festgestellten Weise in das Tatgeschehen verstrickt zu sein.«

Der Mordbefehl.

Auf einer Wahlveranstaltung der NSDAP im März 1933 hatte Göring die Volksgenossen eingestimmt: gegen Kommunisten habe er keine Gerechtigkeit zu üben; hier habe er »nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts«. Tausende von Regimegegnern waren zu dieser Zeit schon verhaftet und in Gefängnissen verschwunden. Thälmann hatte sich nach Drängen seiner Parteifreunde endlich entschlossen, ins Ausland zu gehen, doch kurz vor seiner Abreise nahmen ihn Polizisten in Berlin fest. Ein Spitzel hatte ihn verraten. Gegen den KPD-Vorsitzenden wird Anklage wegen Anstiftung und Vorbereitung zum Hochverrat erhoben —ein Prozeß findet aber nie statt. Er wird in »Schutzhaft« überführt und bleibt Gefangener der Gestapo — »im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«.

Elf Jahre später, nach dem mißglückten Attentat der Offiziere am 20. Juli 1944, wird Thälmann ein Opfer der anschließenden Terrorwelle. »Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918 begangen wurde«, hatte Gestapo-Chef Heinrich Müller gesagt, »wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben lassen.« Den Mordbefehl gab Hitler in einer Unterredung mit Himmler in der »Wolfsschanze«, in der über Konsequenzen aus dem 20. Juli gesprochen wurde. Man schrieb den 14. August 1944. Himmler notierte: »Thälmann ist zu exekutieren.« Drei Tage später erschoß ein SS-Kommando den fünfzig Jahre alten Parteiführer im Eingang zum Krematorium des Konzentrationslagers Buchenwald.

Als mutmaßlich letzter Überlebender des Mordkommandos stand vierzig Jahre da-nach Wolfgang Otto vor Gericht. Er habe, stellte das Landgericht Krefeld im aufgehobenen Urteil fest, als »rechte Hand des Lagerkommandanten« am Nachmittag oder Abend des 17. August vom Reichssicherheitshauptamt telefonisch oder durch Fernschreiben die Vorankündigung erhalten, daß ein wichtiger Häftling eintreffen werde, der im Konzentrationslager zu exekutieren und sofort zu verbrennen sei. Die Exekution sei geheim zu halten. Wie auch sonst bei Hinrichtungen aller Art sei Wolfgang Otto »mit den Vorbereitungen und der Mitwirkung« befaßt gewesen. Selbstverständlich hatte Otto kein Geständnis abgelegt; in Verfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen wäre das einer Sensation gleichgekommen. Doch gerade dies, das fehlende Geständnis, ließ die höchsten Bundesrichter am Ur-teil ihrer Krefelder Kollegen zweifeln. Die Würdigung des Tatgeschehens durch das Landgericht gehe daran vorbei, heißt es im Aufhebungsbescheid aus Karlsruhe, daß der Verurteilte eine eigene Tatbeteiligung gerade leugnet.

Mitte 1988 ist Beginn der Neuverhandlung in Düsseldorf.

Die Tat.

Ein Häftling des Konzentrationslagers Buchenwald hatte schon kurz nach der Befreiung den Amerikanern berichtet, er habe die Geschehnisse am späten Abend und in der Nacht des 17. auf den 18. August 1944 beobachtet. Es war der Pole Marian Zgoda, Leichenträger im Krematoriumskommando. Zgoda war damals, wie zahlreiche andere Häftlinge, von amerikanischen Vernehmungsoffizieren nach seinen Erlebnissen im Konzentrationslager befragt worden. Bei dieser Gelegenheit sagte er aus, was er über Thälmanns Tod wußte. Doch die Amerikaner sühnten ausschließlich die »Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges«; Straftaten, die an deutschen Staatsangehörigen begangen wurden, einschließlich der Tötungsdelikte, galten in diesem Sinn nicht als Kriegsverbrechen. In den beiden Verfahren gegen ins-gesamt 37 Beteiligte an Massenmorden und sadistischen Greueltaten im Konzentrationslager Buchenwald blieb Zgodas Schilderung ohne Belang. Wolfgang Otto, gegen den mehr als vierzig Jahre später in Krefeld verhandelt werden wird, war einer der Angeklagten des Militärtribunals, das vom 11. April bis zum 14. August 1947 in Dachau stattfand und mit 22 Todesurteilen, fünf lebenslangen und vier Zeitstrafen endete. Alle Angeklagten hielten sich für »nicht-schuldig« im Sinne der Anklage. Otto, der in Buchenwald Karriere gemacht hatte und zum Schluß als SS-Oberscharführer der wichtigste Mann nach dem Kommandanten war, bekam zwanzig Jahre Haft. Vor den amerikanischen Militärrichtern hatte er seine Beteiligung an Exekutionen zugegeben: als Schütze bei 50 Exekutionen mit etwa 200 Erschossenen und in zahlreichen anderen Fällen als Protokollführer. Dann hatte er die Exekutionen zu organisieren, die Toten abzuhaken und als »erledigt« nach Berlin zu melden, an das Reichssicherheitshauptamt.

