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Familie unter Verdacht

vorgängevorgänge 7811/1985Seite 85-94

Die wissenschaftliche Kolonisierung der Institution »Familie«

aus: vorgänge Nr.78 (Heft 6/1985), S.85-94

Die Familie steht als Institution seit langem unter Verdacht. Das die Familie verborgene Macht ausübe, privates Wissen und Fühlen pflege und ein undurchsichtiges Eigenleben führe, wird ihr im Zeichen einer nach Öffentlichkeit rufenden Aufklärung immer wieder vorgeworfen. Sie, die durch ihre traditionelle Rolle der Basis Sozialisation als Angelpunkt möglicher oder verhinderter gesellschaftlicher Veränderung gesehen wird, steht gerne im Mittelpunkt der Kritik.

Die moralischen Kontrolleure:
»Aufklärung« als wissenschaftliche Strategie der Normalisierung

Auch wenn sie oft als »Keimzelle des Staates« verstanden wird, muß dennoch klargestellt werden, daß sie eben nicht wie all die anderen Institutionen, von denen die klassische Aufklärung Öffentlichkeit forderte, der Sphäre des »Politischen«, der Sphäre des Staates zuzurechnen ist. Historisch war die patriarchalische Gewalt der Familien zwar das Modell der Staatsgewalt, doch über Jahrhunderte berührten sich die Handlungs-und Aufgabenfelder von Familien und Staat nur peripher. »Familie« war nie eine Unterstruktur des Staates, immer stand sie als Mikroorganisation des Alltagslebens an einem Gegenpol, was nicht bedeutet, daß es nicht ausgeprägte Beziehungen und Aufgabenverteilungen zwischen beiden gab: Ob es um Kriege, die Einführung neuer Ökonomien, um Pazifizierung im Inneren ging, immer mußte der Staat mit der Familie rechnen, mit ihr verhandeln, ihr Rechte zusprechen und Aufgaben zuteilen, die außerhalb seines Einflußbereiches lagen. Natürlich unterlag dieses Bündnis zwischen Staat und Familie einem zunehmenden Machtgefälle (Monopolisierung der Gewalt – vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Ffm 1978), aber nie war die Familie letztlich durch den Staat und seine Verwaltung zu ersetzen und sie ist es offensichtlich bis heute nicht. (Jedes Modell, das dies versuchte, hat einen so offensichtlich repressiven Charakter gezeigt, daß es hierfür kaum Legitimation gefunden hat. Zu deutlich wurde, daß die nivellierenden und gleichförmigen Zuschreibungen und Codes staatlicher Verwaltung den Besonderheiten, die die Sozialisation zumindest des Kleinkindes erfordert, nicht gerecht werden können.)

Eine Wende erfuhr die Bündnis Beziehung zwischen Staat und Familie erst, als mit Beginn der industriellen Revolution die Sphäre der klassischen Politik sich auszuweiten begann, das Soziale ein politischer Faktor wurde. Die »Soziale Frage« rückte die Familie in den Bannkreis der Politik: von ihr wollte man plötzlich Genaueres wissen; nicht nur ob und wieviele Kinder sie aufzog, sondern wie sie sie erzog, welche ausbildungsmäßigen, hygienischen und disziplinarischen Bedingungen sie für sie schaffte, etc. Hier hat die Forderung nach Öffentlichkeit der Familie ihren historisch logischen Ausgangspunkt: sie wurde vom Staat gestellt, und ihr Ziel war nicht die Aufdeckung geheimer Machtstrukturen, sondern die soziale Kontrolle angesichts immer differenzierterer Anforderungen an die Erziehung der Kinder. Aufklärung hatte hier nicht (oder erst im Nachhinein so interpretiert) den Sinn der Entmystifizierung von Herrschaft als Bewegung »von unten«, sondern den militärischen – oder besser: polizeilichen  Sinn einer Strategie »von oben«.

Sicher läßt sich die Geschichte der Familienpolitik, die damals begann, nicht ausschließlich als Geschichte einer politischen Verwaltung beschreiben. Ausschlaggebender waren hier sicher die späteren »Policey-Wissenschaften«, die den fürsorgerischen, verwaltenden und kontrollierenden Aspekt unter einer Art Vorform der Sozialwissenschaften vereinten.

