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Zur Novel­lie­rung des Bundes­ver­fas­sungs­schutz­ge­setzes

Dokumentation

aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S. 126-128

(vg) Am 12. September 1985 wandte sich Prof. Dr. jur. Jürgen Seifert im Namen der „Humanistischen Union“ in einem offene Brief an die MdB Gerhard Rudolf Baum und Burkhard Hirsch mit dem Vorschlag, angesichts der bevorstehenden Novellierung des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes eine öffentliche Anhörung durchzuführen, da „über die vorgesehenen Einschränkungen des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht in einem Geheimverfahren entschieden werden“ dürfe. Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Auszug aus dem offenen Brief. Der vollständige Wortlaut ist zu beziehen durch: Humanistische Union, Bräuhausstraße 2, 8000 München 2.

1. Behördenspezifische Regelungen statt bereichsspezifischer Datenschutz

In der Datenschutzdiskussion der vergangenen Jahre ebenso wie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1983 zum Volkszählungsurteil ist immer wieder ein bereichsspezifischer Datenschutz gefordert worden. Das bedeutet, daß bei jeder Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung der „Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt“ (BVerfGE 65, S. 46). Der Entwurf sieht von solchen bereichsspezifischen Regelungen ab. Bei der Datenspeicherung, -verarbeitung und -weitergabe wird nicht berücksichtigt, ob es sich um die Abwehr von Spionage und Terrorismus oder um die Sammlung von Informationen etc. über Bestrebungen handelt, „die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet sind bzw, um Bestrebungen, die „durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden“. „Extremisten, Terroristen und Spione“ werden gleichgesetzt (Begründung des Entwurfs zu § 7). Im Entwurf wird verkannt, daß der „Verwendungszweck“ der personenbezogenen Daten völlig anders ist, je nachdem, ob es sich um Spionageabwehr und Terrorismus handelt oder um den sogenannten Rechts- und Linksextremismus oder um die Anwendung von Gewalt außerhalb der Bundesrepublik („Ausländer-extremismus“). Der Entwurf regelt, an welche Stellen Daten weitergegeben werden dürfen: Behörden der Bundesrepublik, alliierte Behörden, zwischenstaatliche und überstaatliche Instanzen, „andere als öffentliche Stellen“ und ausländische öffentliche Stellen. Das bedeutet: Die vorgesehenen Regelungen schließen nicht aus, daß beispielsweise personenbezogene Daten über die Zugehörigkeit zu Vereinigungen, die als „verfassungsfeindlich“ eingestuft werden, an die Polizei oder an ausländische öffentliche Stellen (mit anderen Worten: an fremde Geheimdienste) weitergegeben werden können. Völlig unterschiedliche Bereiche werden über einen Kamm geschoren. Nicht der präzise Verwendungszweck ist bestimmend, sondern eine behördenspezifische Globalermächtigung. Der Entwurf verstößt damit gegen einen Kernsatz aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts.

2. Verstoß gegen das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit.

Das Bundesverfassungsgericht hat dargelegt, daß die Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung die „Voraussetzung und den Umfang der Beschränkung klar und für den Bürger erkennbar ergeben“ und dem „rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit“ entsprechen muß (BVerfGE 65, S. 44). Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat das präzisiert: „Es muß gesetzlich geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen Daten von der einen an die andere Stelle übermittelt werden dürfen. … Der Bürger muß durch das Gesetz Klarheit darüber haben, was mit seinen Daten geschieht“. An dieser Klarheit fehlt es im Entwurf. Der Entwurf legt nicht fest, welche personenbezogenen Daten an welche Behörden weitergegeben werden dürfen (und an welche nicht) und unter welchen Voraussetzungen das geschehen darf.

3. Verstöße gegen die „informationelle Gewaltentrennung“.

Das Bundesverfassungsgericht hat für die Datenerhebung, -verarbeitung und -weitergabe eine gesetzliche „konkrete Zweckbindung“ gefordert (BVerfGE 65, S. 47). Das Gericht sagt: „Angesichts der Gefahren der automatischen Datenverarbeitung ist ein – amtshilfefester – Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote erforderlich“ (ebd., S. 46). Der Gesetzgeber müsse für „organisatorische Vorkehrungen sorgen, welche die vorgesehene Zweckbindung garantieren“. In diesem Zusammenhang prägt das Bundesverfassungsgericht den Begriff „informationelle Gewaltentrennung“ (ebd., S. 69).

