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Volks­zäh­lung 87, die letzte

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/1988), S. 102-114

Mehr als ein halbes Jahr ist seit dem Stichtag der Volkszählung, dem 25. Mai 1987, vergangen. Mit erstaunlicher Beständigkeit ist das Thema von der vorderen Seite pressemäßiger Aufmerksamkeit immer weiter nach hinten gerutscht. Ganz im Gegensatz zur juristischen Fachpresse: Dort hatte die Volkszählung Hochkonjunktur erlangt. Man besehe etwa die führende juristische Postille, die »Neue Juristische Wochenschrift«, die mit 27 Seiten Urteilstexten, Aufsätzen etc. in ihrer letzten Oktobernummer aufgewartet hat: Die Justiz hat sich endlich flächendeckend der Volkszählung 1987 angenommen.

Eine Mehrzahl von Gezählten kann das juristische Schauspiel vom Logenplatz aus betrachten: Sie haben die Manege längst verlassen und ihren Bogen den Erhebungsstellen dargebracht. Die Probe im eigenen Bekanntenkreis erbringt das überraschende Ergebnis, daß sich so mancher und manche, die vor einigen Monaten noch das »niemals« entschlossen im Munde führten, sich durch formale Erfüllung ihrer Auskunftspflicht weiterer Nerverei entzogen haben. Natürlich habe man nicht richtig aufgefüllt, aber man merkt auch, daß den solchermaßen Gezählten so ganz wohl nicht ist. Ist also die breiteste Bewegung gegen staatlichen Gehorsam, die diese Republik jemals zu verzeichnen hatte, zwischen den Mahlsteinen bürokratischer Beharrlichkeit zerrieben worden und hat sich in eine Niederlage verwandet? Haben wir in der Mehrzahl klein beigegeben, während nur noch ein immerhin ansehnliches kleines Häuflein der Aufrechten die Fahne des Widerstandes hochhält und alle übrigen durch seine Existenz der opportunistischen Schwachheit bezichtigt? Haben etwa die, die dem massenhaften Widerstand gegen die Volkszählung das Wort redeten, dies in fahrlässiger Verkennung der Dinge getan, die die Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen heute doch zur Abgabe der Volkszählungsbögen bewogen haben? Und hat die Volkszählung 1987 tatsächlich »erfolgreich«, wie uns die obersten Statistiker gebetsmühlenhaft mitteilen, durchgeführt werden können? War also der Wider-stand umsonst, da regierungsamtlich von »Erfolg« gesprochen wird und unzweifelhaft die Volkszählung 1987 nicht wie ihre glücklose Vorgängerin ein vorzeitiges Ende fand.

Erwartungen

Das Erstaunliche an der Volkszählung 1987 ist nicht nur der breite Widerstand, der sich auch gegen diesen zweiten Anlauf richtete, sondern war bereits zuvor die Tatsache, daß die Parlamentarier ein weiteres Mal ihren exekutiven Einflüsterern folgten und in schönster Einträchtigkeit einen weiteren Versuch beschlossen, das Volk zu zählen.

Man tat dies ohne politische Sensibilität, legitimiert durch eine vorher durchgeführte Anhörung von Experten, deren überwiegende Zahl die Gewähr dafür bot, die Notwendigkeit einer zwangsweise durchzuführenden Volkszählung ernsthaft nicht in Frage zu stellen. Der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Nachweis für die Notwendigkeit einer Totalerhebung war so mit dürftigen Argumenten ohne die ernsthafte Chance der Auseinandersetzung absolviert worden.

Das Erwachen auf Seiten von Parlament und Exekutive erfolgte, als auch dieser zweite Anlauf auf breiten Widerstand stieß. Man hatte das Spezifische des Unwillens gerade gegen eine jede/n erfassende Volkszählung bislang nicht begriffen. Verfassungsrechtlich hatte der geplante Melderegisterabgleich der Volkszählungsdaten den Grund für die Anordnung der Aussetzung der Volkszählung durch das Bundesverfassungsgericht gegeben. In der Vorstellungswelt des juristischen Laien lieferte dagegen ein breites Unbehagen an der Informatisierung gesellschaftlicher Beziehungen und hierbei insbesondere die der staatlichen Exekutive unter dem Schlagwort des »Überwachungsstaates« den eigentlichen Grund. Widerstand bei der Volkszählung zu entwickeln war verhältnismäßig einfach und ohne besondere Kosten möglich: die Verweigerung von Daten hat im allgemeinen zur Folge, daß im Gegenzug Leistungen verweigert werden. Nicht so — richtiger nicht so unmittelbar, wenn ein erspartes Zwangs oder Bußgeld gerechnet wird —  die Verweigerung von Volkszählungsdaten. Es ist müßig, heute darüber zu spekulieren, wie die Volkszählung 1983 ausgegangen wäre, hätte nicht das Bundesverfassungsgericht sein Veto eingelegt. Es spricht jedoch vieles für Richtigkeit der Einschätzung jener Redakteurin Vera G. der »tageszeitung«, die dafür von der gesamten bürgerlichen Presse aufs heftigste gescholten wurde. Sie hatte seiner Zeit ihr Bedauern darüber ausgedrückt, daß das Bundesverfassungsgericht die Exekutive davor bewahrt habe, tatsächlich mit ihrem Vorhaben Volkszählung am geballten Unwillen der Bevölkerung zu scheitern und ihr somit eine Blamage höchsten Ranges erspart habe.

