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Sozial­de­mo­kra­ti­sche Krisen­po­litik

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 121-123

Gegen Ende seiner Untersuchung über »Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa« (Frankfurt 1987, Campus, Reihe Theorie u. Gesellschaft Bd. 7 358 S. , 38 DM) stellt Fritz W. Scharpf fest: Die »unvermeidliche Anpassung der Nationalwirtschaften an die Zwänge des internationalen Kapitalmarktes hat also ihre sozialdemokratische Theorie noch nicht gefunden.« (307)

Damit ist, implizit das doppelte Ziel seiner Arbeit bezeichnet: zum einen die kritische Analyse keynesianisch angeleiteter Wirtschaftspolitik; zweitens: über die Kritik hinaus die Richtung sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik unter veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen zu skizzieren. Scharpf untersucht die Wirtschaftspolitiken von vier europäischen Staaten vom Beginn der zweiten Weltwirtschaftskrise (1973/74) bis zum sogenannten Ölpreisschock (1979). Das Kriterium für die Auswahl der Länder Österreich, Schweden, Großbritannien und BRD war die Regierungstätigkeit sozialdemokratischer Parteien während der Krisenperiode. Aufgrund Scharpfs professionellen Interesses an Fragen der Beschäftigungsentwicklung und wegen des primären Rangs der Vollbeschäftigung für sozialdemokratische Politik ist sein Thema die Ermittlung der »Bedingungen, unter denen westeuropäische Länder mit sozialdemokratisch geführten Regierungen die Ziele ihrer Wirtschaftspolitik und insbesondere das Vollbeschäftigungsziel erreichten oder verfehlten.« (11)

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zunächst entfaltet Scharpf sein begriffliches Instrumentarium und stellt abstrakt die Wirkungsmöglichkeiten von Finanz-, Währungs- und Lohnpolitik dar. Es folgt die deskriptive Darstellung der Wirtschaftsentwicklung und -politik in den vier Ländern. Im dritten Teil führt Scharpf die vergleichende Analyse staatlicher Wirtschaftspolitik durch. Hier geht der Autor von der Analyse zu Prognosen über zukünftige Bedingungen wirtschaftspolitischen Handelns über und gibt Empfehlungen aus sozialdemokratischer Perspektive.

Es wäre eine sterile Übung, Scharpf, der sich des »rational-choice«-Ansatzes bedient, der marxistische und neoklassische Wirtschaftstheorien verwirft und behauptet: »Man muß die theoretischen Erklärungen nehmen, wo man sie findet« (14), mit den Kategorien der Kritik der Politischen Ökonomie zu kritisieren. Deshalb hier nur zwei Anmerkungen:

  1. Die »unaufhebbare Krisentendenz des Kapitalismus« hervorzuheben, ist keineswegs dem Voluntarismus von Marxisten und Linkskeynesianern geschuldet. Die Erklärung der modernen Wirtschaftskrisen aus den Widersprüchen der Verwertung des Werts ist allein in der Lage, die empirische Zyklizität der Krise zu begründen.
  2. Scharpf stellt zu Beginn des analytischen Teils klar, daß ausgerechnet die »Institutionen auf Seiten des Kapitals« (210) von der Analyse der wirtschaftspolitischen Bedingungen ausgeschlossen werden. Er begründet dies
  • mit dem sozusagen apolitischen Charakter »mikroökonomischer Entscheidungen«
  • mit dem erreichten Grad der Internationalisierung der Kapitalbewegung, die nationalstaatliche Wirtschaftspolitik transzendiert.

Die Abstraktion von der Politik des Kapitals ist bereits innerhalb Scharpfs eigener Argumentation nicht schlüssig, da er international wirksame Währungsbewegungen und -politik durchaus als Bedingungen staatlicher Wirtschaftspolitik analysiert: analysieren muß.

Scharpf beginnt die vergleichende Darstellung der Wirtschaftspolitik der vier Staaten mit der Feststellung, daß »trotz gleicher Prioritäten und ähnlicher Ausgangsbedingungen« (79) die Weltwirtschaftskrise seit 1974 zu differenten Ergebnissen der wirtschaftlichen Entwicklung führte. Trotz der sozialdemokratischen Vollbeschäftigungspriorität und bei ähnlichen weltwirtschaftlichen Bedingungen Entwicklungsimpulse durch den Nachkriegsboom, Betroffenheit durch die Dollar-Inflation, leichter Zugang zu Petrodollars recyklierenden internationalen Krediten) erreichte Österreich die relativ besten Werte bei der Entwicklung von Bruttoprodukt, Arbeitslosigkeit und Inflation, wahrte Schweden einen hohen Beschäftigungsstand zusammen mit hoher Inflation, hatte die BRD den größten Beschäftigungsrückgang bei relativ stabilen Preisen.