Der Vorentwurf verzichtet nicht nur völlig auf solche „organisatorischen Vorkehrungen“, sondern verkehrt die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „präzise“ bzw. „konkrete Zweckbindung“ mittels des unscharfen Begriffs der „Zweckvereinbarkeit“ ins Gegenteil. Das Bundesamt für Verfassungs schutz soll nach § 10 des Entwurfs personenbezogene Daten übermitteln können, „wenn dies zur Erfüllung seiner Aufgaben oder der Aufgaben der Empfängerbehörde erforderlich ist und der Empfänger die Daten für Aufgaben benötigt, die mit dem Zweck des Verfassungsschutzes vereinbar sind“. Hier geht es nicht mehr um die spezifischen und sehr unterschiedlichen, gesetzlich festgelegten Aufgaben des Verfassungsschutzes, sondern – von diesen spezifischen Aufgaben abgehoben – um „Zwecke des Verfassungsschutzes“. Faktisch bedeutet diese Bestimmung, daß das Bundesamt für Verfassungsschutz immer dann, wenn es dies für erforderlich hält, sich an jede Behörde des Bundes wenden kann, um dieser Behörde personenbezogene Daten als „Erkenntnisse“ über einen Bürger zu übermitteln. Die Voraussetzung, daß der „Emp-fänger die Daten für Aufgaben benötigt, die mit dem Zweck des Verfassungsschutzes vereinbar sind“, läßt sich immer konstruieren, zumal jeder Angehörige des öffentlichen Dienstes verpflichtet ist, jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten. Diese vorgesehene Formel deckt die gegenwärtige Praxis der Verfassungsschutzbehörden, fragwürdige „Erkenntnisse“ Einstellbehörden, der Polizei, Gerichten etc. hinter dem Rücken der Betroffenen mitzuteilen.

Diese generalklauselartige Ermächtigung – in Verbindung mit anderen Bestimmungen vor allem in § 10 – orientiert sich an der gegenwärtigen Praxis, nicht aber an den vom Bundesverfassungsgericht rechtlich verbindlich aufgestellten Kriterien. Nur selten wird ein Verstoß gegen die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts so offen zugegeben. So heißt es in der Begründung zu § 10: Mit diesem Begriff der „Zweckvereinbarkeit“ wird versucht, der durch das Bundesverfassungsgericht „angeregten Rechtsentwicklung“ – so ignoriert man ein Urteil, das Verwaltung, Gesetzgeber und Gerichte mit Gesetzeskraft bindet -„in einer für die Staatspraxis zuträglichen Weise Rechnung zu tragen“. Das Bundesverfassungsgericht fordert: „amtshilfefesten Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote“. Die Verfechter einer von der Verfassung abgelösten „Staatspraxis“ machen daraus: „Solange der Zweckbegriff selbst in Theorie und Praxis noch nicht hinreichend präzisiert ist, kann ein Rückgriff auf den Begriff der ‚Zweckidentität‘ nicht zu praktikablen Ergebnissen führen, da es in der Regel nicht mehrere Behörden gibt, die zu genau demselben Zwecke tätig werden, so daß im Ergebnis jegliche Datenweitergabe zwischen Behörden ausgeschlossen wäre. Eine solche Interpretation würde dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Gebot der Amtshilfe (Art. 35 Abs. 1 GG) nicht gerecht“ (Begründung zu § 10).
Die Verfasser des Vorentwurfes entziehen sich dem Rechtsgehorsam mit dem bekannten Hinweis auf eine angeblich mangelnde Praktikabilität der Auflagen des Bundesverfassungsgerichts.

4. Grundsätzliche Bedenken gegen die Datenübermittlung an ausländische öffentliche Stellen.

Der Vorentwurf sieht vor, daß personenbezogene Daten nicht nur an Behörden der Bundesrepublik übermittelt, sondern auch an ausländische öffentliche Stellen sowie an über- und zwischenstaatliche Stellen weitergegeben werden. Der zur Begründung dieses Paragraphen herangezogene Art. 35 Abs. 1 Grundgesetz (Amtshilfe) trägt eine solche Weitergabe von Daten nicht. Auch ist zu berücksichtigen, daß nach der Übermittlung personenbezogener Daten an ausländische öffentliche Stellen etc. deutsche Behörden keinen Einfluß mehr darauf haben, was mit diesen Daten geschieht. Berichtigungs-, Löschungs- und Sperrungsansprüche nach deutschem Recht können nach einer solchen Übermittlung nicht mehr durchgesetzt werden.
Der Vorentwurf bindet die Datenübermittlung an bestimmte Voraussetzungen. Diese greifen möglicherweise, soweit es um Spionageabwehr etc. geht, nicht aber bei Daten im Rahmen der Beobachtung des deutschen und ausländischen „Extremismus“. Die gesetzlich festgelegte Zweckbindung gebietet für einzelne Bereiche Weitergabesperren, für andere Bereiche Sonderregelungen für die Weitergabe. Nur durch bereichsspezifische Weitergabesperren kann ausgeschlossen werden, daß in das Ausland reisende Deutsche, daß in ihr Heimatland zurückkehrende Gastarbeiter, oder daß abgewiesene Asylbewerber gefährdet oder benachteiligt werden, weil das Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Abwägung den „Belangen“ des Amtes den Vorrang gegeben hat gegenüber den „schutzwürdigen Interessen des Betroffenen“. (…)

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