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Volks­zäh­lung 1987 — Der »Daten-GAU«

Eine erste Bilanz.

Aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 69-74

Das stürmische Interesse der veröffentlichten Meinung, das im Frühsommer 1987 in zahlreichen Publikationen zum Thema »Volkszählung 1987« über die Bürger hin-wegfegte und sich in zahlreichen gutbesuchten Diskussionsabenden einschlägiger Bürgerinitiativen äußerte, hat beschaulicher Ruhe — sprich: Nicht Berichterstattung — Platz gemacht. Von vereinzelten Artikeln abgesehen, schweigen Medien und Behörden, und manche Bürger-Initiativen haben sich still aufgelöst; allerdings schweigen auch noch über eine Million Bürger, die — vor allem in den Großstädten — ihre Fragebogen einfach nicht ausgefüllt zurückgeben mögen.

Verborgen vor der Öffentlichkeit, werden von Ämtern und »maßgebenden« Politikern, von interessierten »wissenschaftlichen« Vereinen und einzelnen Fachleuten bereits erste Bilanzen gezogen. Wenn auch die Datenerhebung an vielen Stellen noch nicht abgeschlossen ist (allein in Hamburg fehlten Ende 1987 rund 150 000 Personenbögen), wenn auch die ersten Rohdaten frühestens 1989 in den Computern zur Auswertung zur Verfügung stehen (heute fehlen sogar noch Teile der Programme, mit denen die Daten erfaßt, gespeichert und vorverarbeitet werden sollen, von den Auswertungsprogrammen gänzlich zu schweigen!), so können doch erste Schlußfolgerungen bereits gezogen werden.

VZ ’87 — politischer und gesell­schaft­li­cher Miß/Erfolg?

Die Frage nach einem »Erfolg« der Volkszählung wird von Politikern (von den Grünen abgesehen) mit einem einhelligen »Ja!« beantwortet. Geht man von der reinen Quantität aus, so muß man den Herren Dr. Zimmermann und »Genossen« den »Erfolg« bescheinigen, daß sie »Daten« von sicherlich mehr als 90% der Bürger gesammelt haben. Das »Verdienst«, diese Datensammlung »durchgesetzt« und damit der von ihnen beklagten »Datenschutz-Duselei« einen Schlag versetzt zu haben, muß ihnen auch der größte Kritiker zugestehen. Ist dies nicht ein Beispiel, wie man mit Entschlossenheit auch unpopuläre Maßnahmen durchsetzen kann?

So jedenfalls die Argumentationslinie des Statistischen Bundesamtes (StaBA), welches selbst zwar erst viel später die Daten erhält, die heute noch bei den Erhebungsstellen lagern, von wo sie — wie in einigen Bereichen bereits erfolgt — erst in die Statistischen Landesämter wandern, bevor sie — in angeblich »entpersonalisierter
Form« — dann beim StaBA landen: frühestens 1989. Vielleicht hilft es aber den Erhebungsstellen der Großstädte, die dort noch fehlenden 10-20% Fragebögen doch noch zu sammeln, wenn Herr Hölder auf die hohe Abgabequote in Bayern und Niedersachsen hinweist. Und übrigens: Wieso wollen Sie eigentlich Ihren Fragebogen nicht abgeben, haben Sie etwas zu verbergen?

Durch­füh­rung der Volks­zäh­lung: chaotisch und repressiv

Unterstellen wir zunächst einmal, die bisher gesammelten Daten seien »von (hinreichend) guter Qualität«. Allerdings kann dabei nicht übersehen werden, daß diese Daten oftmals mit schweren Verstößen gegen Forderungen des Gesetzgebers und des Verfassungsgerichtes gewonnen werden.

So hat die Abschottung der Zählstellen vielerorts nicht funktioniert. Diese Forderung des Bundes-Verfassungsgerichtes, deren Umsetzbarkeit schon bei den Anhörungen des Bundestags-Innenausschußes von Sachkennern bezweifelt worden war, ist in mehreren Bundesländern bewußt ignoriert worden. So wurden etwa in Bayern und Niedersachsen reihenweise Bürgermeister und Leiter von Ordnungsämtern zu Zählstellenleitern bestellt; wurde dabei bloß übersehen, daß Böcke, zu Gärtnern bestellt, eben Bockmist produzieren? So wurde in mehreren Fällen — gerichtsnotorisch — bekannt, daß wichtige Staatsdiener auch während der Zähltätigkeit an ihrem »normalen« Arbeitsplatz aushalfen, etwa bei Trauungen.