Auch am Schluß des Krefelder Verfahrens blieben Marian Zgodas Schilderungen unberücksichtigt. Sie konnten für Ottos Verurteilung nicht herangezogen werden, weil nicht mehr geklärt werden konnte, wie es dem Häftling aus dem Leichenträgerkommando gelungen war, den Mord zu beobachten. Zgoda war 1967 gestorben. Sein Bericht blieb dennoch von großer Bedeutung, denn Zgoda hatte ein Szenario beschrieben, das allen Prozeßbeteiligten realistisch erscheinen mußte: Eine Einzelaktion habe bevorgestanden, das sei ihm nach dem Befehl des Unterscharführers Stobbe klar gewesen, am Nachmittag die Öfen anzuheizen. Er habe sich deshalb im Krematoriumshof versteckt und gegen Mitternacht eine Reihe von SS-Leuten das Krematorium betreten sehen, die offensichtlich einen Transport erwarteten. Unter ihnen sei der Stabsscharführer Otto gewesen. Später habe er eine schwere Limousine zum Tor hereinfahren sehen, der drei Zivilisten entstiegen seien. In der Mitte sei der Gefangene gegangen, in den beiden anderen Männern vermutete er dessen Bewacher. Der Gefangene sei groß, breitschultrig und ohne Hut gewesen, deshalb habe er seine Glatze sehen können. In dem Augenblick, in dem der Gefangene das Spalier der SS-Leute passiert hatte, habe er drei Schüsse gehört. Später sei im Krematorium ein vierter Schuß abgegeben worden, wohl der übliche Fangschuß. Die SS-Männer unterhielten sich, so Zgodas Bericht, über den Getöteten. Es sei der Kommunistenführer Thälmann gewesen, habe Stabsscharführer Otto gesagt. Der Tote sei in voller Bekleidung verbrannt worden, das habe er am nächsten Morgen daran festgestellt, daß die Asche, die sonst immer nahezu weiß war, dunkel gewesen sei. Außerdem habe er in der Asche eine ausgeglühte Taschenuhr gefunden.

Das Leichenträgerkommando im Konzentrationslager Buchenwald bestand aus sechs Häftlingen: zwei deutschen, dem Kapo und dem Vorarbeiter, und vier polnischen, den Leichenträgern. Einer von ihnen war Marian Zgoda, Landarbeiter von Beruf. Ein Jahr, nachdem die deutsche Wehrmacht über sein Land hergefallen war, sperrte ihn die Polizei zuerst ins Gefängnis, dann im Mai 1941 ins Konzentrationslager Buchenwald, in »Schutzhaft«. Inhaftierungsgrund »politisch« stand auf seinem Einlieferungsschein. Er hatte »feindliche Sender« abgehört. Nach der Befreiung ging Zgoda nach München; er bekam dort den Status eines »heimatlosen Ausländers.« In München gab er ein zweites Mal seinen Augenzeugenbericht ab: im November 1948 vernahm ihn dort Amtsgerichtsrat Wilhelm Puckert auf Veranlassung und im Beisein von Staatsanwalt Rodewald aus Weimar. Marian Zgoda starb 1967 mit 58 Jahren. Vier Jahre zuvor hatte er ein letztes Mal seine Aussage wiederholt: vor dem Kölner Staatsanwalt Hans-Peter Korsch von der »Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen in Konzentrationslagern«. Auch diese Vernehmung war erfolglos. Der Staatsanwalt klappte ein halbes Jahr später die Akten zum Mordfall Thälmann zu, weil, wie er später vor dem Krefelder Schwurgericht sagen wird, sich Zgodas »Geschichte so unwahrscheinlich anhörte«. Seine »Geschichte« hatte Zgoda vor deutschen Justizstellen dreimal »stets gleichbleibend geschildert«, heißt es später in dem Beschluß des Oberlandesgerichts Köln vom Juni 1983, die öffentliche Klage zu erheben. Die Protokolle von Zgodas Vernehmungen stammen aus den Jahren 1948, 1962 und 1963. Nur das Randgeschehen habe der ehemalige Häftling jeweils abweichend geschildert. Das Oberlandesgericht Köln war von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt. Es gab dafür noch ein weiteres Indiz: Schon im Konzentrationslager hatte Zgoda einigen Mithäftlingen von seinen Beobachtungen er-zählt — und sich damit dem Risiko einer »zum Tode führenden Behandlung« ausgesetzt. (OLG Köln 24.6.83, S. 23)

Aus den Prozeß­ak­ten.

