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140 000 Chemikalien im Rhein - Und die Angst

aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S. 76-84

Seit mehr als zehn Jahren kämpft »Greenpeace« gegen die Verschmutzung unserer Welt mit Schadstoffen aus der industriellen Produktion: gegen die Verklappung von Dünnsäure, Seeverbrennung und Verklappung von Atommüll im Meer; gegen Atomtests, den sauren Regen, die Schadstoffemissionen von Kohlekraftwerken und Autoabgase auf dem Land. Im Juli und August dieses Jahres befuhr »Greenpeace« mit dem neuen Labor- und Aktionsschiff »Beluga« den Rhein, um den Verschmutzern der Meere einen »Besuch« abzustatten; diese nämlich sind in den meisten Fällen nicht Anlieger der Meere, sondern der Flüsse: Allein über den Rhein werden ca. 40% der Nordsee-Verschmutzung transportiert. Es sind im wesentlichen folgende Verursacher:

  • die Papier- und Zellstoffindustrie;
  • die chemische Industrie;
  • kommunale Kläranlagen;
  • Mineralölraffinerien;
  • Metallhütten;
  • Bergwerke.

Bei der Fahrt mit der »Beluga« auf dem Rhein mußten wir feststellen: Geheimnisse auf dem Rhein und bei seiner Vergiftung gibt es genug! Ihr Resultat allerdings liegt offen zutage: Der Rhein ist weiterhin ein verschmutzter Fluß; optisch zwar aufgehellt, etwas durchsichtiger vielleicht; die eigentlichen Schadstoffe aber sind farblos, unsichtbar, so daß sie ebenso wie ihre Verursacher zwangsläufig im Geheimen verbleiben; daß die Art der Verschmutzung sich zwar ändert, sie als solche aber oft genug als unabänderbares Geheimnis hingenommen wird.

In der Bundesrepublik ist jedes Unternehmen, das Abwässer in Flüsse einleitet, gemäß dem Wasserhaushaltsgesetz verpflichtet, die jeweilige Verschmutzung anzugeben; d.h. in den Wasserbüchern wird den Verschmutzern erlaubt, in welchem Umfang, in welchem zeitlichen Rhytmus und in welcher Konzentration sie zur Schadstoffbelastung – auch des Rheins – beitragen dürfen. Die Genehmigungen umfassen auch Angaben über die Art der Einleitung: Wo wird eingeleitet? In welchen Mengen wird eingeleitet? Wie warm/wie kalt, wie trüb darf das Abwasser sein? Diese Wasserbücher offenzulegen war ein Ziel der jüngsten Rheinfahrt der »Beluga«. Denn wenn Wasserbücher geführt werden, wenn registriert ist, welche Mengen welcher Schadstoffe eingeleitet werden dürfen, dann muß dieses Wissen unserer Meinung nach der Öffentlichkeit zugänglich sein – schließlich trinken mehr als 20 Millionen Menschen Trinkwasser aus dem Rhein.

Wer nun aber glaubt, (zumindest) diese 20 Millionen Menschen hätten ein Recht darauf zu erfahren, wer denn da ihr Wasser verschmutzt, unterliegt einer Illusion: Wasserbücher sind eines der großen Geheimnisse dieser Demokratie. In sie Einsicht zu nehmen ist nämlich einzig jenen gestattet, die ein »berechtigtes Interesse« geltend machen können; im Rhein schwimmen zu wollen oder sein Wasser trinken zu wollen zählt jedoch nicht zu den »berechtigten Interessen«. Auch die Wasserwerker am Rhein, die aus der »Brühe« Trinkwasser machen sollen, versuchen seit Jahren vergeblich, an die Wasserbücher zu kommen.

