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Litera­ri­scher Maulwurf XXXIX

Beiträge zur Kultur- und Kunstgeschichte

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 115-118

Vor hundert Jahren, 1887, starb Johann Jakob Bachofen. Der Basier Altertumswissenschaftler und Jurist — er lehrte römisches Recht an der heimatlichen Universität, daneben war er Richter am Kriminalgericht und Stadtrat in Basel — ist vor allem bekannt geworden durch sein erstmals 1861 erschienenes Werk »Das Mutterrecht«, das zwar vor zwei Jahrzehnten unter die gut vierhundert »Bücher, die die Welt verändern« (»Printing and the Mind of Man«) aufgenommen, von seinen Mitbürgern und Standesgenossen damals jedoch wenig ernstgenommen wurde. Es gehört zu den viel (und oft falsch) zitierten, doch tatsächlich wenig gelesenen wissenschaftlichen Standardwerken. Der Anlaß lohnt, sich darüber zu informieren, was Bachofen wirklich schrieb und was von seinen Thesen blieb.

Uwe Wesel, Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften, suhrkamp taschenbuch wissenschaft stw 333, Frankfurt 1980, 168 Seiten, DM 10.–

beschreibt das in vorzüglicher Weise. Uwe Wesel beherrscht die Kunst, auch komplizierte Sachverhalte allgemein verständlich darzustellen, die vielschichtige Problematik auf das Wesentliche zu reduzieren und selbst dem fachlich nicht oder wenig vorgebildeten Leser nahezubringen, ohne daß ein Verlust an Substanz entsteht. So faßt er zunächst Bachofens Theorie von einer ursprünglichen Gynaikokratie (Frauenherrschaft), verbunden mit Hetärismus (freier Geschlechtsgemeinschaft mehrerer Frauen mit mehreren Männern) und gemeinsamem Besitz zusammen, referiert die Quellenlage Bachofens, stellt sie den unabhängig von ihm gefundenen ähnlichen Ergebnissen der Forschungen von Lewis H. Morgan (»Ancient Society«) über die Irokesen gegenüber, auf die Friedrich Engels in »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« (1884) aufbaut. Wesel überprüft die historischen Quellen und vergleicht die Ergebnisse mit denen der modernen ethnologischen Forschungen. Er stellt fest: Die präfamiliare Horde mit allgemeiner Promiskuität gab es nie, ebensowenig eine absolute Frauenherrschaft.

Von Bachofens Beobachtungen hatte dennoch vieles Bestand: Man weiß heute, daß insbesondere in Jäger-Gesellschaften die Situation der Frauen vergleichsweise gut war; erst nach dem Übergang zum Ackerbau verschlechterte sie sich vielfach, nicht jedoch ausschließlich. Es gab und gibt auch matrilineare und matrifokale segmentäre Gesellschaften (in denen also nur einlinige Verwandtschaft in der Mutterfolge anerkannt wird, die Männer ins Dorf der Frauen ziehen und die ohne institutionalierte Herrschaftsinstrumentarien auskommen), in denen die Rolle der Frauen echt egalitär, wenn nicht dominant ist. In patrilinearen, meist patrilokalen Gesellschaften dagegen verstärkt sich zunehmend die Unterdrückung der Frau, zumal das Brautpreissystem, ursprünglich ein Ausgleich für den Verlust von künftigen Nahrungsproduzenten an den Stamm sich vielfach in ein Sachwertdenken für den Erwerb einer Frau wandelt. Es ist im Rahmen einer Rezension natürlich unmöglich,  die Argumentation und Diskussion der gefundenen Sachverhalte in ihre Verästelungen zu verfolgen. Jeder, der sich für diese Problematik interessiert, sollte Wesels Abhandlung selbst lesen, die eine hervorragende Einführung m die ethnologische Forschung über die Entstehung früher Gesellschaften allgemein und über die Rolle der Frau im besonderen darstellt. Besonders hervorzuheben ist, daß sie — in dieser Taschenbuchreihe eine Ausnahme — durch ein brauchbares Register und ein kleines ABC für ethnologische Fachausdrücke ergänzt wird.