Aussage des inzwischen verstorbenen ehemaligen Häftlings Armin Walther (Elektriker-Kommando): »Am 28. August 1944 sah ich in der Rapportführerstube einen ausgefüllten Totenschein auf den Namen Ernst Thälmann. Als Todesursache war Feindeinwirkung angegeben. Bei derselben Gelegenheit hörte ich ein Gespräch der SS-Unterscharführer König und Tula, die darüber sprachen, daß Thäimann in Buchenwald exekutiert worden sei und man nicht wisse, an wen man die Asche schicken sollte, da sämtliche Angehörige des Toten sich im Zuchthaus, beziehungsweise im KZ befinden.« Anzumerken ist dazu, daß die Nazis die Todesursache »Feindeinwirkung« hatten verbreiten lassen: Thälmann und der Sozialdemokrat Breitscheid, so der »Völkische Beobachter« am 15. September 1944, seien am 28. August Opfer eines Bombenangriffs auf die Umgebung von Weimar geworden, bei dem auch das Lager getroffen worden sei. Diese Meldung war in zweifacher Hinsicht falsch: am 28. August gab es keinen Bombenangriff auf die Umgebung von Weimar, und Ernst Thälmann war bereits seit dem 18. August tot — ermordet von SS- und Gestapo-Leuten. Der SPD-Abgeordnete Breitscheid starb tatsächlich bei einem alliierten Bombenangriff auf die dem Lager angeschlossenen Rüstungsbetriebe und den SS-Wohnbereich, jedoch nicht am 28., sondern am 24. August 1944. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von der Ermordung Thälmanns damals durch das Lager verbreitet; gleich am nächsten Tag, erinnerte sich in Krefeld der ehemalige Häftling Zbigniew Fuks als Zeuge, wurde überall darüber gesprochen. Nur Wolf-gang Otto will von Thälmanns Tod erst aus der Zeitung erfahren haben.

Aussage des inzwischen verstorbenen ehemaligen Häftlings Josef Müller (Kapo im Krematoriumskommando): »Von dem am 17. August 1944 eingelieferten Mann standen am anderen Morgen lediglich ein Paar Herrenschuhe vor dem Ofen. Daß diese Schuhe am 18.8.44. morgens von einem Unterführer abgeholt wurden, fiel mir auf, da man sich sonst um solche Kleinigkeiten nicht bekümmert hatte. … Später habe ich mich natürlich mit anderen darüber unterhalten, wer wohl der Tote gewesen sei. Ich kann aber nicht mehr sagen, ob in diesen Gerüchten der Name Thälmann gefallen ist. Kurze Zeit nach diesem Vorfall habe ich sogar im Büro des Krematoriums den Unterscharführer Stobbe nach diesem Toten gefragt. Er erklärte mir aber nur, daß es sich um eine ‚hohe, berühmte Persönlichkeit‘ gehandelt habe.«

Aussage des inzwischen verstorbenen ehemaligen Häftlings Heinz Mißlitz (Kommando Effektenkammer): »Am April 1947 war ich als Zeuge vor das Amerikanische Militärgericht in Dachau geladen worden. In Gegenwart anderer deutscher Zeugen wurden vom Chief interrogator Kerschbaum der in Dachau internierte SS-Hauptscharführer Fricke und der Berufsverbrecher Krematoriumskapo Müller vorgeführt. Kerschbaum stellte im Zusammenhang mit der Ermordung Thäimanns an Fricke die Frage: ‚Waren Sie öfter im Krematorium?` Fricke antwortete mit ‚Nein‘. Daraufhin beschuldigte ihn Müller, er sei dort Stammgast gewesen, und er wäre auch wegen Thälmann dort gewesen. Daraufhin machte Fricke die bemerkenswerte Feststellung: ‚Jawohl, weil ich von Stabsscharführer Otto noch nicht einmal genaue Personalien zur Beurkundung erhalten habe‘.«

Aussage von Werner Fricke, ehemals SS-Hauptscharführer und als »Standesbeamter« dafür zuständig, sämtliche Todesfälle im Konzentrationslager zu registrieren: »Mai-Juni 1947 befand ich mich als Gefangener in Dachau. Ich trug Zivilkleider und auf dem Rücken aufgemalt ‚WC‘ (für ‚War Criminal`, d.V.). Ich hatte in Dachau erfahren, daß auch Otto inhaftiert sei und begab mich eines Tages in seine Baracke. … Bei unserer Unterhaltung erinnerte ich ihn an ein Gespräch, das ich seinerzeit mit ihm in Buchenwald geführt hatte. Otto war nämlich in Buchenwald nicht sehr beliebt gewesen. Er versuchte immer, die Reservisten gegen die Aktiven auszuspielen. Ich hatte ihm deshalb in Buchenwald einmal gesagt, daß er das besser nicht täte, weil eine Zeit kommen könne, in der er die alten Aktiven dringend nötig hätte. Nun war diese Zeit gekommen, und ich erinnerte Otto an seine damalige Haltung und das Gespräch. Otto sagte daraufhin: ‚Du wirst mir doch nichts antun!‘ In diesem Zusammenhang kamen wir auf die Sache Thälmann zu sprechen. Otto erklärte mir dabei, daß er zusammen mit Schmidt und Barnewald dabei gewesen sei. … Ich kann aber nicht mehr genau sagen, ob ich mit Otto darüber sprach, in welcher Weise er genau an der Tötung Thälmanns beteiligt gewesen ist. Otto erklärte nur, daß man ihm nichts anhaben könne, weil Barnewald geschossen habe.«

Aussage des inzwischen verstorbenen SS-Oberscharführers August Klusmann: »In den letzten vier oder fünf Monaten habe ich die Zusatzrationen an die an den Exekutionen beteiligten SS-Angehörigen ausgeteilt. Es waren dies unter anderem: Otto und Heigel. Sie bekamen zweizehntel Schnaps, fünf Zigaretten und hundert Gramm Wurst. Otto ist jedesmal daran beteiligt gewesen, wenn ich etwas ausgeteilt habe, mindestens einmal in der Woche, manchmal auch zweimal.«

Aussage des ehemaligen SS-Oberscharführers und späteren Angeklagten Wolfgang Otto: »Irgendeine persönliche Schuld, resultierend aus meiner Zeit in Buchenwald, fühle ich nicht in mir.«

Das Konzen­tra­ti­ons­lager Buchenwald.