Erlaubnisse in den Wasserbüchern sind auch eher entsprechend dem Motto gefaßt: »Kaiser, wieviel Schritte gibst du mir« – und umgekehrt »Wieviel möchtet ihr denn haben?« Sie orientieren sich – wider Erwarten – nicht an den technischen Möglichkeiten der Rückhaltung von Schadstoffen, nicht an ihrer tatsächlichen Zusammensetzung, ebensowenig beziehen sie sich auf die Schädlichkeit, sondern darauf, was und wieviel eine Firma einleiten möchte: Während unserer Fahrt besuchten wir u.a. die Duisburger Kupferhütte, die 1979 bankrott machte und einzig noch einen kleinen Zweigbetrieb aufrecht erhält. Ihr aber gestattet eine Erlaubnis aus dem Jahre 1977 die Einleitung von Schadstoffinengen, die weit darüber liegen, was der Rhein heute effektiv in die Nordsee transportiert; ein Beispiel: Ihr ist behördlich genehmigt, pro Jahr 8300 Tonnen Schwermetalle, davor. 350 t an Cadmium, in den Rhein einzuleiten – tatsächlich aber fließen der Nordsee jährlich »nur« 110 t dieses Schwermetalls entgegen: Der Ende der 70er Jahre festgestellte Rückgang der Cadmiumkonzentration ist kein Erfolg der Reinigung-stechniken, sondern geht auf die Schließung dieser Kupferhütte zurück.

Wasserbücher werden geheim geführt. Die Begründung hierfür verbirgt sich im Produktionsgeheimnis; d.h. die Zusammensetzung von Abwässern soll Auskunft darüber geben können, wie die Produktion selbst durchgeführt wird. Jedoch – dies erweist sich ebenfalls als Illusion: Denn ausgerechnet jene, die an solchen Produktionsgeheimnissen Interesse hätten, die am gleichen Fluß angesiedelte Konkurrenz, die auch ihre Abwässer in den Fluß einleiten möchte, eben diese hat ein »berechtigtes Interesse«, die Wasserbücher einzusehen!

Auf unserer Fahrt stellten wir oft genug fest, daß Stoffe in den Rhein »entsorgt« werden, von denen jeder weiß, daß sie das Trinkwasser gefährden, die Nordsee bedrohen, von denen jeder weiß, daß sie der Gesundheit, dem Menschen, dem Allgemeinwohl, der Natur mehr als nur abträglich sind. Trotz allem: Sie werden eingeleitet.

Kommt man mit Politikern auf dieses heikle Thema zu sprechen und fragt – ganz unvoreingenommen: »Warum laßt Ihr das zu?« »Warum ermöglicht Ihr diesen Unternehmen die Verschnutzung?«, dann, so geschehen in Nordrhein-Westfalen, zeigen sie sich überrascht. Die Politiker am Rhein erwecken den Eindruck eines »guten Königs«, der – von seinen Untertanen betrogen – eigentlich nur das Gute möchte und dabei sowohl den bösen Industrieunternehmen wie auch finsteren Verwaltungsbehörden ausgeliefert ist. Doch so einfach ist es nicht.

Fangen wir früher an. Wo werden Chemikalien eingeleitet? Die Wasserbücher geben darüber Auskunft. Doch ihre Informationen sind wenig hilfreich, will man selbst an Ort und Stelle danach sehen. Zumeist liegen die Einleitungsrohre mitten im Fluß, 5 bis 6 Meter unter der Wasseroberfläche in Strommitte – damit sich zum einen das Abwasser gut verteilt, zum andern, damit mögliche Entnahmen von Proben erschwert werden. Wer kontrolliert hier also? Kontrolle existiert nur in bescheidenen Ansätzen – und das ist am Rhein gängige Praxis! Anstatt Emissionen zu überprüfen, werden Immissionen überwacht und Rückschlüsse darauf gezogen, wie, wann, wo welche Belastungen möglicherweise stattgefunden haben könnten. Die Probleme häufen sich erst dann, wenn das Trinkwasser derart stinkt, daß die Verbraucher es nicht mehr abnehmen.