Man darf sich über die Vielfältigkeit der Motivationen nicht täuschen, die dem Widerstand gegen die Volkszählung 1983 zugrundelagen. Zutreffend ist wohl, daß sich 1983 ein Großteil des Unbehagens nicht aus einer politisch verstandenen Verweigerungshaltung, sondern aus jener Art von Datenschutzbewußtsein speiste, die den biederen Ehemann daran hindert, seiner Frau Auskunft über die Höhe seine Gehalts zu geben. Man rufe sich nochmals die außerordentlich geharnischten Stellungnahmen ins Gedächtnis, die Rundfunk- bzw. Fernsehreporter durch Befragung des Publikums auf den Straßen zur Volkszählung 1983 erhielten. Ich bin sicher, daß die Mehrzahl der Leute, hätte sie wirklich die Fragebögen gekannt, keine Probleme mit deren Beantwortung gehabt hätte. Gefragt wurde dort nicht, wie immer wieder befürchtet wurde, nach Höhe des Gehalts, Nebenverdienst oder der Freundin.

Ein integra­tiver Akt

Der Aussetzungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom April 1983 veränderte die politische Verfassung der Republik wie kaum ein anderer Beschluß dieses gerichts zuvor. Ganz sicher gibt es in der Geschichte dieses Gerichts »wichtigere« Entscheidungen als die Aussetzung einer Volkszählung, aber wohl kaum eine Entscheidung, an der so große Teile der Bevölkerung unmittelbaren Anteil genommen und gefordertes Recht bekommen hatten. Am Tag zuvor noch hatten die Zimmermanns und Lummers den Widerstand gegen die Volkszählung als Ausdruck schlimmster verfassungsfeindlicher Gesinnung gebrandmarkt. Tags drauf waren sie es, die des Verstoßes gegen die Verfassung und der Grundrechte der Bürger und Bürgerinnen durch das höchste Gericht bezichtigt worden waren. Aus den Verfassungsfeinden waren plötzlich Verfassungstreue geworden — verfassungsgetreu gegen eine Exekutive und deren parlamentarische Vertreter, die sonst alle Rechte auf ihrer Seite haben. Möglich war solchermaßen Ungewohntes nicht geshalb geworden, weil das Bundesverfassungsgericht so ganz ohne äußeren Anstoß neue datenrechtliche Gruradrechtssensibilitäten entdeckt hätten. Ohne den massenhaften Protest hätte das höchste Gericht den datenschutzrechtlichen Bedenken nicht so manifest Geltung verschafft (was vom damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgericht eingeräumt worden war).

Also der Druck der Straße: Die Republik erlebte eine Art nachgeholter und geglückter Ersatz-Revolution. Das Volk, die Gezählten, konnten sich für kurze Zeit als Souverän fühlen, in trauter Einigkeit mit der höchsten Instanz des Rechts. Dies war insbesondere für die Linke aller Schattierungen eine völlig neue Erfahrung. Bis heute hat sich diese aber nicht genügend klar gemacht, welcher Herkunft der Widerstand gegen die Volkszählung ist. Das Bundesverfassungsgericht hat hier seinen Fingerzeig gegeben: Der Widerstand gegen die Volkszählung ist »bürgerlicher« Widerstand; die Linke hat, soweit sie Widerstand geleistet hat, bürgerliche Rechtspositionen wahrgenommen. Linke Positionen durfte man bei diesem Gericht auch nicht erwarten. Das Verfassungsgericht hat den Kreis der bürgerlichen, bürgerrechtlichen Unversehrheit gegen den Staat abgeschreckt und verteidigt. Die Volkszählungskritiker gleich welcher politischen Couleuer wurden zu »Frondeuren des Rechtsstaates«, wie bereits 1950 die Zeit-Journalistin Dönhoff den notwendigen Widerstand gegen den »modernen Staat als Machtstaat«, und sei es auch nur gegenüber der Volkszählung qualifizierte.

Das Bundesverfassungsgericht hat die bisher immer ausgegrenzte Linke in einem Maße integrativ in diesen Staat einbezogen, das so noch nie erfahren worden ist. Das ist vorab festzustellen, unabhängig davon, ob man diese Integrationsleistung des Bundesverfassungsgerichts ablehnt oder befürwortet. Das höchste Gericht hat sich an die Spitze des Protests gestellt, ihm freilich damit auch seine Spitze gebrochen.

Volks­zäh­lung 1987: der zweite Versuch

Die Wirkung dieses integrativen Aktes hielt nicht lange vor. Mit den Entwürfen zu den sogenannten Sicherheitsgesetzen, allen voran dem zackigsten derselben, dem ZAG zeigt sich der Januskopf des Volkszählungsurteils: Die eine Seite gab dem zahl-reichen Protest gegen die Volkszählung recht; die andere Seite setzte die nun vom höchsten Gericht geforderte rechtliche Absicherung des exekutiven Informationsverhaltens in Gang. Die Entwürfe zu den sogenannten Sicherheitsgesetzen sind der unmittelbare Reflex darauf. Diesmal wurde öffentlicher Widerstand gegen den zweiten Versuch viel früher artikuliert als noch 1982/1983. Und vor allem viel bewußter. Man erinnere sich an 1983: Vor Weihnachten war gerade mal Insidern bekannt, daß überhaupt eine Volkszählung ins Haus stünde. Ende Januar brach dann der Damm und nach knapp drei Monaten war dem Spuk der Volkszählung durch die BVG-Entscheidung vom 13.4. 1983 ein Ende bereitet worden.