Eugen Kogon schreibt über die Wahl des Ortes: Sie »war in einem höheren Sinn symbolisch: Weimar — die deutsche National-Kultstätte, ehemals die Stadt der deutschen Klassiker, die mit ihren Werken dem deutschen Gefühls- und Geistesleben höchsten Ausdruck gegeben haben, und Buchenwald — ein rauhes Stück Land als Stätte neudeutscher Gefühlsentfaltung. Eine sentimental gehütete Museumskultur und der hemmungslose, brutale Machtwille schufen so die neue, typische Verbindung Weimar-Buchenwald.« 65000 Menschen starben im Konzentrationslager Buchenwald. Sie verhungerten, erfroren, wurden zu Tode gequält, für Experimente vergiftet, vernichtet durch Arbeit, oder exekutiert.

In den beiden Massenexekutionsstätten, dem »Pferdestall«, von dem noch die Rede sein wird, und dem Krematoriumskeller, starben Tausende. Gruppenweise wurden Häftlinge in den Keller des Krematoriums geführt und dort an den 48 fest installierten Haken erhängt. Ihre Leichen wurden, nachdem Minuten später der Tod eingetreten war, in einen Fahrstuhl geworfen und nach oben befördert, in den Ofenraum des Krematoriums. Die Zeugenaussage des inzwischen verstorbenen ehemaligen Buchenwald-Häftlings Ulrich Osche, verlesen in der Hauptverhandlung gegen Wolf-gang Otto, vermittelt einen Eindruck von dem grausigen Geschehen. Osche konnte von seiner Arbeitsstelle im Sektionsraum aus SS-Angehörige, darunter auch den An-geklagten, beobachten, die Häftlinge zur Hinrichtung führten.

»An diesem furchtbaren Ort habe ich einmal selbst Gelegenheit gehabt, mich von der Methode des Massenmordes in den Kellergewölben zu überzeugen. Eines Nachmittags, im Sommer 1944, kam der oben erwähnte Standortzahnarzt zu mir in den Sektionsraum und forderte mich auf, Zahnziehzangen aus dem Instrumentenschrank zu nehmen und mit ihm zu kommen. Er ging mit mir in den Keller des Krematoriums, in dem sich mir ein entsetzlicher Anblick bot. Rundherum an den Wänden und an den Zwischenträgern hingen und röchelten ungefähr 40 sowjetische Kriegsgefangene an in die Wand eingeschlagenen Haken. Auf dem Boden lagen noch einmal ungefähr dieselbe Anzahl sowjetischer Kriegsgefangener, die meist völlig entkleidet waren. Der Zahnarzt verlangte, daß ich die Gebisse nachsehe und Goldkronen oder Brücken herausziehe. Als wir an einen Gefangenen kamen, der noch Lebenszeichen von sich gab, wurde dieser nochmals von Warnstedt und Stobbe an einem der Haken aufgehängt. Währenddessen wurden auch die an den Wänden hängenden sowjetischen Kriegsgefangenen von Müller und Rohde von den Haken abgenommen, und ich mußte auch ihnen die Zähne nachsehen. Danach mußte ich den Raum wieder verlassen, und kurz darauf kam Kapo Müller zu mir und warnte mich, über das zu sprechen, was ich gesehen hatte.«

Nachkriegsdeutschland.