Nach Angaben des Verbandes der Chemischen Industrie werden derzeit mehr als 140000 Chemikalien in den Rhein geleitet. Im Wasser werden sie zum Geheimnis an sich, denn wer möchte diese schon genau überprüfen, wer möchte genau wissen, was da im Rheinwasser tatsächlich schwimmt? Wie bereits erwähnt, eine faktische Kontrolle findet nicht statt, weil kaum jemand dazu in der Lage ist – und wo Kontrolle nicht möglich ist oder aber vereitelt wird, entstehen Geheimnisse. Aus dem Rhein aufbereitetes Trinkwasser wird maximal auf 600 Bestandteile hin analysiert – und dies auch nur ein einziges Mal im Jahr und beileibe nicht von allen Wasserwerken. Alle übrigen Bestandteile verbleiben im Dunkel, Gegenstand weiter Mutmaßungen, ob von einer möglichen Gesundheitsschädigung ausgegangen werden kann. Wird wieder einmal ein neuer Stoff entdeckt, bzw. erfährt man von ihm publikumswirksam, etwa indem öffentlich bekannt wurde, daß er ins Wasser gelangt, dann werden neue Grenzwerte diskutiert – so bei Nitrilotriacetat (NTA), ein Phosphatersatzstoff, der inzwischen in jeder Trinkwasserprobe zu finden ist. Und es wird abgewogen, ob der Grenzwert bei 10, vielleicht 20 oder gar erst 50 Mikrogramm festgeschrieben werden soll.

Grenzwerte

Um Abweichungen in der Statistik, um Abnormalitäten zu ermitteln und zu eliminieren, werden Grenzwerte fixiert. Mit dem Vermeiden oder gar Ausschließen von gesundheitlichen Risiken haben sie nichts zu tun! Vielmehr sollen sie den Eindruck erwecken, bezüglich der Schädlichkeit werde Vorsorge getroffen, Stoffe würden in ihrer Einleitung begrenzt. Tatsächlich aber dienen sie mehr einem statistischen Reiz. Grenzwerte für Stoffe, deren Zusammenwirkung man ebensowenig kennt, wie ihre Abbaumechanismen im menschlichen Körper, funktionieren im wesentlichen als »Beruhigungsmittel«; sie sollen die Handhabbarkeit von Daten und Fakten vortäuschen und somit den Eindruck des Geheimen, der für die Überwachungsbehörden und Kontrollinstanzen selbst entsteht, möglichst verwischen. Werden Grenzwerte eingehalten, so vermittelt dies Sicherheit; denn im Bereich der Wasserverschmutzung, der Imnnission, der Abgabe von Schadstoffen an die Umwelt resultiert aus den unzähligen chemischen Verbindungen wie auch aus dem Geheimnis ihrer Toxizität, ein Sicherheitsbedürfnis – nicht allein auf Seiten derjenigen, die als Verbraucher betroffen sind. Unsicherheit entsteht auch bei jenen, die diese verwalten, sie zu kontrollieren vorgeben. Man kann diese Stoffe nicht handhabbar machen, Belastungen nicht ermitteln, sie nicht nach ihrem gesundheitlichen Risiko beurteilen – aber man kann Statistiken erstellen und vorweisen; dazu werden Grenzwerte formuliert.

Ein Gesetz zur Infor­ma­ti­ons­frei­heit

Seit 1967 existiert in den USA ein Recht auf Informationsfreiheit (zur näheren Infor-mation vgl. den Aufsatz von Elke Gurlit in diesem Heft). Alle Bürger sind berechtigt Auskunft einzuholen über Daten, die umweltrelevante Prozesse betreffen. Dieser »Freedom of Information Act« räumt dem Bürger die Möglichkeit ein zu erfahren, wer wo wieviele Schadstoffe produziert und durch sie die Umwelt belastet. Hier wird Be-troffenheit nicht im bundesrepublikanischen Sinne ausgelegt, der sie eingrenzt auf jene, die in Konkurrenz zu anderen Unternehmen ebenfalls die Umwelt belasten möchten, sondern »Betroffene« sind hier alle, ist jeder Bürger. Doch wäre es voreilig, hieraus den Schluß zu ziehen, ein Recht zur Informationsfreiheit könnte die Umweltsituation entscheidend verbessern.