Anders die Volkszählung 1987: Bereits vor der Jahreswende begannen sich allerorten Initiativen zu gründen, die Unschuld der früheren Bewegung bestand freilich nicht mehr. Bloße Empörung war selten geworden, eher Erstaunen, daß man nochmals zur Datenkasse gebeten werden sollte. Der Widerstand formierte sich sehenden Auges, denn daß es diesmal nicht so glatt abgehen würde, war von Anfang an abzusehen. Seinen offenkundigen Ausdruck fand dies Bewußtsein in den vielfältigen Rechtsratschlägen, die von einem ganzen Heer von Juristen und zu solchen mittlerweile gewordenen Laien auf unzähligen Flugblättern und Broschüren gegeben wurden. Massenhaft führten Diagramme das gemeine Volk in die bisherige Geheimwissenschaft des Verwaltungsrechts ein und diente in einer ersten Phase einem Großteil von Anwälten dazu, sich längst Vergessenes wieder herzuholen. Nebenbei: Bis heute ist noch nicht absehbar, wie sich dieser Volkskurs in Verwaltungsrecht und Verwaltungsvollstreckungsrecht auswirken wird. Vermutlich werden die Bürger und Bürgerinnen, solchermaßen kundig geworden, zukünftig häufiger sich des Mittels von Widerspruch und verwaltungsgerichtlicher Klage bedienen, wenn der Staat fordernd an sie herantritt. Die Eingangsstatistiken der Verwaltungsgerichte werden es zeigen.

Drei Gruppen

Im Gewoge des allgemeinen Widerstandswillen ließen sich drei große Gruppen ausmachen: Jene, für die die richtige Verhaltensweise nur die Forderung nach uneingeschränktem und vor allem offenem Boykott der Zählung sein konnte. Die zweite Gruppe, mit dem Etikett »weicher Boykott« versehen, wollte mit allen Mitteln unterhalb der offen zur Kenntnis gegebenen Boykott-Schwelle das Ihrige dazu beitragen, damit die Volkszählung durch massenhaften Sand im organisatorischen Getriebe, durch unvollständiges und falsches Datenmaterial, ein vorzeitiges Ende fände. Diese zwei Gruppen repräsentierten in etwa auch die hauptsächlichen Motivstränge, wenngleich vielfältiger Austausch eine klare Trennung nur selten zuließ.

Das überwiegende Argument gegen die Volkszählung, das vor allem von den vielfältigen Initiativgruppen, den Vobo-Gruppen gebraucht wurden, war die Befürchtung, daß die Volkszählungen als solche, charakterisiert durch das Lieblingswort linken Datenschutzbewußtsein, der staatlichen »Totalerfassung« der Bevölkerung diene; daß der Staat gedenke, diese Daten unmittelbar gegen den die einzelnen Bürger und Bürgerinnen zu kehren, indem er zum Zwecke repressiver oder präventiver Einflußnahme aus den Volkszählungsdaten Informationen über die einzelnen destilliere. Der Schrittmacher dieser Argumentation gab das kleine Büchlein von Rottmann / Strohm ab, das vom Verlag 2001 bereits im Dezember 1986 herausgebracht worden ist. Es wurde zur verbreitesten Buchpublikation über die Volkszählung. Wie heißt da: »Die Volkszählung macht es möglich. Auch Ihr kleinstes Geheimnis wird sich nicht mehr verbergen lassen, erst recht nicht, ob Sie Ihre tatsächlichen Einkünfte auch korrekt versteuern. … Falsche Angaben lassen sich mit Hilfe von Plausibilitätsprüfung durchaus herausfinden. Und falsche Antworten können Ihnen ein Bußgeldverfahren mit einer Strafe bis zu 10 000 DM einbringen« (S. 140f).

Solche Argumentation der Dämonisierung des Staates speiste sich aus scheinbar unausrottbaren linken Staatsmachtsphantasien und mußte zugleich als Begründung für den Widerstand herhalten. Gemäß dieser Überwachungsstaat-Rhetorik ist der totale Überwachungsstaat mit Durchführung der Volkszählung bereits alltägliche Wirklichkeit, oder der totale Überwachungsstaat hat nur dadurch abgewendet werden können, weil die Bevölkerung so überaus falsch die Fragebögen ausgefüllt habe. Und die Autoren sind unehrlich genug, die Bußgeldhöhe von 10 000 DM nach dem Statistikgesetz als zusätzliche Begründung zu nutzen, daß einzig der harte Boykott, die generelle Verweigerung, das einzige Schutzmittel vor der staatlichen Erfassung sei und den drohenden Nachteilen falscher Angaben sei (die wiederum den Bußgeldtatbestand erfüllen).

Diese Argumentation ist ganz und gar verlogen, weil sie bauernfängerisch aus der Volkszählung einen Popanz des Überwachungsstaates fabrizierte. Auf dem Kontinuum staatlicher Erfassung sind die von der Volkszählung erfaßten Daten sicherlich die am wenigsten gefährlichen. Insbesondere die Polizei und Verfassungsschutz unterstellte Begehr nach den auf den Bögen enthaltenen Daten hat bei deren Angehörigen nur unverständiges Staunen ausgelöst. Den Sicherheitsdienern mag man ja manchen Unsinn zu trauen können, wohl kaum aber den, sich durch millionenfache Volkszählungsbögen zu quälen für die Daten, die anderswo leichter und angesichts der vermutlich hohen Zahl unentdeckter Falschangaben auch richtiger zu erhalten wären. Und falls doch etwa ein Bürgermeister den so naheliegenden Griff in die Volkszählungsdateien hätte tun wollen (etwa um seine Melderegister zu berichtigen), dann wäre das Entdeckungsrisiko allzu hoch. Denn daß dies die Hauptsünde der Volkszählung sein mußte, das wußte seit der Volkszählung 1983 jedermann und Frau in der Verwaltung. Daher: Von der unmittelbaren personenbezogenen Zweckentfremdung der Volkszählungsdaten drohte wahrlich die geringste Gefahr. Nur, gegenüber dem Publikum ließ sich damit recht trefflich argumentieren und erschrecken.