Von den zwanzig Jahren Haft, zu denen Otto von der Amerikanern verurteilt worden war, saß er sieben ab. Schon im November 1950 hatte der amerikanische Oberkommandierende in Europa in einem Gnadenakt seine Strafe auf zehn Jahre herab-gesetzt. Am 6. März 1952 schließlich öffneten sich für den ehemaligen SS-Oberscharführer die Tore zur Freiheit. Er hatte sich in Landsberg »ausgezeichnet geführt.« Sein Schuldregister blieb unberücksichtigt, als er, der ehemalige Lehrer, 1954 abermals eine Chance bekam, dem Staat zu dienen. Er wurde zunächst Beamter auf Probe, dann im August 1957 auf Lebenszeit. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hatten sich für ihn eingesetzt, darunter zwei katholische Pfarrer und ein Landtagsabgeordneter der CDU. Wolfgang Otto, der während seines Urlaubs vom SS-Dienst in der Kirche seiner Heimatgemeinde die Orgel gespielt hatte, sei, schrieb der CDU-Abgeordnete Alfred Klose in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der »Vereinigung der aus der Sowjetzone verdrängten Lehrer und Beamten« an den Düsseldorfer Regierungspräsidenten, ein »schwergeprüfter Mann«, der seine Verfehlung, sollte er jemals eine begangen haben, durch die siebenjährige Haft aus-reichend gebüßt habe. Den guten Leumund machte Otto sich zu Nutze: Er beantragte Haftentschädigung nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz. Auf einen Wink aus der bearbeitenden Behörde zog Otto seinen Entschädigungsantrag zurück. Schließlich war er nicht als Kriegsgefangener, sondern als Kriegsverbrecher in Dachau gewesen. Die Landesregierung erkundigte sich nicht nach Einzelheiten seiner Verurteilung durch die Amerikaner. Sie ernannte Otto zum Beamten auf Lebenszeit, obwohl sie wußte, daß er als Waffen-SS-Mann im Konzentrationslager gedient hatte. Erst der drohende öffentliche Skandal leitete das Ende seiner Pädagogenlaufbahn ein, da inzwischen Genaueres über die Tätigkeit Ottos im KZ Buchenwald bekannt geworden war. Vom Juni 1962 an versuchte die Landesregierung, den Lehrer loszuwerden. Otto wehrte sich auf dem Rechtsweg gegen seine Entlassung und bekam Recht. Der sich anschließende mehrjährige Streit endete mit einem Vergleich: Wolfgang Otto schied zwar aus dem Schuldienst aus, doch dem Frühpensionär wurde das Ruhegeld vom Beginn seiner Beamtenlaufbahn an berechnet — SS-Dienstjahre im Konzentrationslager inbegriffen.

Die Ermittlungen gegen Otto in Sachen »Thälmann-Mord« begannen 1962. Nicht die Staatsanwaltschaft war auf seine Spur gekommen, sondern der Kommunist Ludwig Landwehr, ein ehemaliger Buchenwald-Häftling. Nach der Befreiung arbeitete Landwehr in verschiedenen Institutionen, unter anderem im Verfassungsausschuß und Entnazifizierungsausschuß Hamburg, für eine demokratische Zukunft. Land-wehr hatte 1961 von Ottos vorzeitiger Entlassung aus amerikanischer Haft erfahren. Er erinnerte sich an den früheren SS-Mann, dessen Namen er im Konzentrationslager oft genug gelesen hatte. Der Name hatte auf der Rückseite zahlreicher Belege gestanden, mit denen der Häftling Landwehr im Auftrag der SS die Extraportionen an Lebensmitteln für die Genickschußkommandos abrechnen mußte. Einige Namen wiederholten sich ständig und so traute Landwehr sich zu, sagen zu können, wer dem Exekutionskommando »99« angehörte, dem Kommando, das im ehemaligen Pferdestall Erschießungen in der sogenannten »Genickschußanlage« vornahm. Nach der Befreiung hatte er sich die Namen notiert, darunter auch die von Wolfgang Otto und Werner Berger.

Die Genickschußanlage, eine SS-eigene Liquidationsanstalt, befand sich außerhalb des Stacheldrahtbereichs. Den Opfern, die in Gruppen in das Gebäude geführt wurden, täuschten SS-Scharführer Desinfektionsmaßnahmen vor. In dem Glauben, einen Baderaum zu betreten, ließen sich die zum Tode bestimmten in einem kleinen Raum, der schalldichte Wände und Türen hatte und an den Wänden und am Boden gekachelt war, einschließen. Sobald die Männer eingeschlossen waren, schoß ein SS-Mann sie von außen durch einen Schlitz in der Wand zusammen. Die Leichen warf man auf ein bereitstehendes Lastauto, das mit Zinkblech ausgeschlagen war. Sie wurden zum Krematorium gefahren und dort direkt verbrannt. Unterdessen wurde der kleine Raum mit Wasser ausgespült, sodaß kein Blut mehr zu sehen war, wenn die nächsten Männer eintraten.

Ludwig Landwehr ging nach dem Krieg noch davon aus, daß die Schuldigen angemessen bestraft werden würden. Seinen Zettel mit den Namen der SS-Leute, die Sonderrationen bekommen hatten, bewahrte er jedoch auf — zusammen mit anderen Erinnerungsstücken. Jahre später, Wolfgang Otto stand wieder im Staatsdienst, die Kommunistische Partei war erneut verboten, und Ludwig Landwehr wurde abermals als Kommunist verfolgt, sollte seine Notiz von damals Gewicht bekommen. Er stellte Strafantrag bei der Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verbrechen. Rosa Thälmann, die Witwe des Ermordeten, schloß sich an. Sie bat den Ost-Berliner Rechtsanwalt Prof. Friedrich-Karl Kaul, der als einziger DDR-Jurist die Zulassung vor bundesdeutschen Gerichten besaß, ihre Interessen zu vertreten. Ludwig Landwehr hatte auf eigene Faust weiter recherchiert. Er besaß Informationen darüber, daß Wolfgang Otto und Werner Berger, der später, nach Beginn der Ermittlungen, verstarb, auch Angehörige des Erschießungskommandos »Thälmann« gewesen sein sollen. 52 Tage nach seiner Strafanzeige gegen Otto und Berger wegen ihrer Beteiligung an der Ermordung Ernst Thälmann wurde Landwehr festgenommen. Man warf ihm als Herausgeber einer Zeitschrift mit dem Titel »Parlamentarische Nachrichten« Staatsgefährdung vor. In ihrer Mai-Ausgabe des Jahres 1962 hatten diese eine Dokumentation »Über die Zukunft Deutschlands« veröffentlicht. Landwehrs Bankauszüge und alle Post wurden beschlagnahmt; der Beschluß trug die Unterschrift des Bundesrichters Jagusch. Bald darauf mußte der Karlsruher Richter wegen seiner Beteiligung an Terrorurteilen der Nazizeit abgelöst werden. Wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr wurde Landwehr drei Monate in Untersuchungshaft gehalten.