Viele Zähler waren schlecht geschult. Vor allem in den Großstädten wurden die Zähler auf ihre Aufgaben, insbesondere offene Fragen der Bürger zu beantworten (und damit die vom Verfassungsgericht geforderte Akzeptanz nach der fehlgeschlagenen » Millionen-Aufklärungskampagne« noch zu retten), nicht gewachsen. Die Schulung (die übrigens in geschickter Weise von den Bürgerinitiativen »beobachtet« wurde) konzentrierte sich vielmehr auf Ausgabe und Abholung der Fragebögen sowie die Ausfüllung der Zähleriisten. Bei vielen Zählern wurden übertriebene Erwartungen an Zählerentgeite geweckt, die allenfalls bei vollständig eingesammelten Bögen erfüllbar waren; kein Wunder, daß mancher Zähler mit vorausgefüllten Fragebögen die Erfolgsquote heraufmanipulierte.

Die bedauerlichen Angriffe auf einzelne Zähler, von Bürgerinitiativen zumeist um-gehend verurteilt, wurden von der »rechten« Presse hochgespielt. Dafür las man nur in »linken« Publikationen davon, wie auf dem flachen Lande »der Widerspenstigen Zähmung« geübt wurde. So ist es kein Einzelfall, daß einer Sozialhilfeempfängerin in Niedersachsen ein Zwangsgeld von 350 DM (an sich schon unverhältnismäßig) umgehend von der Sozialhilfe abgezogen wurde. In einem anderen Fall wurde der berufstätigen Mutter zweier kleiner Kinder unmittelbar nach dem Urlaub mit Erzwingungshaft gedroht, wenn sie nicht umgehend die Fragebögen abgäbe; die kleinen Kinder wollte man — fürsorglich — solange im Ordnungsamt unterbringen. Derartige »Jagdszenen« (nicht bloß in Niedersachsen) haben auf dem »flachen Lande« die Abgabequote nahe 100% getrieben.

Auch die Zählstellen und Statistischen Ämter erwiesen sich unfähig, ihrer vom Verfassungsgericht gesetzten Aufgabe der Informierung nachzukommen. So wie die Zähler dazu nicht ordentlich ausgebildet waren, so haben die Ämter selbst viele schriftliche Bürgerfragen überhaupt nicht, falsch oder ausweichend beantwortet. In Standard-Texten, die auf einzelne Fragen nicht eingingen, wurden die Fragesteller gemahnt, sie sollten doch dem »fast einstimmig verabschiedeten Volkszählungs–Gesetz« gehorchen.

Insgesamt war die Organisation der Volkszählung weitgehend chaotisch; die Kosten, offiziös mit 300 Millionen DM (etwa 5 DM pro Bürger) angegeben, dürften (wenn man die Kostenschätzungen einiger offenherziger Gemeindevertreter zugrundelegt) eher bei 25-30 DM pro Bürger, insgesamt also bei 1,5 Milliarden DM liegen.

Der größte Daten­schrot­t-Haufen

Über die Qualität der gewonnenen Daten sind sichere Aussagen natürlich erst nach Sammlung und Kontrolle aller Daten möglich. Auch bemühen sich die Statistischen Ämter, mit gezielter Fehlinformation (»die Fehlerquote ist gering«) oder mit Informationssperren ihre Probleme mit der unerwartet schlechten Datenqualität zu verbergen. Wie bei Wählen sind aber Trendaussagen durchaus möglich, soweit man erste Informationen aus den Ämtern kritisch sichtet.

Die Statistiker kämpfen generell mit drei Fehlerquellen, die sie nur teilweise beeinflussen und abschätzen können:

  1. der Fehler durch Total-Verweigerung,
  2. der Fehler durch Falsch-Ausfüllen und
  3. der Fehler durch Alterung der Daten.

Quer durch die Republik ist der Rücklauf der Fragebögen extrem unterschiedlich. In einem typischen Land/Stadt-Gefälle ist eine hohe Rücklauf-Quote (vermutlich über 99%) auf dem Lande sowie in Kleinstädten, dagegen auch noch sieben Monate nach dem Stichtag eine Rücklaufquote von höchstens 90% in den Großstädten festzustellen. Bei ihrer Werbung für die Volkszählung haben Statistiker besonders auf die Wichtigkeit der Daten für städtische Planungen hingewiesen; in Großstädten bemühen sich die Erhebungsstellen noch emsig (und bisher oft ohne Androhung von Zwangsmitteln), die Fehlquote zu verringern. Gerade in Großstädten wird man aber mit Fehlquoten über 5% rechnen müssen.

