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“Analyse, Kritik und Wünsch­bar­kei­ten”

zu Otto Kirchheimer

aus: vorgänge Nr.78, (Heft 6/1985), S. 8-10

In diesem Monat veranstaltet der Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin ein internationales Symposion anläßlich des achtzigsten Geburtstages Otto Kirchheimers, die Themenstellung der Arbeitsgruppen umreißt das breite Spektrum seines Wirkens und bietet zugleich den Leitfaden für einen kurzen Rückblick: »Konstituierung, Entwicklung und Niedergang der Weimarer Verfassung«; »Souveränität und Pluralismus in Faschismus und Demokratie«, »Politische Justiz und Staatsschutz im demokratischen Staat«, »Parteiensystem und Parlamentarismus im europäischen Vergleich«.

Otto Kirchheimer wurde am 11. November 1905 in Heilbronn geboren. In Münster studierte er Philosophie und Geschichte und widmete sich anschließend an den Universitäten Köln, Berlin und Bonn den Rechtswissenschaften. Zu seinen Lehrern zählten Karl Vorländer, Max Scheler, Hermann Heller, Rudolf Smend und Carl Schmitt. 1928 verfaßte er bei Carl Schmitt in Bonn seine juristische Dissertation »Zur Staatstheorie des Sozialismus und Bolschewismus«. Während des folgenden Referendariats arbeitete er u.a. bei Franz L. Neumann, absolvierte 1932 das Assessorexamen und ließ sich in Berlin als Rechtsanwalt nieder.

Doch bereits im folgenden Jahr sah sich der Jude und Sozialist gezwungen, nach Paris zu emigrieren, wo er 1934 Mitarbeiter an der Zweigstelle des »Instituts für Sozialforschung« wurde. 1937 siedelte er nach New York über und arbeitete bis 1942 im Zentralbüro des Instituts, danach im US-Außenministerium. Von 1955 bis 1962 lehrte er als Professor an der New School for Social Research, von 1962 bis zu seinem Tode 1965 als Professor für Public Law and Government an der Columbla University.

Vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wirkte Kirchheimer politisch innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und wurde ihrem linken Flügel zugerechnet. Er engagierte sich bei den Jungsozialisten, publizierte in sozialdemokratischen sowie wissenschaftlichen und arbeitsrechtlichen Zeitschriften. In seiner wohl bedeutendsten Schrift dieser Zeit, »Weimar – und was dann?« (1930), kritisiert er die Weimarer Verfassung als »Verfassung ohne Entscheidung«, die unvereinbare Wert-systeme nebeneinander stelle: Zum einen garantiere sie das Privateigentum und sanktioniere die Machtposition des Bürgertums durch Übernahme von Verfassungs- normen des 19. Jahrhunderts, zum anderen lasse sie die Überführung von Produktionsmitteln in Gemeineigentum zu und trage im sozialen Grundrechtsteil den Ansprüchen der Arbeiterklasse Rechnung . Praxisrelevant jedoch sei die bürgerliche Komponente, die sich – auch im Zuge der Rechtsprechung – vermehrt als »Bollwerk des Kapitalismus« erweise. Daß diese Interpretation die Kritik anderer Sozialdemokraten heraufbeschwor, ist kaum erstaunlich. So erwiderte beispielsweise Franz Neumann, der Titel der Arbeit ähnele stark kommunistischen Gedankengängen, und die Antwort auf die aufgeworfene Frage könne einzig lauten: »Erst einmal Weimar!«

Obwohl Kirchheimers Arbeiten zur politischen und rechtlichen Ordnung des National-sozialismus noch immer von – nicht allein wissenschaftlichem – Interesse sind, kommt seinen Stellungnahmen zur deutschen Nachkriegsentwicklung größere Aktualität zu. Besondere Aufmerksamkeit richtete er auf die Entwicklung des bundesrepublikanischen Parteiensystems, speziell auf die Nivellierung der grundlegenden Unterschiede zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien, ihrer prinzipiellen Einigung auf dem Boden des Staus quo. In dem 1966 Posthum veröffentlichten Aufsatz »Deutschland oder der Verfall der Opposition« untersucht Kirchheimer die Wandlung der SPD von der »Opposition aus Prinzip« zur »loyalen Opposition«. Nicht allein werden hier die einzelnen Stadien dieser Entwicklung beschrieben, sondern zugleich auch ihre Gründe eruiert. Der zeitgenössische Wohlfahrtsstaat, so Kirchheimer, könne manche soziale ,Probleme lösen und damit Interessenkonflikten ihre direkte Schärfe nehmen, so daß die politischen Parteien der Zwangslage enthoben seien, ihre Anstrengungen auf bestimmte Gruppen zu konzentrieren und hierdurch andere verprellen zu müssen. Nun könnten sie um die Stimmen der verschiedenen sozialen Schichten werben und ihre Politik völlig an momentanen taktischen Erfordernissen ausrichten. Voreilig allerdings wäre es, diese Einschätzung auf die Gegenwart übertragen zu wollen, da die krisenhafte Wirtschaftsentwicklung seit Beginn der siebziger Jahre und die durch sie bedingte Reduzierung sozialstaatlicher Steuerungsmöglichkeiten nicht ohne Auswirkungen auf die Parteienstruktur verblieb.