Mit seiner Strafanzeige hatte er den Behörden Material übergeben, das bereits seit 1947 bekannt war, doch bisher zu keiner Anklage geführt hatte. Die Amerikaner waren aus formalen Gründen nicht interessiert — und der Münchner Ermittlungsrichter Wilhelm Pückert, vor dem Marian Zgoda seinen Augenzeugenbericht wiederholt hatte und der nach dem Legalitätsprinzip verpflichtet gewesen wäre, Ermittlungen anzustellen, aus, so darf man annehmen, politischen Erwägungen. Was Zgoda nicht wußte: Er saß einem Mann gegenüber, der eine erfolgreiche Karriere im Zeichen des Hakenkreuzes hinter sich hatte. 1933 war Pückert SA-Mann geworden, trat vier Jahre später in die NSDAP ein, begann im November 1939 seine Juristenlaufbahn als Gerichtsassessor und bot 1943 als Amtsgerichtsrat laut schriftlicher Bestätigung »Gewähr dafür, daß er jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt.« Nach dessen Ende war Pückert, wie so viele Juristen seiner Zeit, ohne Umweg von der westdeutschen Nachkriegsjustiz übernommen worden. Doch auch die Strafanzeigen gegen Wolfgang Otto, die zwischen Frühjahr und Sommer 1962 bei verschiedenen Staatsanwaltschaften eingingen und schließlich das Verfahren in Gang setzten, litten von Beginn an unter jenem Geist in der Justiz, der den Zusammenbruch des NS-Staates überlebt hatte. Den Antrag des Ost-Berliner Rechtsanwalts Prof. Kaul bekam zunächst die wegen Ottos Wohnsitz zuständige Staatsanwaltschaft in Kleve auf den Tisch. Dort saß der Jurist Tillmann, ein ehemaliger Ankläger des nationalsozialistischen Sondergerichts in Stettin. Unter den Nazis hatte es Tillmann zum Vollstreckungsleiter von Sondergerichts-Todesurteilen gebracht. Im niederrheinischen Kleve wurde er nach dem Krieg als leitender Oberstaatsanwalt beim Landgericht beschäftigt. In dieser Funktion bekam Tillmann erstmals mit Otto zu tun. Er sollte nämlich herausfinden, ob Otto auch für den Tod deutscher Lagerinsassen — von Thälmann war damals keine Rede — verantwortlich gemacht werden kann. Ein entsprechender Hinweis fand sich in den amerikanischen Akten. Danach hatte Otto selbst zugegeben, bei Exekutionen sei das Verhältnis von Oststaaten-Angehörigen zu Reichsdeutschen neun zu eins gewesen. Über das Stadium der Ermittlungen kam dieses Verfahren nie hinaus. Daß Tillmann zwei Jahre später nicht zum ermittelnden Staatsanwalt in Sachen »Thälmann-Ermordung« wurde, ist dem Umstand zu verdanken, daß die Länderjustizminister Anfang der sechziger Jahre gesonderte Staatsanwaltschaften eingerichtet hatten, die sich mit den Verbrechen aus der Zeit des NS-Staates zu befassen hatten. Von den beiden in Nordrhein-Westfalen entstendenen spezialisierten Staatsanwaltschaften war die Kölner für die »Bearbeitung von NS-Massenverbrechen in Konzentrationslagern« zuständig.

Mit den Ermittlungen gegen die Lager-SS von Buchenwald wurde Staatsanwalt Dr. Hans-Peter Korsch beauftragt.

Das Ermitt­lungs­ver­fah­ren.