Mit einer Riesenzahl von Daten, mit dem Eindruck, man habe mit den Zahlen zugleich das Faktische im Griff, wird eine raffinierte Täuschung betrieben. Betrachtet man nämlich die US-amerikanische Umweltsituation, so ist festzustellen, daß Daten über den Umwelt-schutz, die Freiheit zur Information und die Freigabe von Wissen, eine wirkliche Änderung der Schadstoffbelastungen nicht haben initiieren können. Es hat den Anschein, als habe die relative Beliebigkeit der Daten Enthüllungen von Mißständen im Umweltbereich nicht gerade gefördert. Änderungen in der Bundesrepublik jedoch fanden zumeist dann statt, wenn Daten enthüllt wurden, »Umweltskandale« den Medien in geeigneter Form zugingen. Stehen aber Daten dem allgemeinen Zugriff offen, fällt diese enthüllende; den Schleier des Geheimnisses aufbrechende Komponente weg. Freilich: Hieraus ableiten zu wollen, ein Gesetz zur Informationsfreiheit sei vollends überflüssig, ist barer Unsinn. Nur: Die Bestimmungen des »Freedom of Information Act« sind unzureichend. Wenn Behörden Daten verwalten, Datenberge anhäufen und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, so resultiert hieraus noch nicht ein konsequent praktizierter Umweltschutz. Tatsächlich wäre ein Recht der Informationsfreiheit erforderlich, das die zuständigen Behörden darauf verpflichtet, aufgrund der vorliegenden Informationen die Öffentlichkeit auf mögliche Gefährdungen hinzuweisen und die erforderlichen Gegenmaßnahmen zu initiieren.

Grundrechte

Die derzeitigen Diskussionen über die Erhebung des Umweltschutzes in den Rang eines staatlichen Ziels weisen einen möglichen, jedoch in dieser Form kaum gangbaren Weg. Umweltschutz müßte nicht als Staatsziel, sondern als Grundrecht definiert werden; als Grundrecht ebenbürtig mit der Demonstrations- und Pressefreiheit. Über Grundrechte auf ruhigen Schlaf, auf sauberes Wasser, unvergiftete Nahrung, auf gesunde Wälder – kurz: auf natürliche Lebensgrundlagen – könnten in Verbindung mit einem Recht auf Informationsfreiheit möglicherweise größere Erfolge erzielt werden als mit einem puren Recht auf Dateneinsicht. Trotz der z. Zt. praktizierten Zurückhaltung von Daten durch die zuständigen Behörden besteht das eigentliche Geheimnis im Bereich des Umweltschutzes weniger im Mangel an verfügbaren Daten; tatsächlich macht die große Anzahl dieser Daten das Arkanum aus. Wer 140000 Chemikalien produziert, den plagt nicht die Angst vor ihrer Veröffentlichung; immer werden sie unübersichtlich sein, immer so versteckbar und so schlecht handhabbar, daß selbst durch ihre Veröffentlichung den Verschmutzern keinerlei Schaden entsteht. Vielmehr entsteht bei den Bürgern der Eindruck, Menschen ausgeliefert zu sein, die Chemikalien produzieren und deren Unschädlichkeit – wie auch die eigene Unschuld – mit Milliardenbeträgen nachzuweisen wissen. Ausgeliefert an die Drohung mit Arbeitsplatzverlust, ausgeliefert an den täglichen Kampf um Grenzwerte, ausgeliefert an gesundheitliche Beeinträchtigungen an jeder Stelle – von einer Angst in die andere getrieben. Ein Recht allein auf Informationsfreiheit würde im Augenblick wohl eher ein Recht auf allgemeine Verängstigung der Bevölkerung bedeuten.

