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Thera­piechancen in psych­ia­tri­schen Kliniken?

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 13-15

Nur wenige gesundheitspolitische Themen haben derart intensiv mit Politik zu tun wie die Psychiatrie. Auch ist eine Diskussion um eine menschenwürdige Psychiatrie nicht ohne ständige politische Bezüge zu führen. Stellt doch die Auseinandersetzung um die Definitionsmacht von »psychisch abnorm« oder »psychisch normal« das wesentliche Kennzeichen jeder Psychiatrie-Politik dar. Wie eine Fülle von psycho-historischen, anthropologischen und ethnologischen Studien zeigen, Ist die Bandbreite des Normalitätsbegriffs stets von der konkreten historischen sozio-kulturellen Situation abhängig.

Dies erweist sich bereits innerhalb der somatischen Medizin, umso mehr allerdings in der Psychiatrie, in der daher der Krankheitsbegriff stets nur eingeschränkt zu verwenden und kontinuierlich zu hinterfragen ist, kann er doch zu Stigmatisierung und Aussonderung führen. Klaus Dörner (Diagnosen der Psychiatrie; Ffm 1975 ) stellt fest, »daß unter wissenschaftlichen Kriterien die ganze Einrichtung der psychiatrischen Diagnostik nach dem Modell der Körpermedizin fragwürdig geworden ist und ihrem eigenen Anspruch, Ordnung und Handlungsweisungen zu vermitteln, nicht gerecht wird.« Gänzlich fragwürdig wird die psychiatrische Diagnose dort, wo sie zum direkten politischen Disziplinierungsinstrument degeneriert.

Auch bedeutet die psychiatrische Intervention und Therapie — gleich der Körpermedizin — stets einen Eingriff in die Integrität (die allerdings als beschädigt diagnostiziert ist), um sie wiederherzustellen. Angesichts der Definitionsmacht über »krank« und »gesund« gilt es, jedes zur Anwendung kommende medizinische Verfahren sorgfältig auf seine Notwendigkeit, Zulässigkeit etc. zu überprüfen. Damit aber stellt jede psychiatrische  Intervention einen schwierigen Balanceakt zwischen dem Eingriff in die diagnostizierte »Schädigung« der Integrität und ihrer Wiederherstellung dar. Die materiell zu verwirklichenden Grund- und Menschenrechte müssen hierbei stets die Meßlatte bilden.

Zu einer inhaltlichen Kritik der Psychiatrie gehört jedoch gehört jedoch stets eine sorgfältige Analyse ihrer Praxis — ei ne Kritik jener Institutionen, die das psychiatrische Versorgungssystem umfassen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Psychiatrie begann hierzulande erst in den siebziger Jahren mit der Einsetzung der Enquête-Kommission des Bundestages. Damals forderte dle »Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie« die Auflösung der Großkliniken, die mehr oder minder ausnahmslos unmenschliche Psycho-Knäste waren. Trotz der enormen politischen Schubkraft dieser Forderung wurde es in der Folge still um die Psychiatrie-Politik. Mit-Ursache hierfür war, daß die Empfehlungen der Enquête-Kommission, die ohnehin nicht weitreichend genug waren, m ihren Vorstellungen, ein menschenwürdiges psychiatrisches Hilfssystem zu formulieren, nur halbherzig in Angriff genommen wurden. In zahlreichen Modellversuch  wurden sozial psychiatrische Ansätze bis Ende 1985 zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Hinzu kommt, daß es in den Großkliniken einen erheblichen Modernisierungsschub gab, der anti-psychiatrischen Ansätzen teilweise den Stachel raubte. Somit kann sich eine Psychiatrie-Kritik Ende der achtziger Jahre nicht in der
Wiederholung von anti-psychiatrischen Argumentationsmustern aus den Siebzigern erschöpfen: Wenn sich die institutionellen Formen etwas — und sicherlich unzureichend — verändert haben, kann dies nicht ohne Auswirkungen auf politische Forderungen bleiben.

Zweifelsohne existieren in der Psychiatrie Situationen, die ohne schwerwiegende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des Patienten nicht auskommen. Diese »Freiheitsberaubung« Klaus Dörner durch Fixierung und Isolierung bedarf aber sorgfältiger Indikation und Betreuung. Die Fixierung mit nur einer ständigen Bezugsperson ist zulässig. Damit dieses jedoch stets gewährleistet bleibt, bedarf es ausreichenden und geschulten Personals. Eine Fixierung oder Isolierung aus bloßem Personalmangel darf es nicht geben — und sei es auch, weil die entstehende Krise zu spät abgefangen werden kann. Teilt man die Einschätzung, daß jede darüber hinausgehende Fixierung und Isolierung eine Grundrechtsverletzung darstellt, bedeutet dies, daß aus Personalmangel heraus Grundrechtsverletzungen entstehen!