Korsch las die Akten des amerikanischen Buchenwald-Prozesses, hörte dreißig Zeugen aus der Bundesrepublik und zehn aus der DDR, ließ sich die Akten der Weimarer Staatsanwaltschaft kommen, vernahm den der Beteiligung an der Erschießung verdächtigen Wolfgang Otto — und stellte das Verfahren ein. Tatsächliche Anhaltspunkte hatte er nicht finden können. Sein Einstellungsvermerk vom 10. Januar 1964 schloß mit Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des »angeblichen« Augenzeugen Marian Zgoda. Zu jener Zeit war Korsch im Besitz einer Fotokopie des Mordbefehls. Der Notizzettel Himmlers vom 14. August 1944, angefertigt nach der Besprechung mit Hitler im »Führerhauptquartier Wolfsschanze«, hing als Fotokopie unter Glas an der Wand seines Dienstzimmers. Prof. Kaul entdeckte sie dort durch Zufall; er war nach Köln gereist, um nach seiner Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung in der Zentralstelle die Akten einzusehen. Das Original des Wandschmuckes in Korschs Amtszimmer hatten die Amerikaner 1962 dem Koblenzer Bundesarchiv überlassen. Kaul sah es zum ersten Mal. Er war überrascht, ein Dokument zu sehen, das ein weiteres Beweisstück für Marian Zgoda Glaubwürdigkeit sein konnte. In seinem Einstellungsvermerk hatte Staatsanwalt Korsch es mit keinem Wort erwähnt. Doch auch nach Kauls Beschwerde blieb Korsch bei seinem Zweifel. Im April 1972 stellte er wiederum die Ermittlungen gegen Otto ein. Im November 1974 bekam Kaul, nach dem Tod der Witwe inzwischen Vertreter der Thälmann-Tochter Irma, den dritten Einstellungsbescheid von der Kölner Zentralstelle, diesmal unterschrieben von Oberstaatsanwalt Gehrling. Gehrling hatte das Verfahren von Korsch übernommen. Der Bescheid, in dem der SS-Kommandoführer Stobbe mitgenannt wird, auf den die Untersuchungen ausgedehnt worden waren, verdient, zitiert zu werden. Es heißt da: »Schließlich kommt die Erhebung der öffentlichen Klage auch deswegen nicht in Betracht, weil hinsichtlich der noch lebenden und ermittelten Beschuldigten Stobbe und Otto Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist. Beiden könnte wenn überhaupt nur der Vorwurf der Beihilfe zum Mord gemacht werden. Anhaltspunkte dafür, daß die Tötung Thälmanns grausam gewesen ist, liegen nicht vor. Aber auch Heimtücke ist nicht nachweisbar. Es wäre zugunsten der Beschuldigten von der Annahme auszugehen, daß Thälmann nicht arglos gewesen ist, als er nächtens in das Krematorium des KL Buchenwald gebracht worden war. Somit kämen lediglich niedrige Beweggründe als mordqualifizierende Tatbestandsmerkmale in Betracht. »Den Beschuldigten dürfte nach allem, was über die Ermordung Thälmanns als festgestellt erachtet werden kann, nicht nachzuweisen sein, daß ihr Handeln selbst von niedrigen Beweggründen getragen war. Sie hätten offensichtlich nur einem Befehl Folge geleistet, der durch Führerbefehl legitimiert zu sein schien.«

23 Jahre vergingen, ehe sich ein Gericht mit den Vorgängen um Thälmanns Tod befassen konnte. Siebenmal in diesen 23 Jahren hatte die Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen in Konzentrationslagern das Verfahren eingestellt, mit immer gleicher Begründung: das vorliegende Material reiche nicht aus, Anklage zu erheben. Doch die Familie des Ermordeten gab nicht auf. Auf jede Einstellung reagierte sie mit einer Beschwerde. Schließlich beauftragte die Tochter Irma Gabel-Thälmann den Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover, die Klage gerichtlich zu erzwingen, und hatte damit Erfolg. Das Oberlandesgericht Köln wies das Landgericht Kleve an, gegen Otto zu verhandeln, doch die Klever Richter weigerten sich. Sie lehnten eine Eröffnung des Verfahrens ab, da nach ihrer Einschätzung nicht mit einer Verurteilung zu rechnen sei. Als nächstzuständige Instanz wies nun das Oberlandesgericht Düsseldorf die Klage an die Krefelder Schwurgerichtskammer. Am 5. November 1985 eröffnete deren Vorsitzender Heinz-Josef Paul die Hauptverhandlung.

Das Straf­ver­fah­ren.

In Krefeld war über eine Tat zu verhandeln, die 40 Jahre zurücklag, gegen einen Verdächtigen, der zwar seit 40 Jahren belastet war, jedoch seit mehr als 30 Jahren das ehrenwerte Leben eines biederen Pensionärs geführt hatte. Es mußte gegen die Zeit verhandelt werden, denn die meisten der im Ermittlungsverfahren genannten Zeugen konnten nicht mehr persönlich gehört werden; sie waren inzwischen entweder verstorben oder nicht vernehmungsfähig. Eine wirkliche Herausforderung für die Krefelder Richter, die den Düsseldorfer Richtern noch bevorsteht. Von der Revisionsentscheidung des BGH unangetastet bleibt die Feststellung der Krefelder Kammer zur Todesursache Ernst Thälmanns bestehen. Bislang galt immer noch als nicht ausgeschlossen, daß Thälmann infolge eines Bombenangriffs auf die Umgebung des Konzentrationslagers Buchenwald ums Leben gekommen sein konnte. Mit dem in diesem Teilaspekt rechtskräftigen Urteil vom 15. Mai 1986 gehört jene Version endgültig der Vergangenheit an.