Die zweite Gruppe war für diesen manipulativen Kreuzsprung nicht so leicht empfänglich. Sie sah nicht in den mittels der Volkszählung erhobenen Daten das eigentiche Bedrohungspotential, sondern begriff primär die Volkszählung 1987 als den staatlichen Versuch, die Schlappe von 1983 wieder wett zu machen. Für diese Gruppe war die Volkszählung in erster Linie der Geßlerhut des Jahres 1987, vor dem sich zu verbeugen des Untertanen erste Pflicht sei. Ihr Widerstand hatte zudem die Kritik ernstgenommen, die der Volkszählung, sollte sie gelingen, nur die Qualität eines immensen Haufens von Datenschrott zubilligen wollte. Die offensichtliche Widersinnigkeit im Hinblick auf die staatlicherseits propagierten und selbst wieder zu kritisierenden Zwecke ließ den in der Volkszählung exekutiv vorbereiteten Unterwerfungsakt nicht zu. Die Volkszählung war nicht selbst der Rutsch in den »totalen Erfassungsstaat« und von daher zu bekämpfen, sondern der Widerstand gegen die Volkszählung begriff sich als Symbolhandlung gegen die fortschreitende Informatisierung der staatlichen Exekutive zu Ungunsten der BürgerInnen.

Die zahlenmäßig größte, dritte Gruppe bildeten jene, die nicht mit dem stillen oder lauten Vorsatz auf die obrigkeitliche Zumutung einer Volkszählung reagierten, durch entschiedenen Boykott den verlangten Gehorsam zu verweigern. Gemeint sind die millionenfachen Schweyks, die dafür verantwortlich sind, daß schon die ersten Auswertungen des Rücklaufs der Bögen bis zu 60% unvollständige bzw. offenkundig fehlerhafte Bögen ergaben. Und diese Tendenz ist steigend, fragt man die völlig überlasteten Mitarbeiter der Erhebungsstellen. Diese können insbesondere in den größeren Städten eine Vollständigkeits- bzw. Plausibilitätskontrolle immer weniger durchführen. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn je später sich einer zur Abgabe der Bögen hat zwingen lassen, umso höher dürfte der Anteil derer sein, die der schweykschen Alltagsguerrilla zuzurechnen sind.

Der Weg zu den Gerichten

Es ist erstaunlich, welche Hoffnungen von den Kritikern der Volkszählung, die ihren Widerstand gerade doch auf das grundrechtlich geschützte Mißtrauen in den datenverarbeitenden Staat gegründet haben, in die Justiz gesetzt worden sind. Das ist der Unterschied zur Volkszählung 1983. Das hat der Bewegung gegen die Volkszählung gelegentlich, z.B. von der Berliner Anwältin Künast, die Qualifizierung als einer »Rechtsmittelbewegung« eingebracht. Zufall ist dies freilich nicht. Das gerichtliche Ende der Volkszählung 1983 hatte insbesondere die Anwältinnen und Anwälte als Frauen und Männer des Rechts(mittels) auf den Plan gerufen. Es führte bei ihnen zu einer gegenseitigen Befruchtung des professionellen und politischen Interesses und ließ sie zu ungeahnt begehrten Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den tausenden von Volkszählungsveranstaltungen werden. Im Widerstand gegen die Volkszählung 1983 hatte verwaltungsrechtliches, juristisches Rüstzeug allenfalls eine annotierende Funktion gegenüber der allgemeinen Sicherheit vom Scheitern der Volkszählung (entweder durch die Unmöglichkeit der Exekution der Volkszählung gegen massenhaften Unwillen oder durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) gehabt. Daß die Gerichte 1987 im Schulterschluß der »Rechtsfront« die vieltausendfachen Anträge auf aufschiebende Wirkung sowie die Klagen wenig skrupulös zurückweisen würden, hatten Pessimisten lange zuvor befürchtet. Um auch arbeitstechnisch gewappnet zu sein, sah so mancher Verwaltungsgerichtspräsident endlich die Chance gekommen, die stiefmütterlicher Ausstattung seines Gerichts durch Installierung und Einsatz von Textautomaten zu beenden. Die Stunde der schablonierten Entscheidungen war gekommen und erregte das Erstaunen der Kläger, die Argumente diskutiert fanden, die sie in ihren Anträgen gar nicht artikuliert hatten. Die Verwaltungsgerichte der Republik schienen einen Informations-, besser: Urteilsverbund eingegangen sein. Die Erfolgsquote war deshalb auch befürchtbar gering. Die baden-württembergischen Zahlen dürften den Trend richtig angeben: Im November waren von insgesamt 10 000 eingereichten Klagen an die 7 000 bereits entschieden — nur eine einzige war erfolgreich. Nicht, daß die Justiz sich damit begnügte, allein abschlägige Entscheidungen zu treffen: Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof etwa zog recht kräftig an der Gebührenbremse und berechnete die doppelten der sonst üblichen Streitwerte zur pekuniären Abschreckung. Der Zug zu den Gerichten offenbarte eine immense Rechtsgläubigkeit gerade auf Seiten der hartnäckigen Kritiker der Volkszählung, die nur erklärbar wird durch die Wirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1983.