Das gläserne Abflußrohr

Spürt man Geheimnissen im Bereich der Umweltverschmutzung nach, entsteht zunächst Überraschung darüber, wie wenig die eigentlichen Verursacher selbst darüber wissen, welche Schadstoffe von ihnen produziert werden. Ihre Genehmigungen für die Schadstoffproduktion und deren Abgabe an die Umwelt sind so allgemein formuliert, daß sich hinter der Genehmigung für einen einzigen Parameter durchaus mehrere Tausend Chemikalien verbergen können. Dort werden beispielsweise die gesamt-Petrolether-extrahierbaren Stoffe vorgeschrieben, anstatt jede einzelne Verbindung gesondert festzulegen. Welchen Nutzen jedoch zieht ein Konsument von Trinkwasser aus dem Wissen darüber, ob der abgegebene Schadstoff petrolether-extrahierbar ist?

Paradoxerweise sind Abteilungen und Abwasserzusammensetzungen den großen Unternehmen beim Einlauf in ihre Kläranlagen sehr wohl bekannt. Dort werden zumindest mehrere Hundert Chemikalien untersucht und in ihrer Konzentration und Schädlichkeit bestimmt, geht es doch darum zu verhindern, daß eine Werkskläranlage umkippt, daß Bakterien aus dem Gleichgewicht kommen und absterben, wenn sich die Zusammensetzung der eingeleiteten Chemikalien wesentlich ändert. Für den Ablauf, d.h. für die Einleitung der »geklärten« Abwässer in einen Fluß, werden jedoch nur einige wenige Stoffe analysiert – eben jene, die im Wasserbuch vorgeschrieben sind.

Das Geheimnis bei der Produktion und Abgabe von Schadstoffen an die Umwelt beginnt also damit, daß der Produzent schon von vornherein größtenteils nicht weiß, was er tatsächlich an Abwasser produziert. Auch fragt ihn bislang niemand danach, sodaß Kostenfaktoren wie die Untersuchung dieser Schadstoffe wegfallen. Würde ein Konzern wie bspw. Bayer tatsächlich allen Stoffen im Abwasser nachspüren, wären hierdurch seine Möglichkeiten der Analyse restlos überfordert. Meist ist auch dem Hersteller unbekannt, welche Stoffe in welchen Mengen, in welcher Schädlichkeit und erst recht in welcher Konzentration eingeleitet werden. Analyseverfahren sind weitgehend nicht entwickelt. Nach Angaben des Chemieherstellers Sandoz leitet dieser ca. 45 000 verschiedene Chemikalien in den Rhein – diese Auskunft basiert auf einer Schätzung, denn Sandoz nimmt an, daß pro Umsetzung jeder der hier verarbeiteten 15 000 Chemikalien etwa drei Nebenprodukte entstehen.

Das Geheimnis ist also zunächst: »Was wird überhaupt produziert?« Das zweite Geheimnis verbirgt sich in der Frage »Was wird wo, wie, wann eingeleitet?« und ist für die Behörden faktisch nicht kontrollierbar; denn die Einleitung der Schadstoffe findet ja mitten im Strom statt. Sollen Proben zur Untersuchung der Abwasserqualität entnommen werden, so hat sich die Behörde beim betreffenden Unternehmen anzumelden. Unsere Erfahrungen während der Fahrt der »Beluga« auf dem Rhein erwiesen, daß sich Abwasserzusammensetzungen doch sehr schnell verändern können, wenn Kontrolle ansteht. Wie mehrere Untersuchungsinstitute festgestellt haben und wie auch ein holländisches Forscherteam bestätigte, das zur gleichen Zeit auf dem Rhein Messungen über die Wasserbelastung durchführte, verbesserte sich die Wasserqualität immer dann schlagartig, wenn Greenpeace mit seinem Flußaktionsschiff in die Nähe kam. Untersuchungen ergaben, daß Schadstoffkonzentrationen teilweise bis auf ein Fünfzigstel oder gar Hundertstel des »normalen« Wertes zurückgeführt werden, wenn Kontrollen anstehen. Doch institutionalisierte Kontrollen sind im Moment nicht möglich, da über die Abläufe der Schadstoffproduktion außer den Unternehmen selbst kaum jemand Bescheid weiß; Probeentnahmen werden so vereitelt. Greenpeace fordert daher das »gläserne Abflußrohr«, d.h. die Kenntlichmachung der Abläufe und die jederzeit mögliche Probeentnahme durch Bürgerinitiativen und Behörden. Einzig auf diesem Wege wäre wohl eine tatsächliche Kontrolle der Schadstoffe möglich. Doch natürlich ist dies gläserne Abflußrohr nur ein Weg zur Kenntlichmachung und zur Verhinderung der Schadstoffeinleitung. Es ist ein Negativ-Weg. Positive Wege müssen anders beschaffen sein, indem sie die mit der Produktion verbundenen Geheimnisse lüften.