Die Krefelder Richter stützten ihre Entscheidung, Otto wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen, auf die Aussage des ehemaligen SS-Mannes und »Standesbeamten« in Buchenwald, Werner Fricke, der inzwischen nicht mehr vernehmungsfähig ist. Fricke hatte Otto schon in Köln im August 1963 schwer belastet. Als Standesbeamter sei er von Thälmanns Tod durch Otto in Kenntnis gesetzt worden, hatte er damals Staatsanwalt Korsch berichtet. Frickes Aufgabe war es gewesen, die Formalitäten zu erledigen: Er trug die Ermordeten mit fortlaufender Nummer, ihrem vollständigen Namen und dem Todesdatum in ein Register ein. Er hatte schon 1947 den Amerikanern gesagt, auch Thälmanns Tod auf diese Weise beurkundet zu haben, und daß er den Auftrag dazu von Stabsscharführer Otto bekommen habe. Korsch stellte 1963 Fricke und Otto in Köln einander gegenüber. Otto bestritt, sich jemals mit Fricke über den Tod Thälmanns unterhalten zu haben. Fricke aber, der sich an das Geschehen genau erinnern konnte, bekräftigte seine Aussage sogar. Er schilderte dem vernehmenden Staatsanwalt eine Unterhaltung mit Otto aus dem Jahr 1947, zur Zeit ihrer gemeinsamen Gefangenschaft im Internierungsiager Dachau. Fricke gab zu Protokoll, er habe Otto in Dachau an Rivalitäten innerhalb der Buchenwald-SS erinnert, die Otto forciert habe. Nun, da man aufeinander angewiesen war, habe Otto ängstlich nachgefragt, ob er sich auf den alten Kollegen verlassen könne. Im Laufe dieser Unterhaltung hätten sie auch über »die Sache Thälmann« gesprochen. Otto habe zugegeben, dabei gewesen zu sein, aber zugleich erklärt, daß man ihm nichts anhaben könne, weil nicht er, sondern ein anderer SS-Mann geschossen habe. Für eine Anklageerhebung hätte das, was der heute nicht mehr vernehmungsfähige Werner Fricke 1963 über das Gespräch mit Otto sagte, allein schon ausgereicht. Denn Fricke hatten keinen Grund, Otto zu Unrecht zu belasten.

Warum Frickes Aussage in den Ermittlungsverfahren dennoch keine Bedeutung bekam, ließ sich 20 Jahre danach nicht mehr rekonstruieren. Aus irgendeinem Grund habe er dem Mann damals nicht geglaubt, sagte in Krefeld Staatsanwalt Korsch als Zeuge. Aus welchem, das wisse er heute nicht mehr. Das zu begreifen, heißt nachzuvollziehen, auf welch massive Weise Restauration und Kalter Krieg die Suche nach der Wahrheitsfindung in NSG-Verfahren torpedierten. Ein Beleg soll hier zitiert werden, der letzte Satz des ersten Einstellungsvermerks vom Januar 1964, dem eine lange Serie weiterer Einstellungen folgte. Staatsanwalt Korsch, der damals die Gelegenheit hatte, belastende und entlastende Zeugen persönlich zu hören, machte aus seinen Vorbehalten gegen den Augenzeugen keinen Hehl: »Abgerundet wird das Bild des Zeugen, der heimatloser Ausländer ist, durch die Tatsache, daß er im Jahre 1951 wegen Verteilens kommunistischer Flugblätter in Erscheinung getreten ist.«
Für den Kölner Staatsanwalt war die Frage nach der Glaubwürdigkeit damit beantwortet.

Das Landgericht Krefeld war davon überzeugt, daß Frickes Aussage seinen »vollen Glauben verdient« . Andere Zeugenaussagen und Ottos eigene Einlassungen bestätigten nämlich Frickes Schilderungen von der Rolle, die Otto im Konzentrationslager ausfüllte: seiner Funktion und Kompetenz, seinem Kenntnisstand und Aufgabenbereich als »Mann im Zentrum der Macht«.

Ottos Verteidigungsstrategie war denkbar einfach, doch ebenso leicht in Frage zu stellen. Er habe, sagte Otto, von allem nichts gewußt — ja, erinnere sich noch an seine große Überraschung, sehr viel später als zum nun festgestellten Todestermin im »Völkischen Beobachter« gelesen zu haben, Thälmann sei in Buchenwald durch Bomben umgekommen. Das sei nicht möglich, folgerte die Kammer aus der im Verlauf der Hauptverhandlung rekonstruierten Position des Angeklagten innerhalb der Lageradministration. Doch genau hier tritt der Bundesgerichtshof auf den Plan mit seiner Revisionsentscheidung. Er moniert am Krefelder Urteil, es habe ein Verteidigungsargument übersehen, das übrigens nicht einmal dem Angeklagten eingefallen war. Es habe nämlich nicht geprüft, ob Otto zur Tatzeit im Dienst gewesen sei, »ohne in der festgestellten Weise in das Tatgeschehen verstrickt« gewesen zu sein. Dem BGH-Senat mag bei dieser Entscheidung vorgeschwebt haben, daß ausgerechnet der Angeklagte, also jemand aus der oberen Etage der Konzentrationslagerhierarchie, von der angeordneten Geheimhaltung der »geheimen Reichssache« betroffen war.

Ob die Richter am Landgericht Düsseldorf dem Angeklagten ein Geständnis entlocken können, und ob sie, wenn dies nicht gelingen sollte, bereit sein werden, der
historischen Wirklichkeit auszuweichen, bleibt abzuwarten. Man darf auf das Düsseldorfer Verfahren gespannt sein.

nach oben