In ersten Informationen haben sich Statistiker entsetzt über die Qualität der Daten geäußert; danach sollen bei ersten Stichproben die Fehlerquoten weit über 10% gelegen haben. Offensichtlich haben viele Bürger selbst bei den Grunddaten (Alter, Geschlecht, Religion), für die Vergleichsdaten vorliegen, in großem Umfang falsche Angaben gemacht. In einigen Gebieten — selbst in Großstädten, in denen noch viele Fragebögen fehlen — wurden bereits (gesetzlich für 0,2% der Befragten erlaubte) Kontrollerhebungen begonnen. Selbst dadurch kann aber nicht festgestellt werden, in welchem Umfang die von vielen Bürgern kritisierten Fragen — etwa nach Ausbildung, Wohnverhältnissen und Arbeitsweg — korrekt oder falsch beantwortet wurden; denn dafür liegen Vergleichsdaten nicht vor, und die gesetzliche Kontrollbefragung schließt Nachfragen zu Religion, Lebensunterhalt, Beraufsausbildung und Berufsstellung aus (Volkszählungsgesetz §1, Abs.4).

Die Statistiker sind über die Fehlerquote offensichtlich so entsetzt, daß sie wahlweise zu Desinformation (»wir haben alles im Griff«) oder Informationssperren übergegangen sind. Nimmt man zur Datenverweigerung (hier einmal mit 5% angenommen) und zum Datenfehler (vermutlich deutlich größer als 10%) noch hinzu, daß die Daten nach der Erfassung (vor allem in Großstädten) schnell altern (in Teilbereichen mehr als 5% pro Jahr), so ergibt sich 1989, wenn die Daten in Grobform frühestens zur Verfügung stehen, bereits ein Anfangsfehler von über 25%; mit einer solchen Quote würde kein seriöser Wissenschaftler, Techniker oder Kaufmann arbeiten. So beweist sich die Volkszählung 1987 als der Größte Anzunehmende Unsinn, ein Daten-GAU, wie ihn sich — nicht bloß wegen der unvertretbaren Kosten — ein Wirtschaftsunternehmen niemals erlauben könnte.

Ein häufig befürchtetes Problem haben die Bürger/innen durch diese Schrottdaten vermieden: reale Personen können mit Falsch-Daten nicht »re-identifiziert« werden!

Statis­ti­sche Daten­ver­a­r­bei­tung: Unsicher und überholt

Die Datenspeicherung einer so riesigen Datenmenge ist nur mit großen Computern möglich. Bereits bei der Erfassung der Personen, Haushalte und Arbeitsstätten sind Computer eingesetzt worden. Statistische Ämter und Datenschutzbeauftragte haben zuvor öffentlich zugesichert, daß sie alle Maßnahmen ergreifen würden, um die dabei auftretenden Datenschutzprobleme zu beherrschen.

Tatsächlich ist öffentlich über derartige Probleme kaum berichtet worden. Während man dies als Zeichen für korrekte Problemlösung ansehen könnte, gibt es leider Indizien, daß Probleme nur unter den Teppich gekehrt oder von Verantwortlichen — leider auch Datenschützern — gar nicht bemerkt wurden. Neben dem Einsatz von Personal-Computern bei der Personenverwaltung, die für derartige Zwecke keineswegs ausreichend gesichert werden können, soll hier nur ein Fall berichtet werden, den der Autor bewußt erst jetzt (und auch heute nur »vergröbert«) bekannt macht. Im Juni wurde dem Autor die detaillierte Beschreibung zugespielt, wie man auf die Volkszählungsdatei einer westdeutschen Großstadt zugreifen könne, die auf einem städtischen Rechner zusammen mit anderen Verwaltungs- und Personendaten lagerte. Dieser Datei lag erkennbar ein Datenbanksystem zugrunde, das von einem namhaften deutschen Softwarehaus überdurchschnittlich gut mit sechsfachem Schlüsselschutz (wie dem Autor auf der Hannover-Messe demonstriert) ausgerüstet war. Bei dieser westdeutschen Großstadt wurde davon nur ein einziger, einfach zu »knacken-der« Schlüssel benutzt, die anderen Türen standen sperrangelweit auf! (Der Autor hat auf einen technisch möglichen »Zugangs-Versuch« aus grundsätzlichen Erwägungen verzichtet!)

Leider findet man derartig schlampiges Sicherheits-Denken in der »öffentlichen Datenverarbeitung« häufiger. Zwar haben sich einige Statistische Rechenzentren durch Prof. Dr. Seegmüller, Direktor eines Münchener wissenschaftlichen Rechenzentrums (in dem Datensicherheit keine Rolle spielt), wie schon 1983 vor dem Verfassungsgericht einen hohen Sicherheitsstandard bescheinigen lassen. Als der Autor (der sich seit längerem mit der Sicherheit großer wirtschaftlicher Rechenzentren befaßt) aber — dank ihm verfügbarer Informationen — auf Sicherheitslücken im Hamburger Polizei- und Statistik-Rechenzentrum hinwies (wo Herr Seegmüller bereits 1983 auf ein Sicherheitssystem verwiesen wurde, das gar nicht installiert war), sprachen die Verantwortlichen von »theoretischen Möglichkeiten«, die aber bei ihnen »ganz bestimmt nicht« eintreten würden. Leider verfügen die Datenschutzbeauftragten nicht über Spezialisten, die solche Probleme überhaupt erkennen können (die werden andernorts ebenso dringlich gebraucht, aber besser bezahlt!).