Gestützt auf die Vorarbeit von Theologen, Ärzten und Lehrern konnte sich (und dies konfligierte nicht selten mit der Tagespolitik) ein Netz von wissenschaftlichen Strategien und Bemühungen um die Familie herum installieren, das in seinen beiden hauptsächlichen Bezugssystemen, nämlich der Justiz und der Psychiatrie ein normatives Paradigma entfaltete. Vormundschaftsgesetze und Schulpflicht sind im 19. Jhdt. das Resultat dieser Anstrengungen. Zum ersten Mal gewinnt der Staat zwei einschneidende juristische Möglichkeiten, die Familie zu kontrollieren. Neben vielfältigen Wohlfahrtsinstitutionen, die das Elend und die Zerrissenheit der Bevölkerung (und der Familien) in den Anfängen der Industrialisierung aufzufangen und zu strukturieren versuchen, wird das Heim (das Waisenhaus, das Fürsorgeheim) zum drohenden Gegenbild der Familie. In einer Zeit der Deterritorialisierung und Auflösung alter Bande und Lebenswelten, versuchen Pädagogen, Ärzte, Juristen und Fürsorgebeamte die entwurzelte und nur den Gesetzen des Verkaufs der Arbeitskraft gehorchende Bevölkerung in ein Gefüge neuer moralischer Ordnung zu zwängen. Vereinfacht gesprochen wurde den Eltern und Kindern die Alternative gestellt, entweder wieder als Familie zu funktionieren oder aber in den Heimen der Wohlfahrtspflege, in Irren und Zuchthäusern ein Asyl Dasein zu führen. (Der philantropische Gesichtspunkt, unter dem diese Maßnahmen vollzogen wurden, verstellt leicht den Blick für die gesellschaftlich strategische Bedeutung dieser aufkommenden Wohlfahrtspflege.)

Diese moralische und normalisierende »Instandsetzung« der Familie richtete sich im Kern auf eine ungebundene, freiflottierende Sexualität: das Bandenleben von Kindern, Kinderprostitution etc. Es galt, die Sexualität als Verkehrsform wieder in den Rahmen der Familie und deren Muster von Erlaubtem und Verbotenem einzuordnen, denn nur hier war sie bevölkerungspolitisch regulierbar, im Hinblick auf eine adäquate Erziehung kontrollierbar und im Zweifelsfall als pervers disqualifizierbar (Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Ffm 1977 – Foucault zeigt deutlich, wie stark die Überwachung jeglicher Sexualität in der Familie, die außerhalb des elterlichen Schlafzimmers sich auch nur andeutete, weniger zu ihrer Unterdrückung, als vielmehr zu ihrer positiven Beschreibung, zum »zur Sprache bringen«, zur Einrichtung eines wissenschaftlichen Diskurses diente). Spätestens mit Sigmund Freud bestätigte sich der Verdacht, wurde das »Geheimnis der Familie« gelüftet, wenn auch in einer gänzlich veränderten, symbolischen Deutung: Die sexualisierte Familie, in der das Kleinkind als »polymorph pervers« bezeichnet wird, bildet in der Strukturierung und Sublimierung sexueller Wünsche eine erwachsene Ich Struktur heraus. Die rationale Erklärung, die zugleich das Geheimnis der Sexualität und der Sozialisation in der Familie auflöste, führte den Wissenschaftler in die Familie ein. Beobachteten die Psychiater und Juristen, die Vertreter der alten Kontroll Strategie, die Familie noch vom festen Boden ihrer Institutionen und Asyle immer bereit, die Familien tatsächlich auseinanderzunehmen, so steht jetzt der Experte im Schlafzimmer der Familie und dringt bis in die Träume vor, immer bereit zu analysieren, aber mit dem Ziel, die Familie in ihren affektiven Beziehungen neu zusammenzusetzen. Der rationale wissenschaftliche Diskurs hatte den Zugang zum Kernbereich der Familie geschafft und ihre Mitglieder seine Sprache gelehrt.