Weiße Listen

Bislang existieren für einige Stoffe, die in unsere Gewässer eingeleitet werden, sog. Schwarze Listen. In diesen werden Chemikalien als wassergefährdend ausgewiesen und es wird versucht, ihre Einleitung zu verringern. Sinnvoller wäre es allerdings angesichts der immensen Zahl von Chemikalien, wenn diese Schwarzen durch Weiße Listen ersetzt würden zugleich bedeutete dies eine Demokratisierung von Entscheidungsprozessen.

Die Beweislast wäre dann umgekehrt: Bisher darf alles eingeleitet werden, von dem nicht nachgewiesen werden kann, daß es Schädigungen hervorruft. Stoffe, deren Schädlichkeit bekannt ist, dürfen bis zu bestimmten Grenzwerten eingeleitet werden. Wäre da nicht eine umgekehrte Vorgehensweise, die die Unternehmen verpflichtet positiv die Unschädlichkeit nachzuweisen, anstatt den Negativ Nachweis durch die Behörden durchführen zu lassen, angemessener? In kurzer Zeit würden Weiße Listen zu einer begrenzten Einleitung von Schadstoffen führen, letztendlich würden sie der Schadstoffemission einen Riegel vorschieben, denn der Nachweis der Unschädlichkeit dürfte keinem Unternehmen gelingen. Schadstoffemissionen im Wasser sind nur ein Bereich; generell müßte jeder, der Stoffe an die Umwelt abgibt, einen solchen Nachweis erbringen.

Die Macht der Behörde

Behörden verfügen über Wissen von Teilen der Produktion, von Teilen der Schadstoff-belastungen – die Daten, die sie gewinnen, dieses Wissen macht sie für Politiker nahezu unangreifbar. Auch, weil Umweltprobleme und Wege zu Ihrer Lösung immer komplizierter werden und Politiker oft über nur geringe Qualifikationsinteressen oder -mög-lichkeiten verfügen. Primär aber weil es den Behörden gelingt zu verschleiern, welche Informationen ihnen selbst noch nicht bekannt sind. Weil es gelingt, daß bei den Behörden vorhandene Informationen verschlüsselt sind, sodaß die eigentlich politisch Verantwortlichen zu ihnen keinen Zugang finden.

Ein Gesetz zur Informationsfreiheit wäre zunächst ein Gesetz für die verantwortlichen Politiker. Bei der Rheintour der »Beluga« mußten wir in Gesprächen mit verantwortlichen Politikern immer wieder deren Überraschung darüber feststellen, welch dringliche Umweltprobleme tatsächlich bestehen, aber auch die Verwunderung, hierüber nicht in Kenntnis gesetzt zu werden. Behörden selbst sind sehr gut in der Lage, Unkenntnis zu verschleiern und durch erhöhten Verwaltungsaufwand diese zu kaschieren – Politiker sehen sich ihnen hilflos ausgeliefert. Im Bereich des Umweltschutzes sind die Behörden die eigentlichen Machthaber; von ihrem guten Willen ist letztendlich abhängig, ob und welche politischen Entscheidungen getroffen werden – demokratisch nicht mehr kontrolliert.