Bis heute liegen nicht einmal die Konzepte für die Vorverarbeitungsprogramme vor. Allerdings wird die »Qualität« statistischer Datenverarbeitung (die heute noch mit veralteten Dateikonzepten sowie COBOL-Programmen im Stapelbetrieb arbeitet, obwohl Datenbanken und interaktive Programme flexiblere und zugleich sichere Auswertungen ermöglichen!) der — zuvor bereits diskutierten —»Daten-Qualität« entsprechen.

Bereits während der Gesetzgebungsphase ist auf Alternativen, wie sie in Holland in-zwischen routinemäßig eingesetzt werden, mit offensichtlich guter Qualität, verwiesen worden. Darüber hat allerdings die deutsche Presse (inklusive sogenannter »liberaler Blätter«) nicht berichtet. Dazu eine amüsante Episode: Als der Autor bei einer Fernsehdiskussion auf andersartige Verfahren in Holland und USA verwies, kam der gesprächsführende Journalist (Herr Schneider, NDR) anschließend zu ihm und meinte, es gäbe solche Verfahren doch nicht, denn »die FR und SZ haben darüber nicht berichtet«!

Gegenwärtig sind die Statistiker natürlich zu beschäftigt, um sich mit neueren Verfahren zur Gewinnung »besserer« Daten zu beschäftigen. So hat die Autorin des bekannten Reidentififikations-Programms, Simone Fischer-Hübner, in ihrer Diplomarbeit, inzwischen (analog zu den holländischen Überlegungen) ein Verfahren entwickelt, aus den vorhandenen Personen-Registern statistische Daten für staatliche Planungen gezielt so zu gewinnen, daß eine Reidentifizierung nicht möglich ist. Als der Autor zwei wissenschaftlichen Gesellschaften, der »Arbeitsgemeinschaft Sozial-wissenschaftlicher Institute« sowie der »Gesellschaft für Programmforschung«, anläßlich deren Tagungen zu Volkszählungsthemen einen Vortrag dazu anbot, lehnten deren Repräsentanten ab.

Verwal­tungs­ge­richte und compu­ter-­ge­stützte Rechts­beu­gung

Ein besonders trübes Kapitel hat das Verhalten mancher Verwaltungsgerichte zu behandeln. Einige Gerichte (etwa in München und Lübeck) haben sich große Mühe gegeben und versucht, auf die Argumente der Kläger einzugehen (was auch ihnen angesichts der Komplexität der Materie und der Desinformation seitens Statistischer Ämter nicht immer gelang).

Dagegen haben andere Verwaltungsgerichte, wohl in dem Versuch, einer erwarteten Prozeßwelle sogleich die Spitze abzubrechen, Einhefts-»Urteile aus dem Text-Computer« produziert. So haben die Verwaltungsgerichte Lüneburg und Schleswig in mehreren Fällen bei unterschiedlichsten Begründungen von Beschwerden regelrechte »Formular-Urteile aus dem Text-Computer« verschickt; in manchen Fällen sind dabei den Beschwerdeführern Argumente unterstellt worden, die diese gar nicht vortrugen, während auf die höchst individuellen Argumente nicht eingegangen wurde. Übrigens haben viele Beschwerdeführer sich höchst eigenständige Gedanken über die Volkszählung und einzelne Fragen gemacht.

Indem sich manche Gerichte mit ihrer Vorgehensweise zu Erfüllungsgehilfen der Exekutive machten, haben sie viel vom Vertrauen betroffener Bürger in die richterliche Unabhängigkeit eingebüßt. Angesichts jüngster Vertrauensverluste der Exekutive (die Volkszählung ist da ein Mosaikstein, wie Kieler Geschichten u.a.m.) muß ein Gesichtsverlust auch von Teilen der Gerichtsbarkeit (und nicht bloß des ohnehin »politischen« Bundes-Verfassungsgerichtes, dessen Dreier-Ausschuß bereits Verfassungsbeschwerden abwies, worauf hier nicht weiter eingegangen werden soll) befürchtet werden.

Angesichts des gesammelten Datenschrottes, des jämmerlich veralteten Standes der deutschen Amtlichen Statistik, der (auch hier) mangelhaften Glaubwürdigkeit von Politikern (fast) aller Parteien hat die »deutsche Volkszählung 1987« alle Chancen, als Beispiel größten (leider auch noch computer-unterstützten) Unsinnes in das Buch der Negativ-Rekorde einzugehen.

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