Das Geheimnis der Familie – eine Vorstellung, die Generationen von Roman-Autoren bis hin zu Thomas Mann ernähren konnte – endete auf der Couch des Psychoanalytikers; es hatte seinen »Zweck« erfüllt: der Anreiz wissenschaftlicher Neugier hatte zu einer wissenschaftlichen Durchdringung der Familie geführt. Über den Weg einer Um-zingelung, Beschwörung, Verheimlichung und Hervorrufung durch Ärzte, Theologen und Erzieher (man muß die wissenschaftlichen Werke der damaligen Zeit lesen, um zu verstehen mit welcher Akribie und welch ungeahnten Projektionen die Hüter einer wenn auch fortschrittlichen Moral der Familie alles zutrauten) wurde das Geheimnis der Familie gelüftet: Es hieß Ödipus und war symbolischer Natur.

Die anstrengenden Helfer:
Die Intensivierung der Anforderungen im Code der psychosozialen Intervention

Aus der heiligen (und gleichzeitig schuldbeladenen) Familie wird die Familie als psychosoziale Institution (Talcott Parsons hat Freuds Begriffe in einen funktionalistischen Code übersetzt und damit zumindest den Anspruch einer funktionalistischen Erklärung elterlichen und kindlichen Verhaltens in Hinsicht auf die gesellschaftlichen Anforde-rungen erhoben – Vgl. T. Parsons: Beiträge zur Soziologischen Theorie, Berlin 1964, 5. 109 ff.). Und so folgten der Speerspitze der Psychoanalyse in einer gewissen Zwangsläufigkeit all die neue Spezialisten, die den Code der Anforderungen als kommunikativen Prozeß in die Familie integrierten und das familiale Feld in der Breite bearbeiteten. Die neuen Schlagworte waren: Integration statt Segregation, Unterstützung statt Schuldzuweisung, Hilfe zur Selbsthilfe statt Entmündigung, Emanzipation statt Fremdbestimmung. Doch das neue Paradigma ermöglicht nicht nur eine Anpassung der Familie an neue (humanere) Wertigkeiten, sondern vor allem auch eine Intensivierung des »Zugriffs« auf die Familien im Zeichen geforderter Funktionalität: »Wie kann man der Familie einen Teil ihrer alten Macht abnehmen, ohne sie deswegen so weit auszuschalten, daß man ihr keine neuen Erziehungs- und Gesunderhaltungsaufgaben übertragen kann?« (Jacques Donzelot: Die Ordnung der Familie, Ffm 1980, S. 209). Für diese Strategie sind die psychiatrischen und juristischen Interventionstaktiken ungeeignet: immer war ihr strafender bzw. ausgrenzender und isolierender Eingriff derart bestimmend, daß die Familie als Funktionsträger unbrauchbar – weil zerrissen – wurde, daß ihre Mitglieder als Insassen von Anstalten keine produktive Rolle mehr spielen konnten. Fast völlig fehlte die Rückkopplung der Intervention an die Normalisierung. Mit Hilfe des neuen Paradigmas mußte man sich nicht mehr auf mühevolle und oft ergebnislose Resozialisierungsmaßnahmen verlassen. Vielmehr konnte man unmittelbar in der Familie prophylaktisch (und aus der Prophylaxe wurde System) die Eltern sozialisieren. Nur dieses Vorgehen – in den Familien und mit den Familien zu arbeiten – konnte dem ungeheuren Wandel der Werte und den Ansprüchen an differenzierte Entwicklung vor allem in der Kindererziehung gerecht werden. Die »Feinarbeit der Sozialisation« (Negt/Kluge) benötigt die Nähe, die die neuen psychosozialwissenschaftlichen Strategien ermöglichten, indem sie die »Problemdefinition« in – man muß schon sagen: raffinierter Art und Weise gleichzeitig monopolisieren und anonymisieren.

Ein beliebiges Beispiel:

Dem Hilferuf einer ratlosen Mutter bei der Erziehungsberatung folgt in der Regel ein Fragestellen und Durchleuchten der familialen Situation, die die Spezifik und Pragmatik des Hilferufes bei weitem überschreitet. Mit der unzweifelbar guten Absicht, das Übel bei der Wurzel zu packen, wird – mit » non-direktiver Beratung« versteht sich – die ganze Familien-, Erziehungs- und Beziehungsgeschichte und Struktur zur Sprache, ans Licht der (Experten-)Öffentlichkeit und in den Zusammenhang zum ursprünglichen Hilferuf gebracht. Plötzlich steht alles zur Debatte und zwar in einer Sprache, die genauestens erklären kann, warum die Erwartungshaltungen der Eltern an ihr Kind zu groß sind, nicht aber wie man verhindert, daß die Milch auf dem Ofen anbrennt, wenn man gleichzeitig die Schulaufgaben seines Kindes überwachen soll.