Es waren nicht die vielfältigen Unterweisungsschriften und Rechtsschutzfibeln, die plötzlich mit millionenfacher Auflage überall zu erwerben waren, die das Bedürfnis zu rechtlicher Auseinandersetzung geschaffen haben. Sie waren vielmehr Folge und Reaktion sowohl auf die unterschwelligen Ängste über den Umgang mit dem staatlichen Erfassungsbefehl als zugleich auch Ausdruck der gewachsenen Rechtsgläubigkeit.

Dabei macht es einen Unterschied, ob die rechtliche Vorsorge-Information nur als Drohgebärde gedacht ist, die den Staat noch vor Beginn der Zählung zum weisen Einlenken und schließlichen Verzicht bewegen soll, oder ob der Rechtsweg schließlich beschritten wird. Dann entstehen nämlich erhebliche Kosten (Gerichtskosten, Rechtsanwaltsgebühren), die ganz anders die Frage stellen lassen, wieviel einem/r der Widerstand gegen die Volkszählung »wert« ist. Als Drohgebärde verstanden haben sich die staatsgewaltigen Politiker nicht vor einer Überflutung der Gerichte verschrecken lassen, denn schließlich ist dies eher das Terrain der Exekutive denn das der Bürger.

Der juristische Weg des Widerstandes war trotz seiner nun erstinstanzlich in aller Regel durchgängigen Ablehnung nicht vergebens, weil er über einen langen Zeitraum die Exekutive daran hinderte, von vorneherein alle Zweifel ohne Legitimationsverluste zurückzuweisen. Der Ablauf der Volkszählung in Berlin dürfte hier das Paradebeispiel sein: Dort hatten Volkszählungsgegner aus dem Kreis der Jungdemokraten unter Hinweis auf die Alliierten Vorbehaltsrechte geltend gemacht, daß die datenschutzrechtlichen Regelungen im Volkszählungsgesetz jederzeit von den Alliierten mißachtet werden könnten, also die Voraussetzung eines wirksamen Datenschutzes nicht gewährleistet sei. Bald ein knappes halbes Jahr hatten die Bürger hier länger als anderswo vor Heranziehungsbescheiden und Zwangsgeldandrohungen Ruhe. Solange dauerte es, bis das Oberverwaltungsgericht — in Berlin über sich nur noch den blauen Himmel — in den letzten Oktober-Tagen den Rechtssuchenden beschieden hatte, daß in Berlin die Grundrechte nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch Alliierten begrenzt seien; das gelte ebenso für alle anderen Bereiche und könne daher die Auskunftverpflichtung des Volkszählungsgesetzes nicht berühren. Was die Alliierten selbst von der allerorten dem Volke versicherten Anonymität der Volkszählungsdaten hielten, machte eine Anweisung an ihr deutsches Personal deutlich. Offensichtlich überzeugt von den Zweifeln der Volkszählungskritik an der versprochenen Anonymität wiesen sie ihre deutschen Mitarbeiter an, anstelle der in den Volkszählungsbögen erfragten Angaben zu Beruf, Arbeitstelle etc. nur das Wort »Alliierte« zu schreiben. Was sicher viele, ob Mitarbeiter der Alliierten oder nicht, getan haben werden! Erst Ende Oktober begannen die Erhebungsstellen mit der massenhaften Versendung von Heranziehungsbescheiden (ca. 200 000) und entsprechend länger wird der Rücklauf dauern — möglicherweise bis zum Erreichen des Zeitpunktes, an die die noch ausstehenden Volkszählungsdaten wegen Zeitablaufs nicht mehr in die amtliche Statistik eingehen können. Die Auskunftspflicht fände dann ihr sanftes Ende.

Mit der routinemäßigen Zurückweisung von Anträgen auf aufschiebende Wirkung sowie der Klagen gegen die Auskunftsverpflichtung durch die Verwaltungsgerichte muß der juristische Weg als Massenwiderstand abgehakt werden. Seinen Sinn hat er auf jeden Fall gehabt. Weiterer juristischer Widerstand mit dem Argument allein der Verfassungswidrigkeit des Volkszählungsgesetzes bietet keine Aussicht auf Erfolg mehr. Sinn macht jetzt nur noch das Aufspüren von Mängeln im Ablauf der Volkszählung, was viel Zeit und Energie fordert und in der Regel der Präsentation durch juristische Spezialitäten bedarf. Das räumte auch der Verfasser der gemeinsam von Republikanischen Anwaltsverein und Humanistischer Union herausgegebenen »Rechtsschutzfibel«, Hauck, ohne weiteres ein. Jetzt noch sich auf die Suche nach Fehlern in der Durchführung der Volkszählung zu begeben wird nur wenigen Lust und Gewinn bereiten. Wenn Jahre später darüber entschieden sein wird, dann ist die Volkszählung 1987 (die letzte) schon längst vergessen, selbst wenn Gerichte den Klägern Recht geben sollten.