In jüngerer Zeit erfuhr – ausgelöst hauptsächlich durch Aktionen der Friedensbewegung – die alte Diskussion um das Begriffspaar »Legalität und Legitimität« eine Wiederbelebung. Bereits in der Endphase der Weimarer Republik hatte Kirchheimer sich dieser Problematik zugewandt – vor allem in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. Dieser war überzeugt, der Grundgedanke des parlamentarischen Rechtsstaates beruhe auf der Gleichsetzung von Recht und Gesetz, der Monopolisierung der Staatsmacht in der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments und der Kontrolle des demokratischen Souveräns über Exekutive und Judikative. In Widerspruch gerate diese formale Staatskonzeption zur sozialen Entwicklung, zur Pluralität der sich bekämpfenden Parteien und Interessenverbände. Die soziale Homogenität des Volkes, nach Schmitt unabdingbare Voraussetzung für das Zustandekommen eines einheitlichen Staatswillens wie auch des Funktionieren des Gesetzgebungsstaates, sei zerstört, Demokratie de facto unmöglich geworden. Ihm entgegnet Kirchheirner, Demokratie sei auch in heterogenen Gesellschaften möglich, dann nämlich, wenn die einzelnen Gruppen diese als Mittel zu Machtausgleich und Willensvereinheitlichung be trachten. Ferner kritisiert er Schmitts Bestreben, als Form staatlicher Rechtfertigung eine plebiszitäre, durch den Reichspräsidenten verkörperte Legitimität an die Stelle der vermeintlich ausgehöhlten Legalität zu setzen. Für Kirchheimer »kennt die parlamentarische Demokratie keine Form von Legitimität außer der ihres Ursprungs.« Da der Mehrheitswille Gesetz sei, bestehe die Legitimität dieser Staatsordnung einzig in ihrer Legalität. In späteren Arbeiten verwies Kirchheimer auf die Schwächen einer solchen Konzeption, die dem klassischen Rechtspositivismus des 19. Jahrhundert verhaftet bleibt. In der bereits erwähnten Schrift über den Verfall der Opposition beschreibt er die Neigung, systematische Abweichungen von der offiziellen Politik für illegitim zu halten; herrschenden Legitimitätsvorstellungen wohne die Tendenz inne, den Radius, der der außerparlamentarischen, legalen Opposition verbleibe, zu beschneiden. Die Berührung mit Positionen, wie sie in jüngster Zeit zur Diskussion über »Zivilen Ungehorsam« eingenommen werden ist frappant: Jürgen Habermas beispielsweise argumentiert, der parlamentarische Rechtsstaat sei in letzter Instanz auf das Volk als »Hüter der Legitimität« angewiesen; es müsse gegebenenfalls seine originären Rechte als Souverän wahrnehmen, weil auch in einer Demokratie legale Handlungen der Repräsentativorgane illegitimen Charakter tragen könnten.

Schließlich soll noch auf Kirchheimers Arbeiten zum Komplex Justiz kurz eingegangen werden. Als erste englischsprachige Veröffentlichung des Instituts für Sozialforschung erschien 1939 »Punishment and Social Structure« auf der Basis eines Manuskriptes von Georg Rusche, von Kirchheimer überarbeitet und ergänzt. In seiner Einleitung zu dieser Studie fragt er nach den Gründen der bisherigen Vernachlässigung des Verhältnisses zwischen der sozialen Situation und der Form des Strafvollzugs und kommt zu dem Schluß, daß bei den Untersuchungen dieser Thematik in der Regel keine »Soziologie der Strafvollzugssysteme« als Ausgangsstellung gewählt wird, sondern der Aspekt einer Straftheorie, die Strafe nur als Folge der Kriminalität oder aber von ihren Zwecken her bestimmt. Manche Ausführungen Rusches und Kirchheimers erinnern an Michel Foucaults »Überwachen und Strafen«, das sich ja auch auf beide Autoren bezieht. Aller-dings – nicht zuletzt sicherlich mitbedingt durch die zeitliche Differenz – klingt bei beiden erst an, was von Foucault später zum Kerngedanken entwickelt wird: Die Wandlung des Delinquenten von einem Objekt allein des Strafsystems zu einem der verschiedensten sozialen, staatlichen und wissenschaftlichen Sphären, wodurch er sich letztendlich als Objekt der Behandlung von anderen Kategoriensozialer Fehlanpassungen kaum mehr unterscheidet.

Dem Komplex Justiz, genauer, der »Politischen Justiz«, gilt auch Kirchheimers großes Werk gleichen Namens. Hier stellt er nüchtern fest, Justiz habe mit Justitia kaum mehr zu tun, sondern sei staatliches Agieren auf dem Gebiet der Rechtsprechung. Eine der zentralen Thesen lautet: In der Blütezeit des liberalen Rechtsstaates zwischen 1848 und dem Ersten Weltkrieg existierte in der Regel eine Unterscheidung von politischen und kriminellen Delikten, während diese im 20. Jahrhundert zunehmend verwässert worden sei.

Werfen wir noch einen Blick auf die Grundlinien der politisch-wissenschaftlichen Entwicklung Kirchheimers seit der Emigration. Der Vorwurf, politische Aktivität mit sozialistischen Zielvorstellungen zugunsten einer wissenschaftlich-distanzierten Beobachtungshaltung aufgegeben zu haben, greift m.E. zu kurz. Kirchheimer selbst äußerte: »Was die Rangordnung von Analyse, Kritik und Wünschbarkeiten betrifft, so wird der Leser in den nach 1930 geschriebenen Arbeiten eine zunehmende Zurückhaltung gegenüber den letzteren feststellen. In den Zeiten, die durch die Namen Stalin, Hitler und McCarthy umgrenzt sind, schien es das wichtigste Geschäft, grundlegende Mechanismen der politischen Ordnung und Unordnung aufzudecken. Die Vordringlichkeit der Kritik soll aber keineswegs die Konstanz der Zielvorstellung – Schaffung menschenwürdiger und sinnvoller gesellschaftlicher Zustände – überschatten, die wohl selber unter der mehr akademischen Form der späteren Arbeiten für den Leser deutlich hervortritt«.

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