Dies mag banal klingen, aber die Gefahr der »hautnahen« Intervention besteht gerade darin, daß sie die Familien überfordert und zwar derart stark, daß jegliche Handlungsautonomie unmöglich wird und Orientierungsmuster für die Bewältigung der vielfältigen familialen Aufgaben (Reproduktion, emotionale Kompensation, Organisation des Freizeit-Alltags etc.) unter dem Legitimationsdruck von Experten- und Medienöffentlichkeit zusammenbrechen. Ihres historischen sozialen Netzes und ihres traditionellen Familien-wissens beraubt, steht die Familie den Anforderungen seitens der »Gesellschaft« sozusagen ohne Rückendeckung gegenüber:

Von der Familie wird in zunehmendem Maße verlangt, ein soziales Feld zu konstituieren, in dem sich gesellschaftliche Bilder des Glücks, der Befriedigung, der Zufriedenheit abbilden lassen, quasi als Projektionsleinwand des Glücks, das diese Gesellschaft verspricht: subjektiver Lebenssinn. Dazu ist/wäre notwendig, daß die Familie als Gruppe funktionsfähig ist, d.h. die von der Familie erwartete Intimität ist wohl nur möglich, wenn die Familie ein Netz personaler alltäglicher Beziehungen darstellt, das weit über den engen Rollenhorizont sonstiger spezieller sozialer Beziehungen (Liebe, Beruf, Freizeit) hinausgehen muß, wenn es seiner integrativen Funktion gerecht werden soll. Zudem wird von der Familie aber auch die Erfüllung eines institutionellen Auftrags erwartet: die Sozialisation bzw. Erziehung des Kindes. Dieser Auftrag, diese Funktion unterstellt, daß die Familie nicht nur eine Gruppe, eine Solidargemeinschaft ist, sondern eine soziale Institution, die in der Lage ist, einen gesellschaftlichen Code (Anforderungen an einen sozialisierten Menschen) zu lesen, zu interpretieren, in Handlungsschritten zu organisieren und seine Reproduktion am eigenen Kind zu kontrollieren. Diese doppelte Anforderung an die Familie, einerseits solidarische Kleingruppe zu sein (Reproduktion, Bewältigung des Alltags, Träger einer personalen Glücksidee, psychische Entspannung durch Beziehung – Integrationsfunktion) und andererseits eine funktionierende Institution (Erziehung – Sozialisationsfunktion) zu bilden, wird tendenziell ad absurdum geführt, wenn gleichzeitig die Ressourcen der Familie geschmälert bzw. von der Gesellschaft aufgesogen werden:

1. Vor allem in sog. Unterschichtfamilien ist durch zunehmende Verknappung des Geldes, des Wohnraums und der Zeit eine Situation geschaffen, in der sie zur Bewältigung der an sie gestellten Anforderungen die Ökonomie der Kräfte und Energien nicht mehr adäquat organisieren können: Eine systematische Überforderung ist die Folge.

2. Als Ressource muß aber auch das sog. »Familienwissen«, der Bestand an historisch gewachsenem Alltagswissen verstanden werden, der sozusagen die »Weisheit« einer Familie begründete. Dieser Wissensbestand, der auch eine relativ autonome lebens-weltliche Perspektive bedeutete, familiale Sinnkohärenz ermöglichte, ist dysfunktional geworden, kann mit der industriell organisierten Wissensproduktion der Gesellschaft als Ganzem nicht mehr Schritt halten. Die Folge ist ein Einbruch des gesellschaftlich organisierten Wissens in die Familie, deren Sinnressourcen (Routinewissen) fragwürdig geworden sind. Nun ist aber das in den Wissenschaften organisierte Spezialwissen (z.B. zur Kindererziehung) nicht in der Lage, der Familie zu einer neuen Routine zu verhelfen, ihr Handlungsorientierungen zu geben, da die Familie sich nicht als ausschließlich professionelle Instanz (z.B. der Kindererziehung) etablieren kann, da sie ja eine integrative Funktion hat, in der dieses Spezialwissen nicht absorbierbar ist. Das Resultat, so läßt sich thesenartig darstellen, ist eine »Verdünnung« der Decke der Normalität, der Selbstverständlichkeiten, durch die immer öfter die »Zerbrechlichkeit« des Ganzen sichtbar wird. Diese tendenzielle Situation des Zweifels, die bis an die Wurzeln der Realitätsdefinition reicht, wird noch verschärft durch den »Import« von wissenschaft-lichen Sinn-Fragmenten, die ein unablässiges Umdefinieren und Neuorientieren erfordern.