Und bist Du nicht willig…

Wer gedacht hat, bei der Volkszählung handele es sich um nichts mehr als dies, der wurde spätestens dann eines Besseren belehrt, als der Staat seinerseits mobil machte.

Er tat dies auf allen Ebenen — als sei die Frage der Volkszählung eine des Bestandes des Staates selbst. Bis in den hintersten Winkel der Republik fühlten sich Polizei, Staatsanwälte und Gerichte, und nicht zuletzt die Geheimdienste aufgerufen, das Ihre zu tun, um die Beteiligung an der Volkszählung zur Wasserscheide der Staatsloyalität zu machen. Die folgenden Notierungen sind nicht und können nicht auf Vollständigkeit bedacht sein; sie sollen nur im Gedächtnis halten helfen, wessen der Staat und seine Organe bereits bei so vergleichsweise nichtigem Anlaß fähig sind:

  • Landauf landab wurden Inforrnationsbroschüren, Flugblätter beschlagnahmt, die sich kritisch mit der Volkszählung befaßten. Findige Staatsjuristen hatten die Aufforderung, nur anonymisierte Fragebögen bei den Selbsthilfe-Sammelstellen abzugeben, als strafbare Sachbeschädigung subsumiert. Aus Volkszählungsgegner, die sich nicht mehr als einer Ordnungswidrigkeit schuldig machen konnten, wurden plötzlich »Straftäter«.
  • Die vielfältigen Beschlagnahmeaktionen beschränkten sich nicht auf Informationsmaterial, das auf öffentlichen Straßen und Plätzen feil geboten worden war. Bundesweit wurden Wohnung von Volkszählungskritikern durchsucht, Jnformationsbüros von Initiativen, Parteizentralen der GRÜNEN wie in Bonn. Das geschah zumeist im Einklang mit dem professionell-bekannten sicherheitsbehördlichen Stil in der Zeit des Morgengrauens.
  • Post für die Initiativen wurde beschlagnahmt, in Berlin gar die Parlamentarierpost für die Alternative Liste.
  • Unzählige Versammlungen wurden verboten oder erst dann erlaubt, wenn die Veranstalter den von der Polizei solchermaßen Gastwirten versicherten, daß nicht zum Boykott der Volkszählung aufgerufen werden würde.

Anstatt weitere Vorfälle aneinanderzureihen, sei aus einer Meldung eines einzigen Tages zitiert:

In Darmstadt sind jetzt sechs im Buchhandel frei verkäufliche Bücher zum Thema Volkszählung und Informationstechnologie auf einen Index gesetzt worden. Unter Androhung eines Zwangsgeldes von 1 000 DM darf die örtliche Boykottinitiative diese Bücher nicht mehr auf ihren Büchertischen auslegen, darunter das 2001-Buch von Verena Rottmann und »Mikropolis« von Rolf Kubicek, in dem das Wort Volkszählung überhaupt nicht auftaucht. Dabei reichte als Begründung schon aus, daß »durch dieses Schriftgut zumindest mittelbar zu einem Boykott der Volkszählung aufgerufen wird«. In München wurde eine Straßentheateraktion wegen der Aufschrift »Nur Schafe lassen sich zählen« aufgelöst. In Bayreuth wurde am Informationsstand der Grünen eine Broschüre der Humanistischen Union beschlagnahmt, die ausdrücklich nicht zum Boykott aufruft, sondern lediglich über die rechtlichen Möglichkeiten des Einspruchs und Widerspruchs informiert. Diese Beschlagnahmung wurde inzwischen von einem Bayreuther Amtsrichter mit der Begründung bestätigt, »nach den Begleitumständen« sei mit dieser Broschüre zum Boykott aufgerufen worden.
Die Äußerung in einem taz-Intervlew, »Einen Mandanten wurde ich auf die Risiken der Volkszählung hinweisen und auf die Rechtswege und tatsächlichen Möglichkeiten, sich gegen die Aufforderung zur Teilnahme an der Volkszählung zur Wehr zu setzen«, reichte den niedersächsischen Behörden schon aus, um gegen den Vorsitzenden des Republikanischen Anwaltsvereins, Klaus Eschen, ein Bußgeldverfahren einzuleiten. Als Ordnungswidrigkeit begreifen es die Behörden dort u.a. daß Rechtsanwalt Eschen in dem taz-Gespräch das Volkszählungsgesetz als »verfassungswidrig« bewertet hatte, obwohl er doch wisse, »daß nur das Bundesverfassungsgericht eine Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz feststellen kann«. (taz, 27.4.1987)

Die Strafgerichte vermochten der scharfmacherischen Vorhut von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht zu folgen. Es mehrten sich die Freisprüche, weil die Richter in dem Abschneiden der Nummern von den Erhebungsbögen keine strafrechtlich relevante Sachbeschädigung erblicken mochten. Ebenso wurden jene Beschlagnahme-Aktionen für rechtswidrig befunden, in denen Informationsmaterial in großem Umfang konfisziert worden war. Zulässig erachtet waren allenfalls einige wenige Stücke zu »Beweiszwecken«. Dem sicherheitsbehördlichen Kalkül verschlug das nicht: Einschüchterung und Angst waren in der »heißen« Phase der Volkszählung an der Tagesordnung.