Durch die Analyse der nationalstaatlichen Bedingungen der »keynesianischen Koordination«, also die Abstimmung von expansiver Geld- und Finanzpolitik mit zurückhaltenden Lohnabschlüssen will Scharpf die Gründe der differenten wirtschaftlichen Entwicklungsverlaufe ermitteln.

Ins Zentrum der Untersuchung rückt die Frage der Beeinflußbarkeit der Lohnentwicklung. Hier machten sich Unterschiede des gewerkschaftlichen Organisationsstandes, der Integration und der Handlungstraditionen (Kooperationsbereitschaft in Österreich, unberechenbares Auftreten in Großbritannien) und der Beziehungen zwischen sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaftsbewegung geltend.

Weitere Einflußfaktoren sind die Notenbank, die nirgendwo so autonom wie in der BRD handeln konnte, und die organisatorische Struktur des Staatsfinanzsystems. Scharpf zeigt, daß die vergleichsweise beste Bewältigung der Krise, ablesbar an der Ent wicklung konventioneller Indikatoren: Produktion, Beschäftigung, Preise, in Österreich ihren Grund in der dort erreichten 0ptimalkonstellation der »keynesianischen Koordination« hatte: nicht-restringierte Staatsschulden-Aufnahme und sozialpartnerschaftliche Kooperation und moderate Lohnforderungen der Gewerkschaften.

In den anderen Ländern (unkoordinierbare Gewerkschaften in Großbritannien, Zerfall der solidarischen Lohnangleichungs-Strategie in Schweden; monetaristischer Stabilitätskurs der deutschen Bundesbank) wurde dieser Zustand nicht erreicht.

Mit der Veränderung der weltwirtschaftlichen Bedingungen nach 1979 (zweite Ölpreiserhöhung als »Krisenauslöser«; Zunahme der international Anlage suchenden Finanzkapitalmassen; die Zinspolitik der US-Regierung; Nachfrage-Ausfälle bei den verschuldeten Ländern; Schwierigkeiten, Kredite für Staatsausgabenprogram me zu beschaffen) schwanden die Möglichkeiten keynesianischer Nachfragesteuerung. Verringerte politische Handlungsfähigkeit und konzeptionelle Schwäche der Sozialdemokraten führten zu bürgerlich-konservativen Regierungsübernahmen (GB 1979, BRD 1982). Mit der Feststellung des »Zwangs zur angebotsorientierten Umverteilung« (306) geht Scharpf von der Analyse keynesianischer Wirtschaftspolitik-Praxis zur Frage über, wie die Sozialdemokratie die »Chance der wirtschaftspolitischen Gestaltung« (335) wiedergewinnen könne. Nichts führe an der Hinnahme der »Niederlage im Verteilungskampf« und an der Erkenntnis der notwendigen »Umverteilung« von den Lohn- zu den Kapitaleinkommen vorbei (306) . An die Stelle der blockierten keynesianischen Koordination müsse eine »sozialdemokratischen Kriterien genügende Version der Angebotsökonomie« (332) treten. Als deren Elemente nennt Scharpf:

  • Produktivitätsentwicklung, die die natio nale Weltmarktstellung verteidigt;
  • Steigerung der Unternehmenserträge;
  • unter der Prämisse, daß die Massenarbeitslosigkeit ein »Verteilungsproblem« darstelle: Übernahme der Hauptlast zur Überwindung der Arbeitslosigkeit durch die Arbeitnehmer, das adäquate Mrttel, fur das Scharpf schon langer wirbt: »kostenneutrale Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung« Scharpf 1986: 22).

Den unverwechselbar sozialdemokratischen Touch bekommt dieses Rahmenprogramm kapitalistischer Krisenbereinigung durch Festhalten »an den Zielen des demokratischen Sozialismus« (336)
»Reformismus funktioniert vorzüglich in Zeiten der Hochkonjunktur, aber nur schlecht in der Krise.« Altvater 1977

Nachweise:

E. Altvater (1977): Staat und gesellschaftliche Reproduktion, in: V. Brandes (Hg.), Handbuch 5: Staat; Frankfurt
F. W. Scharpf (1986): Strukturen der post-industriellen Gesellschaft; in: Soziale Welt 37 Nr. 1

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