Einerseits erwartet man eine Kompensation gesellschaftlicher Defizite durch die Familie, andererseits stellt man sie ganz unter das Diktat der Werte dieser Gesellschaft. Und diese Werte sind alles andere als homogen; die größten Widersprüchlichkeiten werden an die Eltern herangetragen: »Es ist verboten, daß Kind zu beunruhigen, sagten ihnen die Psychologen. Passen Sie auf, daß es nicht einschläft, antworteten die Lehrer. Es ist ängstlich, deshalb arbeitet es schlecht, bemerkte der Kinderarzt. Die Eltern senkten den Kopf: wenn das Kind ängstlich wird, so ist das ihre Schuld. Es ist nicht motiviert, entdeckten die Soziologen. Nicht motiviert, die Eltern erschraken: sie hatten versagt. Ließ sich das noch wiedergutmachen? Machen Sie ihm keine Angst, sagte man ihnen. Machen Sie ihm klar, daß das Leben ein Kampf ist, hieß es als nächstes. Schützen Sie es, befahl man. Setzen Sie es der Gefahr aus, sonst verdammen Sie es zum Schürzenzipfel. Verbot es zu umhegen. Verbot es zu traumatisieren. Verbot, die eigenen Träume von früher auf das Kind zu projizieren. Verbot, es sich selbst zu überlassen. Verbot, sich um es zu kümmern«. (Vitia Hessel, Le temps des parents; zit: n. Donzelot, a.a.O.)

Die Flucht nach innen:
Krisenmanagement im Familienalltag

Wen wundert es, daß die Familien angesichts dieser Forderungen eine Flucht nach innen antreten, das Bild der heilen Familie in einer verklärten Idylle suchen. Es ist nicht der nostalgische Anachronismus einer kleinbürgerlichen Scheinwelt, der die Familien in ihre Isolation zieht, sondern die Konsequenz immer höherer, immer widersprüchlicherer Erwartungen an die Familie. Für sie besteht die einzige Überlebenschance darin, sich eine relative Autonomie zu bewahren bzw. alltäglich von neuem zu erkämpfen; diese ist Bedingung dafür, daß die Familie – wie im Prinzip jede andere soziale Gruppe – die an sie gerichteten Erwartungen und Normen in einer einigermaßen stabilen, familienspezifischen Art und Weise zu resorbieren und in eigene Handlungsorientierungen zu übersetzen in der Lage ist.

Der Rückzug auf sich selbst bietet den Familien allerdings keine Perspektiven, er ist allein von einer kämpferischen Haltung geprägt, denn ihre Identität ist zerbrechlich geworden. So fließen alle Anstrengungen und Energien in die Organisation und perspektivische Aufrechterhaltung einer Lebenswelt, deren Horizont oft an der Wohnungstür einer Drei-Zimmer-Sozialbauwohnung endet. Je größer der Legitimations- und Handlungsdruck von außen, desto dichter muß die Familie quasi zusammenrücken, versuchen, die ganze Vielfalt und Widersprüchlichkeit der an sie gerichteten Erwartungen noch in ein Krisenmanagement der Alltagsbewältigung zu integrieren. In einem täglichen Kleinkampf muß Normalität produziert werden, obwohl es für die Familien immer schwieriger wird, den Normen der Gesellschaft einen eigenproduktiven Anteil, eine ihr gemäße Verarbeitung, eine auf ihre Spezifik gerichtete Interpretation dieser Normen beizusteuern: »Pathogen also die Familie, die den äußeren Normen Widerstand leistet, pathogen aber auch die, die es versäumt« (Donzelot, S. 237). Doch diese Ambivalenz ist keine neutrale mehr, Entscheidungsraum bleibt wenig, und die Tendenz hat eine Eigendynamik bekommen: Auf der Flucht vor der Gesellschaft und ihrer Instanzen bzw. auf der Flucht vor der Psychose kapselt sich die Familie in einen Binnenraum, überfrachtet ihre Beziehungen und produziert Neurosen.