Und nicht zu vergessen: die Staatsschutzabteilung der Polizei und der Verfassungsschutz, die eifrig sammelten, wen sie im Zusammenhang mit der Volkszählung allzu kritisch wähnten. Was aus Baden-Würtemberg und Bayern bekannt geworden ist, die Praxis, rund um die Versammlungsstätten, Veranstaltungsorte von VZ-Veranstaltungen die Kennzeichen der Autos zu notieren, beschäftigte zwar viele Beamte, konnte sich aber nicht mit dem viel zweckrationaleren Verfahren messen, das der Berliner Staatsschutz mit den Erhebungsstellen vereinbart hatte: Wer von den Erhebungsstellen als Boykotteur ausgemacht worden ist, sollte an den Staatsschutz weitergemeldet werden. Dies Verfahren ist sicher das am wenigsten aufwendige und vor allem wesentlich genauer als die pauschale Notierung von Autokennzeichen nach dem Motto der Ortshaftung. In Berlin wurde das Verfahren nach dessen öffentlicher Ruchbarkeit zumindest offiziell wieder eingestellt.

Parallel kamen die Bußgeldbescheide: In immensen Höhen, denn schließlich sollten sie auf das gemeine Volk abschreckend wirken. 8400 DM für jeden jener GRÜNEN und Bundestagsabgeordneten, die in Bonn vor laufenden Fernsehkameras mit einem Boykottaufruf postiert hatten. Die Statistischen Ämter, erstrangige Dateninteressenten und zuständige Bußgeldbehörden in einem, hatten sich an den üblichen Parlamentariergehältern von ca. 12 000 DM orientiert. Daß solche Bußgeldbescheide allein schon wegen der grünen Gehaltsablieferung an die Partei nicht annähernd einer gerichtlichen Überprüfung standhalten würden, dürfte den Bußgeldbehörden klar gewesen sein. Und wenn hinterher alle Bußgeldbescheide restlos aufgehoben werden würden, darauf kam es den Statistikern gar nicht an: erstmal sollte Angst und Schrecken verbreitet werden im Volke. Denn drei oder vier Monatsgehälter hinlegen zu müssen für nicht mehr als die Verweigerung von Volkszählungsdaten — so der bezweckte Eindruck — sollte dem Widerstand gegen die Volkszählung seine von den Volkszählungskritikern propagierte finanzielle Kalkulierbarkeit nehmen.

Die erste und für die Durchführung der Volkszählung ganz elementare Hürde bestand jedoch darin, die notwendige, auf rund 600 000 bezifferte, Zahl von Zählern und Zählerinnen zu finden. Hier setzte der Staat ganz auf Staat. Überwiegend, und zum Beispiel in Berlin ausschließlich, wurden Angehörige des öffentlichen Dienstes und hier wiederum vorrangig Lehrer und Lehrerinnen bestellt. Mit der Zuchtrute von Loyalität und Gehorsam dachte man der weit verbreiteten Zählunwilligkeit begegenen zu können. Doch um welchen Preis! Selten hat es aufgeregtere und teilweise vom Dienstherrn untersagte MitarbeiterInnen-Versammlungen geben als zu Zeiten der ZählerInnenbestellung. Beamte, die mit der Volkszählung selbst kaum Probleme hatten, bekamen diese, weil sie zu Exekutoren bestimmt worden waren, die sich angstvoll dem Spießruteniauf durch die Heerlager der Verweigerer ausgesetzt sahen. Die Furcht, mißbraucht und gleichzeitig angefeindet zu werden, ließ unter den Zählern und Zählerinnen jenes Klima heranwachsen, das die Berliner Erhebungsstellen zur zwangsweisen Bestellung von 40000 Zählerinnen und Zählern greifen ließ, wo doch nur 20000 gebraucht wurden. Der Ärger der ZählerInnen-Bestellung legte so den Grundstein für die erste massenhafte ablehnende Beschäftigung mit der Volkszählung, trotz und gerade wegen der dabei angewandten Mischung von Verwaltungszwang und Loyalität.

Die Volks­zäh­lung 1987: ein Erfolg, für wen?

Hört man die Verlautbarungen der Statistischen Ämter, dann ist die Volkszählung rundherum erfolgreich gewesen. Sie habe sich nicht von den Ergebnissen der Volkszählung 1970 unterschieden. Das wußten die Statistiker bereits im August: Der Leiter des Statistischen Bundesamtes verkündete, der Ausgang der Volkszählung werde positiv sein, die »Problemfälle« (Fehlerquoten durch falsche und unvollständige Angaben) würden unter einem Prozent bleiben. Diese Fehler könnten ohne weiteres korrigiert werden. Die Zahlen vom Oktober klangen schon wesentlich bescheidener, denn nun mußten die Statistiker einräumen, daß fünf Monate nach dem Stichtag immerhin noch 3 Mio. Bögen unterwegs seien. Was aber sie ganz und gar nicht hinderte, weiterhin den Verlauf der Volkszählung als einen großen Erfolg zu bewerten, waren doch 95% der ausgegebenen Bögen zurückgekommen.

Auf der anderen Seite stand deren Mißerfolg ebenso unumstößlich fest, nach außen jedenfalls. Im kleineren Kreise war man sich der Erfolgsmeldungen vor allen aus den partei-grünen Bereichen nicht so sicher. Nur noch 5% verweigerte Bögen! Teils mit Beklemmung hatte man zur Kenntnis nehmen müssen, daß eine erhebliche Zahl von jenen, die vordem mit einem eindeutigen Nein ihre Mitwirkung an der Volkszählung zu versagen gedachten, klammheimlich oder offen eingestanden, inzwischen ihrer Auskunftspflicht Genüge getan zu haben. Das geschah nicht mit dem besten Gewissen; aber natürlich habe man falsch ausgefüllt, nahm man sich etwas die vermeintliche Blöße.