Geschichte, auch Kulturgeschichte, stößt, verfolgt man die Buchproduktion der letzten Jahre, auf breites Interesse. Der unerklärbare Erfolg Umberto Ecos Roman »Im Namen der Rose«, der nach den Verkaufszahlen mittlerweile in kaum einem deutschen Haushalt mehr fehlen sollte, bildet hierfür wohl einen eher untypischen Indikator. Dieser Titel befindet sich mittlerweile in der Sechst- oder Siebtverwertung: nach dem Hardcover folgte das Taschenbuch (bei dtv), der Film (Neue Constantin), das Filmbuch (bei Beltz/Psychologie heute), die Funkfassung, und längst ist die Sekundärliteratur über uns hereingebrochen. In

Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium. Hg.v. Alfred Haverkamp und Alfred Heft, Originalausgabe von dtv, Bd. 4449, München August 19879 230 Seiten DM 12,80

machen sich Philologen Historiker, Philosophen und Theologen über den Romantext her und sezieren ihn kunstgerecht um nachzuweisen, daß sie dem Autor auf seine Schliche kamen. Die Beiträge schwanken zwischen oberlehrerhafter Besserwisserei und
hilfreicher Exegese; besonders beeindruckend: Jörn Grubers Beitrag »Spiel-Arten der Intertextualität im ‚Namen der Rose‘. Aus der Werkstatt eines literarischen Falschmünzers, oder Über die Kunst aus fremden Texten neue Bücher zu machen.« Der umständliche Titel, der eine genaue Inhaltsbeschreibung des Beitrags darstellt, sollte nicht abschrecken: der Aufsatz ist fast so faszinierend wie sein Objekt, Ecos Roman.

Des Autors weiterer Vermarktung dient ein weiterer Titel des gleichen Verlages:

Umberto Eco Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, dtv Nr.10825, München Dezember 1987, 305 Seiten DM 12,80.

Hat man sich überwunden, trotz des albernen Umschlagbildes von Rotraut Susanne Berner, dessen vordergründige Adaption eines Minnesängerbildes mit den Zügen Ecos nach der Manesseschen Liederhandschrift nicht das geringste mit dem Buch zu tun hat, dieses aufzuschlagen, kann man höchst amüsante Betrachtungen Ecos zu den unterschiedlichsten Themen lesen: über das Hereinbrechen eines neuen Mittelalters, was notwendigerweise zu Parallelen zwischen damals und heute (und ihre Unterschiede) führt, über Musealisierungen unbedeutender Persönlichkeiten (wie US-Präsident LYndon B. Johnson) und bedeutenderer Geschichtsdokumente und deren Verfälschung in den USA usw. Der Autor kommt dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Stets plaudert Eco geist-und kenntnisreich über Tagesthemen, in einer Weise, die durchaus die Tagesaktualität überdauert, nicht annähernd so flach wie Luciano de Crescenzos Westentaschenphilosoph »Prof. Bellavista«, respektlos und frech wie Uderzo und Goszinnys Asterix & Obelix-Gesellschaft (Eco hat sich bekanntlich intensiv auch mit der Wirkung von Comic-Strips befaßt). Doch merkt man den Beiträgen ihr Alter an. Sie entstanden ursprünglich als Zeitschriftenaufsätze zwischen 1967 und 1983, viele tragen entsprechende Patina.