Letztlich ist die Isolation der Familie auch für die Gesellschaft eine äußerst funktionale Angelegenheit: Alle Konflikte, alles Aufbegehren, alle Suche nach authentischem Leben hat seinen gesellschaftlichen Ort heute in der Familie: Ob midlife-crisis oder Gene-rationskonflikt, ob Aggressionsabfuhr oder Sexualitätsprobleme – alles wird in der Familie ausgetragen, scheint dort seinen natürlichen Ort zu haben. Diese geballte Ladung an Konfliktstoff und -energie – würde sie etwa bei einem Zusammenbrechen der Familie auf den öffentlichen »Sozial-Markt« geworfen – könnte heute kaum noch eine Gesellschaft verkraften, sei sie auch noch so sozialstaatlich organisiert.

Das konservative Familienbild der heilen, privaten Familie ist so gesehen nichts weiter als die ideologische Verbrämung dieser Abstoßung gesellschaftlicher Konfliktbereiche in das Feld der familialen Privatsphäre: Unter der freiheitlichen – scheinbar die Familie in ihrer Autonomiebestrebung unterstützenden – Parole »Weniger Staat!« werden ihr Aufgaben, wie das Auffangen beruflicher Schwierigkeiten, psychischer Spannungsausgleich, Erholungsangebote, etc., aufgebürdet. Für die Familien selbst jedoch dreht diese Ideologie der heilen Familienwelt die Schraube der Anspannungen noch einige Umdrehungen weiter. Nicht nur, daß sie Aufgaben übernehmen muß, von denen man bezweifeln kann, ob sie sie alleine zu tragen in der Lage ist, sondern die Eltern müssen auch täglich die gesellschaftlich vorgegebenen Werte und Grundregeln der Familie zur Zielvorgabe ihres Handelns machen. Jede Mutter tut, »was ihr gesellschaftlich so nahegelegt ist: Sie macht Gebrauch von den allgemeinen normativen Bildern über Orte der Erfüllung. Ehe und Familie sind die institutionalisierten Orte der Erfüllung schlechthin«. (Lerke Gravenhorst: Die ambivalente Bedeutung von »Familie« in den Biographien von Mädchen und Müttern, München 1982, S. 24)

Die jeder Mutter präsente Idealvorstellung einer »wahren Gemeinschaft« der Familie verbietet es ihr geradezu, überhaupt »Probleme zu haben«, geschweige denn diese zuzugestehen und zu veröffentlichen. Die Angst vor Stigmatisierungen ist nicht irreal. Dieses Verbot, »Dampf abzulassen« sowie der sozial geforderte und von den Familien sich selbst auferlegte Druck, Unbefriedigtsein, Nichterfüllung und widrige Realität in das Korsett der Normalität zu zwängen, schaffen für sich alleine schon eine Situation, die man als implosiv kennzeichnen muß. Gewaltakte werden oft zur einzig noch als möglich angesehenen Handlungsweise in einer als ausweglos erlebten Situation.

Tod der Familie oder Tod in der Familie?
Gibt es einen dritten Weg?

So weisen fast täglich Skandalberichte und in der Presse veröffentlichte Statistiken auf Ungeheuerlichkeiten hin: Kindesmißhandlungen und -vernachlässigungen, verprügelte und vergewaltigte Ehefrauen, »sexueller Mißbrauch« von Kindern. Immer deutlicher wird in letzter Zeit, daß es sich hierbei nicht um eine Ausnahmeerscheinung pathologie-verdächtiger Randgruppen oder sozial deklassierter Bevölkerungsschichten handelt, auch wenn hier die soziale Auffälligkeit eher zu Interventionen führt (was dann ein statistisches Zerrbild ergibt).