Das Geheimnis von Produktionen, das Geheimnis der Schadstoffabgabe und -menge, das jahrelang (auch im Interesse der Politiker) bewahrt wurde, kehrt sich nun gegen die Politiker selbst. Angesichts des allgemeinen Umweltschutzinteresses, angesichts der Bürger, die immer wirkungsvollere Maßnahmen fordern, stellen die Behörden das eigentliche Hindernis zur Änderung der Situation dar; denn nicht wenige Politiker würden gerne und schnell anders handeln. Damit aber würden den Behörden in diesem Bereich die Macht aus den Händen genommen werden. Als Macht- und Datenträger sind sie auf kaum einem anderen Gebiet so schwer kontrollierbar wie im Umweltschutz. Hauptgrund hierfür ist auch der Selbstschutz der Behörden, denn die Weitergabe von Daten, wie auch eine kurze, schlüssige Information über ihren Wissensstand würde ihre relative Unwissenheit manifestieren und sie angreifbar machen.

Auf diese Weise findet Demokratie im Umweltschutz nicht statt. Nur in kleinen Häppchen wird den Politikern weitergegeben, was es an Umweltskandalen und Problemen gibt. Der Glykol-Skandal dokumentierte dies wieder einmal in aller Deutlichkeit: Es ist nicht allein böser Wille seitens der Behörden oder Herrschaftsinteresse, sondern ebenso die Angst vor Entlarvung der Inkompetenz. Die Zersplitterung und Aufgliederung, mangelnde Kooperation machen es möglich, diese Inkompetenz trefflich zu verschleiern.

Angst für alle?

Unfähigkeit, Probleme zu erkennen, Unfähigkeit sie zu verstehen, Unfähigkeit, ihre Dimensionen zu erfahren und zu vermitteln führen zu Angst – auch und gerade innerhalb der Behörden. Die Angst vor der bislang noch nicht entdeckten Chemikalie; die Angst vor neuen Schadstoffen im Grundwasser, im Fluß, im Meer. Aus der mangelnden und vorenthaltenen Einsicht in die Schadstoffemissionen resultiert zusätzliche Angst. Daß diese Angst sich auf die Politiker überträgt, die dem Behördenwissen (Nicht-Wissen) ausgeliefert sind, ist nur konsequent.

Bürgerinitiativen und -bewegungen forschen nach, sehen sich mit dieser Angst kon-frontiert, treffen auf die Unfähigkeit, in technische Prozesse Einblick zu gewinnen und mit ihnen umzugehen. Sie kommen auf den »Schadstoff des Monats«, fallen von einer Krebswarnung in die andere, haben letztlich Angst vor der chemischen Bedrohung. Dabei wäre diese diffuse Angst eigentlich unbegründet. Dann nämlich, würden die zuständigen Institutionen darauf verzichten, ständig zu behaupten, man hätte alles im Griff. Diese Illusion, das Unverständnis der Politiker und Behörden, all dies schürt die Angst in der Bevölkerung. Während einer Wassertagung der Rheinwasserwerke in Lindau schälte sich – als über Grenzwerte und die sinnvolle Aufarbeitung von Wasser diskutiert wurde – heraus, wie weit die Angst der Behörden reicht. Glaubensbekenntnisse wie »Unser Wasser ist das beste, man kann Wasser beruhigt trinken, auch wenn man nicht weiß, was alles drin ist« bestimmten das Gespräch. Weniger kam fachliche Kompetenz, denn die Angst, neue Schadstoffe zu finden zum Ausdruck.

Doch gerade diese Angst verhindert, daß Lösungen gesucht und gefunden werden. Sie verhindert, daß Menschen darangehen, nach den Ursachen der Bedrohung zu suchen. Angst vor einem allgemeinen und unbestimmten Ausgeliefertsein an mächtige Konzerne, an unfähige Behörden und unfähige Politiker treibt Menschen zur Resignation: »Was soll’s, wir werden eh‘ vergiftet. Man kann ja eigentlich gar nichts mehr essen, was sollen wir eigentlich tun? Man sollte auswandern.« All diese Formulierungen kamen uns während der Rheinfahrt auf der »Beluga« häufig zu Ohren.