Die Verordnung von Psychopharmaka in bestimmten Krisensituationen bedeutet einen Fortschritt, wenn sie lege artis vorgenommen wird. Das heißt: Entsprechend einer kritischen Einschätzung der Dosierungsempfehlungen der Hersteller, so sparsam wie irgend möglich und nicht, um den Stationsbetrieb — womöglich aus Personalmangel — aufrecht zu erhalten. Psychopharmaka können potentiell gesundheitszerstörend wirken und bedeuten dann ebenfalls eine Grundrechtsverletzung.

Die Trennung von psychisch erkrankten Menschen in Behandlungs- und Pflegefälle ist fachlich fragwürdig. Gerade im P flegefallberelch ist die Situation besorgniserregend, kann doch eine über die Grundpflege hinausgehende Betreuung der Menschen derzeit mit dem vorhandenen Personalschlüssel nicht organisiert werden. Weder ist eine den Ansprüchen der humanen Psychiatrie entsprechende Therapie möglich noch gibt es gezielte Ausgliederung – und Integrationsprogramme, um diesen Menschen ein Leben außerhalb der Anstalt zu ermöglichen. In der Tat ist es so, daß die Eingruppierung eines Menschen als Pflegefall mit einer Verschlechterung seiner Heilungschancen (entgegen dem Stand der Wissenschaft) einhergeht, sie letztlich nur aus ökonomischen Gründen erfolgt: um Kosten einzusparen.

Allerorten ist von verschiedenen Schwellen die Rede: Betriebsschwelle, Therapieschwelle, Perspektivschwelle. Diese »Schwellerei« vernebelt die harte Tatsache, daß die Behandlung in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Standards — jenseits der Ansichten darüber, welche Richtung die richtige sei — erfolgt. Fast nirgends wird die ominöse »Therapieschwelle« erreicht die dem Standard eines reichen und zivilisierten Landes entsprechen wurde. Präziser ausgedruckt heißt dies, daß in vielen psychiatrischen Landeskrankenhäusern vor allem aus Personalmangel zu spät und zu wenig behandelt werden kann. Da sich gerade in der Psychiatrie die Prognose schon bei Therapiebeginn im wesentlichen entscheidet, heißt dies, daß Menschen de facto um ihre optimalen Therapiechancen gebracht werden. Sie bekommen geringere Hilfe als möglich wäre.

Einschränkend sei hinzugefügt, daß eine großzügigere Personalausstattung lediglich den strukturellen Rahmen absteckt, von dem aus eine Therapie Erfolg versprechen kann. Ob diese dann tatsächlich zu realisieren ist, hängt des weiteren von den konkreten Therapieangeboten ab. So problematisch die Vergleiche mit der somatischen Medizin sind: hier wäre dann doch einer angebracht. Gäbe es in ihrem Bereich ähnliche Situationen, waren Aufschreie der Entrüstung die Folge. Man stellte sich nur vor, Patienten mit einer akuten Bauchfellentzündung wurden aus Personalmangel nicht sofort, sondern erst nach einigen Tagen operiert werden! Oder die sorgfältige Therapie eines Herzinfarktes würde verschoben. Oder ein Patient bliebe länger in der Narkose, weil das Personal anderweitig beschäftigt ist!

Verantwortlich im direkten Sinne — jenseits einer grundsätzlichen Herrschaftsanalyse — für die Zustande in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern sind sowohl Krankenhausträger als auch Kostenträger. Letztere stellen ohne jede Frage zu wenig Mittel zur Verfügung. Dies zeigt sich bereits an der absoluten Höhe bzw. Tiefe der Pflegesätze. Gerade wenn man einen Vergleich zu den Pflegesätzen in der Körpermedizin heranzieht und die Krankenhauskosten setzen sich ja zu 70 % aus Personalkosten zusammen), wird deutlich, welche finanziellen Spielräume nach oben noch notwendig sind. Verantwortlich sind aber auch die Träger, d.h. die Länder/Sozialministerien, die durch zu laue Rahmenbedingungen Menschen um ihre Therapiechancen bringen und die Fürsorgepflicht gegenüber den Beschäftigten verletzen.

Zu fordern wäre stattdessen ein psychiatrisches Gesamtkonzept, das präventiv orientiert ist, sich strukturell weitgehend dezentralisiert, personell ausreichend ausgestattet und inhaltlich vielfältig organisiert ist. Dabei müßte der Schwerpunkt auf den strikten Vorrang ambulanter Hilfe verlagert werden. Dies ist bei dem derzeitigen höchst rudimentären Stand der ambulanten Hilfen noch nicht möglich — hier gälte es auch, das Behandlungsmonopol niedergelassener Ärzte zu durchbrechen. Es muß deswegen zuerst das Personal in den Landeskliniken um ein sinnvolles Maß erhöht werden, damit von diesem Niveau aus dann ein Umbau der psychiatrischen Hilfsangebote erfolgen kann. Erst mit einer dann solcherart umgestalteten Psychiatrie ist es möglich, die Grund- und Menschenrechte auch materiell zu verwirklichen.

Vorstehende Überlegungen resultieren aus der Arbeit des Untersuchungsausschusses des baden-württembergischen Landtages zur Situation in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern.

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