Sicher, Gewalt in der Familie hat es immer gegeben (Vgl. Gisela Zenz: Kindesmißhandlung und Kindesrechte, Ffm 1981, S. 19 ff.), doch immer war diese Gewalt in ein religiös-rituelles Muster oder in einen Code der Disziplinierung eingebunden, war in einer Legalität fundiert, die darauf beruht, daß der Staat Anteile seines Gewaltmonopols an die Familie delegierte. Die Gewalt, die heute als Mißhandlung in der Familie sichtbar und zur Sprache gebracht wird, hat kaum noch Halt in einem legalen Prinzip. Sie ist impulsiv, eruptiv und affektiv, auch wenn manche Eltern sich immer noch auf ihr Züchtigungsrecht berufen. Ich will mich an dieser Stelle nicht mit der Ursachenforschung von Kindesmißhandlung auseinandersetzen, doch eines scheint deutlich zu sein: Es gibt in den Familien eine neue (unabhängig von den veralteten Codes disziplinarischer Maßnahmen) Form der Gewalt, die außerhalb jeder Legitimation steht, die ganz an den Pol des Affektiven gekettet ist und die letztlich niemand will (auch die Eltern nicht). Der neue Verdacht der Gewalt, dem die Familie ausgesetzt ist, beginnt seit einigen Jahren Wogen zu schlagen. Sollte sich herausstellen, daß Sexualität außerhalb des Ehebettes nicht nur symbolisch, sondern als reale Vergewaltigung eine Rolle spielt, daß die ganze kolonisatorische Feinarbeit der sozialen Instanzen Gewalt als Wesensmerkmal von Familie wenn nicht hervorgerufen, so doch völlig übersehen hat, so kann dies leicht zur Folge haben, daß die »alten« segregierenden und strafenden Strategien von Psychiatrie und Justiz wieder aufleben (Sie sind inzwischen mit dem Code des Sozialen und dem Code des Psychischen gerüstet und wären durchaus in der Lage, ein inzwischen feingesponnenes Netz von Differenzierungen zu weben). Doch noch(?) scheinen die »neuen« sozialwissenschaftlich und therapeutisch orientierten Strategien das Feld des Kinder- und Mutterschutzes zu besetzen, indem sie das Schuldprinzip zugunsten eines Prinzips der Kommunikation und Beziehung in den Hintergrund zu drängen versuchen.

Beiden Strategien gemeinsam ist jedoch der neue Verdacht, die neue Inszenierung von Ungeheuerlichkeiten zur Legitimation ihrer Maßnahmen: In öffentlichen Aufrufen wird die Bevölkerung angehalten, auf anhaltendes Schreien in Nachbarwohnungen zu achten, Sozial-Polizei zu spielen. Jugendämter versichern, auch anonymen Anzeigen nachzugehen, und Therapeuten wetteifern mit Staatsanwälten um die effektivere Art der Intervention. Die Gefahr, daß neue Anforderungs- und Legitimationskriterien an die Familie generell herangetragen werden, daß sich die Spirale von Intervention und Zuschreibung einerseits und von Rückzugstendenzen und Orientierungslosigkeit anderer-seits noch um eine Windung weiter dreht, sollte nicht übersehen werden.