Tatsächlich jedoch war auch festzustellen, daß sich eine ganze Menge ändern läßt, wenn Menschen den Mut dazu aufbringen, wenn die Hauptverursacher der Schäden beim Namen genannt werden, wenn deutlich wird, daß die Schadstoffeinleitung keine traurige Notwendigkeit, sondern eine vermeidbare Schädigung der Umwelt ist.
Eine Offenlegung dessen, was man weiß und vor allem auch dessen, was man nicht weiß, würde dazu führen, daß auch die Behörden insgesamt weniger Angst hätten. Warum ist es nicht möglich zu sagen: »Wir wissen tatsächlich nicht, was im Rhein alles vor sich geht. Aus unseren bisherigen Erfahrungen gehen wir davon aus, daß die Fremdstoffe zwar ein gesundheitliches Risiko bergen, daß dieses aber nicht so groß ist wie andere, beispielsweise der Straßenverkehr.« Dann müßten diese Risiken dargelegt werden, eingestanden werden, daß die Annahme, aus dem Rhein ließe sich unbedenklich Trinkwasser gewinnen, eine Vermutung, eine Hoffnung ist. Eine solch offene Darlegung, die konsequent auch die Bereiche des Nicht-Wissens und Hoffens einbezieht, würde weniger Angst auslösen als die bisherige Praxis des Geheimhaltens.

Angst nämlich hat zur Folge, daß wenige Menschen sich radikalisieren, daß aber ihre Mehrzahl resigniert. Daher sind die Geheimnisse in der Demokratie in mehrfacher Hinsicht schädlich: Menschen die Angst haben, handeln in der überwiegenden Mehrheit nicht qualifiziert, oft hindert die Angst sie daran, nach neuen Wegen zu suchen, neue Möglichkeiten zu erproben. Letztendlich verhindert auch sie eine ökologische Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Das Paradoxon tritt auf: Angst, entstanden durch Mißstände, Lebensmittelskandale, Bodenverschmutzung, Waldsterben, etc. führt dazu, daß diese Schädigungen der Umwelt Bestand behalten, daß keine Änderungen eintreten, mögliche technische Neuerungen nicht eingesetzt werden. Es ist dann nicht die Angst der einzelnen vor Ort, die solche Projekte behindert, sondern die der Behörden vor ihrer eigenen Minderqualifikation wie auch die der Politiker vor dem Ausgeliefert sein an eben diese Behörden.

Unter diesem Aspekt wäre Umweltschutz, der Kampf für bessere Umweltbedingungen ein Kampf gegen Windmühlen, gegen Mühlen von Behörden, gegen Mühlen, die nicht der Wind, sondern die Angst antreibt. Doch all das wird uns nicht aufhalten. Wir werden trotzdem und auch gerade deshalb Informationen offenlegen. Wir werden für einzelne Beispiele zeigen, was allgemein schon möglich ist. Wir haben nachgewiesen, daß es möglich ist, Dünnsäure aufzuarbeiten, daß es möglich ist, technische Prozesse in einer Art zu steuern, die die Umweltbelastung verringert, daß sie letztlich vermieden werden kann. Und dies in jedem Einzelfall zu zeigen schafft Kompetenz und auch Mut, tatsächlich andere Wege zu gehen.

»Wir haben wieder Mut, uns gegen Holtzmann zu wehren«, sagten uns die Leute in Karlsruhe als wir eine Aktion bei Holtzmann, einem der größten Rheinverschmutzer durch Zellstoffproduktion, durchführten. Und dies scheint mir wesentlich: Menschen müssen sich trauen, Geheimnisse über Daten der Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung offenzulegen und mit ihnen umzugehen. Wenn ihnen dieses gelingt, verlieren nicht nur sie, sondern zugleich auch die Behörden und Politiker ihre Angst vor immer neuen, immer schlimmeren Bedrohungen.

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