Im Frühjahr 1984 hatte der Fischer Taschenbuch Verlag mit seiner Reihe »kunststück« ein ehrgeiziges Projekt gestartet: je Bändchen ein Kunstwerk im Kontext seiner geistigen und gesellschaftlichen Bezüge zu zeigen, es nicht nur ikonographisch auszuleuchten, sondern auch die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge aufzuzeigen.[1] Dieses Konzept konsequent durchzuhalten, ist nicht leicht, wie die Neuerscheinungen zeigen. Manche regredieren zur herkömmlichen Monografie, andere entsprechen dem vorgegebenen Standard. Bis Redaktlonsschluß lagen aus der Produktion von 1987 vor:

Alexander Perrig/Lorenzo Ghiberti: Die Paradiesestür. Warum ein Künstler den Rahmen sprengt, Nr. 3925 (Februar)

Jörg Traeger/Philipp Otto Runge: Die Husenbeckschen Kinder. Von der Reflexion des Naiven im Kunstwerk der Romantik Nr. 3942  (Juni)

Thomas Zaunschirm/Gustav Klimt: Margarethe Stonborough-Wattgenstein. Ein österreichisches Schicksal Nr. 3931 (Juli)

Joachim Heusinger von Waldegg/Otto Freundlich: Ascension. Anweisung zur Utopie, Nr. 3943 (August)

Andreas Beyer/Andrea Palladio: Teatro Olimpico. Triumpharchitektur für eine humanistische Gesellschaft, Nr. 3937 (November)

jeweils zwischen 75 und 95 Seiten, mit Textabbildungen und mit ausklappbarer farbiger Falttafel, Frankfurt 1987, je DM 12,80, der Runge-Titel DM 14, 80.

Meisterhaft ist Traegers Skizze über Runges Bild der drei Kinder der Familie Hülsenbeck, eines frühen Beispiels von Privatheit, Bürgerlichkeit und kindgerechter Natürlichkeit im (Gruppen- )Porträt. Die Unterschiede zum üblichen Repräsentationsbild werden ebenso verdeutlicht wie die (eher unauffällige) Pflanzensymbolik des Bildes und der Einfluß von Runges Farbenlehre. Aufschlußreiche Detailabbildungen illustrieren den informativen Text. Die persönliche Biografie der Dargestellten tritt in Zaunschirms Text über Klimts Bildnis von Margarethe Stonborough-Wattgensteln — einer Schwester des Philosophen — stark in den Vordergrund. Die Erörterung der Gründe für die Ablehnung des Porträts durch die Familie eröffnen eher ein persönliches Psychogramm als eine gesellschaftlich relevante Reaktion.

Zweifellos schwierig ist das Thema der Monografie über Otto Freundlichs ungegenständliche Skulptur »Ascension«; Erläuterungen von Freundlichs Kunstbegriff mischen sich mit der seiner sozialen Theorie und sozialistischen Ideen. Die Darstellung greift weit über den Kommentar zur konkreten Skulptur aus und bezieht wertgehend das plastische und malerische Gesamtwerk des Künstlers ein. Damit fällt sie zwar etwas aus dem Rahmen der Konzeption der Reihe, was in diesem Fall jedoch besonders verzeihlich ist, weil Name und Werk Otto Freundlichs, der 1943 in einem KZ ermordet wurde, heute noch einer breiteren selbst kunstinteressierten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind.

Das Bändchen über Ghibertis bronzene Paradiesestür am Baptisterium zu Florenz ist lesenswert, geht aber über eine herkömmliche Kunstmonografie nicht hinaus. Aufregende Erkenntnisse, die der Untertitel versspricht, sind ihr nicht zu entnehmen. Ungewöhnlicher ist die Darstellung über Palladios Teatro Ohmpico in Vicenza: sie zeichnet ein lebendiges Bild des Lebens und der Selbstdarstellung einer humanistischen Akademie in einer Stadt, die damals längst »Provinz« war, seit über 150 Jahren der Republik Venedig einverleibt. Sie ist Beitrag zur Architektur- wie auch zur Theatergeschichte. Die Ausstattung wartet mit sonst kaum wahrnehmbaren Detaildarstellungen wie auch mit interessanten Vergleichsabbildungen auf. Daß sie den Eindruck einer persönlichen Begegnung mit dem Raum nicht ersetzen können, ist der Nachteil jeder zweidimensionalen Wiedergabe. Mit Andreas Beyers Monografie in der Hand wird ein Besuch in Vicenza jedoch sicher lohnender sein.

Verweise

1  siehe vorgänge 71 (1984), S. 114 ff

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