Vor zehn Jahren etwa wurde viel vom Tod der Familie gesprochen (dies war eine politische Diskussion über Faschismus, Autorität und Zwangscharakter), heute besteht die Gefahr, daß die Familie als Institution (sicher nicht die einzelne Familie) unter einem ungeheueren gesellschaftlichen Druck, aber auch durch den »Anpassungszwang« an entpolitisierte soziale Interventionsinstanzen (die zu einem nicht geringen Teil von den damaligen Diskutanten in professioneller Sachkenntnis vertreten werden) zu Tode kommt. Es geht mir nicht darum, Verschwörungstheorien aufzubauen, sondern die Ironie von self-fullfilling prophecies aufzuzeigen – und darum, familienpolitische Überlegungen anzuregen, die den Horizont von Psycho- und Sozialspezialisten ein wenig überschreiten. Eine Familienpolitik, die einen pointierten dritten Weg zwischen nostalgischem Konser-vativismus und therapeutischer Pädagogisierung gehen will, muß sowohl Abstand von der ldeologie der Familie als glücklicher ldylle nehmen als auch vom Mythos, daß dieses Glück qua therapeutischer Intervention und Elternschule organisierbar sei. Bevor man mit neuen Ansprüchen an die Familie herantritt, muß ihr Gelegenheit gegeben werden, die fundamentalen Veränderungen in der innerfamilialen Rollenverteilung, in den Sozialisationsanforderungen, in ihrer Beziehungsdynamik und elterlichen Verantwortlichkeit nicht nur bruchstückhaft zu rezipieren, sondern in eine familiale Perspektive zu integrieren, die die Herstellung von Handlungsorientierung erlaubt. Nur in einer relativen Autonomie kann die Familie ein nicht nur an Krisen orientiertes Selbstverständnis gewinnen. Es geht nicht darum, die wissenschaftlich-therapeutische Sphäre einfach von den Familien zurückzuziehen und diese ihrem Schicksal zu überlassen, sondern darum, die Familie in die Lage zu versetzen, die Zuschreibungen und Codes dieser Sphäre produktiv für sich zu wenden und zu resorbieren. Wenn aber diese relative Autonomie weder vom einfachen Rückzug des Staates/der Wissenschaft von der Familie noch in der Verstärkung des therapeutischen Netzes und pädagogischen Anspruchs um die Familie erreicht werden kann, müssen sozialpolitisch zumindest die Bedingungen dafür gesetzt werden, daß die Familie selbst sich in Gemeinschaft mit anderen qua Selbsthilfe diese Autonomie organisieren kann.

Natürlich kann man sich fragen, ob denn diese Familie überhaupt noch eine Chance hat, aber wenn es darum geht die Familie zu unterstützen (und davon reden alle!), muß man sich eben überlegen, wie man ihr überhaupt noch helfen kann. Noch Anfang der siebziger Jahre gab es eine hitzige Debatte um alternative Lebensformen, die in Deutschland schlichtweg eingeschlafen ist; Allenfalls als therapeutisches Konzept ist die Wohngemeinschaft eine Alternative zum Asyl geworden. Wenn ich idealisierend weiter denke, liegt die einzige Chance der Familie darin, diese Diskussion wieder aufzugreifen, nicht mit dem Ziel eine emphatische Alternative wieder aufleben zu lassen, sondern um zu überlegen, ob und wie die Familie in eine »community« integrierbar wäre. (Hier gibt es Modellversuche – auch gescheiterte -, Fehler und Ansatzpunkte für eine aktualisierte Diskussion). Eine These: Nur ein Zusammenschluß von mehreren Familien in größeren »communities« böte die Chance, daß

  • durch differenziertere Arbeitsteilung die momentane Überfrachtung der Kleinfamilie abgebaut wird;
  • die Familie in ihren Problematiken sich der »community« gegenüber öffnet, ohne den Stigmatisierungsprozessen öffentlicher Instanzen ausgesetzt zu sein;
  • die »community« eine Art Filter zwischen den Zuschreibungen der staatlichen/ wissenschaftlichen Sphäre und den einzelnen Familien bildet;
  • die »Community« einen eigenen Code entwickelt, der sich stärker an der komplexen Alltagssituation der Familien orientieren würde als an fragmentarischen Anforderungen.

Eine idealistische These? Sicherlich! Doch sprechen einige Anzeichen dafür, daß sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Veränderungen anbahnen, für die die »community« eine geeignete Lösungsmöglichkeit wäre:

  • das kostenmäßig aufgeblähte Gesundheitswesen droht zu kollabieren; das System der Rentenversicherung qua Generationenvertrag ist bereits dabei. Es ist durchaus denkbar, daß die Entwicklung von Solidargemeinschaften das System der staatlichen Versicherung teilweise abzulösen in der Lage ist.
  • die wohl strukturelle Arbeitslosigkeit stellt neben dem Problem der Umverteilung von Geldern das Problem der Integration von sinnvoller Betätigung, von freigesetzten Arbeitskräften in neue Arbeits- (und Lebens-)zusammenhänge (die böten sich in selbst-verwalteten »communities«!).

Dies kann im Moment nicht mehr als ein Denkanstoß sein. Das Weiterdenken allerdings darf man sich wohl nicht von den familientherapeutischen Profis erwarten.

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