Immerhin 3 Mio. Bögen bisher — und man kann sich ausrechnen, daß die Zahl der endgültigen Verweigerer noch erheblich schrumpfen wird, wenn erst einmal in alle Haushalte die Zwangsgeldfestsetzung von etwa 500 Mark angelangt sind. Jene Propagandisten einer Zählung des Widerstandes gegen die Volkszählung durch Abgabe bei den inoffiziellen Sammelstellen verzagten zunehmend. Sie hatten sich selbst dem Fetisch der Zahl unterworfen, spiegelbildlich das exekutive Gegenüber nachgeahmt und die Bewegung in ihrem harten Kern kalkulierbar gemacht.

Die Volkszählung 1987 also ein Mißerfolg, eine Niederlage der Volkszählungskritiker, weil nicht zweistellige Prozentsätze der Verweigerer erreicht wurden? Verwunderlich wäre dies nicht angesichts der repressiven Welle, die mit Polizei, Verfassungsschutz, Zwangs- und Bußgelddrohungen, Strafverfahren den Bürgerinnen und Bürgern Gehorsam abnötigen sollte. Was steht dagegen?

Nach dem Stand vom September sind 60% der bei den Erhebungsstellen eingegangenen Bögen unvollständig oder erkennbar falsch ausgefüllt worden. Nicht abschätzbar — auch für die Statistiker nicht — ist die Zahl derer, die nicht erkennbar, das heißt, die innerhalb der Plausibilitätsmargen falsche Angaben gemacht haben. Mit nachträglichen Versuchen wie telefonischen Rückfragen lassen sich derartige Mengen erkannter Mängel nicht mehr ausgleichen. Hier hilft den Statistikern nicht weiter, daß für sie plausibel falsch ausgefüllter Bögen genauso gut sind wie richtig aus-gefüllte Bögen. Ihre Annahme, daß — statistisch gesehen — die einzelnen (nicht erkennbar) falschen Angaben sich gegenseitig ausgleichen, vermag nicht die umfangreichen Vollständigkeitsmängel und offensichtlichen Fehler beheben. Die Volkszählung 1987 ist bereits nach immanenten Kriterien gescheitert, denn deren staatliche Exekutoren haben nun die Quittung dafür erhalten, daß sie sich über ein elementares handwerkliches Gebot der Meinungsforschung hinweggesetzt haben. Danach verbietet sich die Durchführung von Befragungen in derart emotionalisierten Situationen, weil nur unbrauchbare Ergebnisse erzielt werden können. Der von vornherein bei der Volkszählung 1987 erwartbare Datenschrott hätte bei einem privatwirtschaftlichen Auftraggeber zum Verzicht auf die Durchführung oder zumindest zur Zurückweisung der Ergebnisse geführt. Daß dies bei der Volkszählung 1987 nicht geschah bzw. auch nicht geschehen wird, gibt jenen Kritikern der Volkszählung recht, die das Unterfangen einer erneuten Volkszählung von Anfang an als billige Retourkutsche der um ihr verfassungsfreundliches Gesicht gebrachten Innenminister und Staatsapologeten von 1983 bewertet hatten. Es ging nicht um die Volkszählung selbst, sondern um die Demutsgeste der Unterwerfung unter den staatlichen Informations- und Herrschaftsanspruch: Jeder Volkszählungsbogen ein höchstpersönlicher Geßler-Hut. Um im Bilde zu bleiben: Tausende von Tells und eine in die Millionen gehende Zahl von Bürgern und Bürgerinnen, die anstelle des muskelstarken Schweizers sich den modernen Helden der alltäglichen Subversion, Schweyk, zum Vorbild nahmen, sorgten dafür, daß die staatliche Zumutung zurückgewiesen worden ist.

Aber auch die Bürger, die ihrer Auskunftspflicht nachgekommen sind, haben dies in aller Regel erst nach längerer Diskussion im Familien und Freundeskreis getan.

Noch nie gab es so ein verbreitetes Bewußtsein von der Gefahr der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien für die Grundrechte. Die zunehmende Abstraktheit informationstechnologischer Gefahrenlagen, das Unbehagen über die Einführung des maschinengelesenen Bürgers, die sogenannten Sicherheitsgesetze, fanden ihren habhaften Ausdruck in der vergleichsweise ungefährlichen Volkszählung. Die immensen bis in die Milliarden gehenden volkswirtschaftlich verschwendeten Gelder für die Exekution der Volkszählung sind keineswegs schlecht angelegt. Mir ist keine staatliche Aktion in der Geschichte der Bundesrepublik erinnerlich, wo mit so großem organisatorischen und personellen Aufwand (allein schon die 600 000 Zähler und Zählerinnen) ein Verwaltungsziel betrieben wurde und am bürgerrechtlichen Sinn scheiterte.

Daran sollten jene ganz Mutigen denken, die sich in den Rücken gefallen wähnten ob der gemeinsamen nicht-gemeinsamen Erklärung des Komitees für Grundrechte und Demokratie und der Humanistischen Union vom November 1987. Deren Rat an die Träger des Boykotts, den Volkszählungsboykott auf schweyksche Art auslaufen zu lassen, rührte aus der Einsicht, daß die Volkszählung kaum der Fall des absoluten Widerstandes sei und die Massakergelüste mancher Vertreter des Staates im Falle der Volkszählung besser leerliefen.

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