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Verrat - Das manifes­tierte Geheimnis?

vorgängevorgänge 7811/1985Seite 49-51

aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S. 49-51

Der Begriff des Verrats ist so schillernd und die Faszination, die von ihm ausgeht so stark, daß er sich bis jetzt einer sozialwissenschaftlichen Behandlung erfolgreich entziehen konnte. Dies ist umso erstaunlicher, berücksichtigt man, daß die Definition von Verratsstraftatbeständen zu den ältesten juristischen Regelungen gehört. Wie viele andere Entwicklungen, so fand auch der ursprüngliche Verratsprozeß in England statt. Der „Treason Act“ von 1351 bezeichnete es als Verrat „… when a servant slayeth his master, or a wife her husband, or when a man secular or religious slayeth his prelate, to whom he oweth faith and obedience“. In einer auf persönlichen Machtbeziehungen gegründeten Gesellschaft wurde ein diesen Herrschaftsverhältnissen nicht adäquates Verhalten der Herrschaftsunterworfenen als Verrat verfolgt und geahndet. Der „Treason Act“ von 1351 und ähnliche andere Regelungen tragen den Charakter von Grundgesetzen der gesellschaftlichen Ordnung und sind auch deshalb relativ umfangreich. Verrat können, gemäß diesen juristischen Regelungen, nur die loyalitätspflichtigen Beherrschten begehen. Ein Treuegebot für den „Master“ existiert nicht. Neben dem Schutz von gesellschaftlichen Verhältnissen steht im Mittelpunkt die Sicherung von Leib und Leben des Monarchen. Der „Treason Act“ bezeichnet es als Verrat „… (to) compass or imagine the death of our lord the king, or of our lady his queen, or of their eldest son and heir“.

Alle bis heute für den englischen Rechtsraum folgenden vierzig Gesetze, die den Straftatbestand des Verrats definieren und ihn juristisch handhabbar machen, haben an dieser Schutzfunktion nichts geändert. Verrat bedeutet hier (und das ist eine Definition, die sich in fast allen europäischen Ländern bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gehalten hat) nicht Weitergabe von Geheimnissen, oder „heimtückischer“ Loyalitätsbruch, sondern Rebellion gegen die gesellschaftliche Ordnung und Sturz des Monarchen (Wobei die Art und Weise der Insurrektion, ob im Geheimen vorbereitet oder öffentlich angekündigt, strafrechtlich unerheblich war). Mit zunehmender Vergesellschaftung wurden diese Formen der Sanktionierung immer unzureichender. Auch bei der Formulierung von Gesetzen, deren Gegenstand das über die zentrale Stellung der Majestät hinausgehende Sicherheits-interesse des Staates ist, geht England voran. Mit dem „Official Secrets Act“ von 1889 wird der Begriff des „Staatsgeheimnisses“ in das englische Rechtssystem eingeführt. Es wird danach zum Verbrechen: „If any person retains for any purpose or interests of the state any official document, when he has no right to retain it … or allows any other person to have possession of any official document … or on abtaining possession of any official document.“

Durch den „Official Secret Act“, der nach 1889 von vielen europäischen Regierungen nachgeahmt wird, erfährt die Loyalitätsverpflichtung des Bürgers eine Ausdehnung auf das Staatsinteresse. Damit einher geht eine Ausuferung des Verratsbegriffs – und der Verratsstraftatbestände. So erklärt dieses Gesetz über vierzig Handlungsweisen im Zusammenhang mit Staatsgeheimnissen (etwa das Betreten von „prohibited areas“ oder das Anfertigen von Zeichnungen, Fotografien etc. von militärischen Gütern ohne Erlaubnis) sowie die Kenntnis und Weitergabe von Adressen „ausländischer Agenten“ zu Verbrechen. Intention dieser Gesetze ist nicht mehr die Verhinderung des Umsturzes, sondern die Wahrung des mehr oder weniger ausführlich definierten Geheimnisses. Normiert, kontrolliert und sanktioniert wird nicht nur die Intention des Verhaltens (etwa der Mordversuch am König), sondern der Modus des Verhaltens des Bürgers (hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu den älteren „Treason Acts“): So ist das Fotografieren auf Militärgeländen strafbar, auch wenn damit weder der Umsturz der herrschenden Ordnung noch eine Weitergabe dieser Aufnahmen an ausländische Agenten verbunden ist. Stellt man aber die Art und Weise des Verhaltens in das Zentrum des Verratsverdachtes, so ist es nur folgerichtig, wenn etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz in einem seiner Fernschreiben während des Prozesses gegen den dänischen Journalisten Flemming Sörensen von einem „gegenüber jedermann bestehenden geheimdienstlichen Restverdacht[1] spricht. Das Geheimnis wird so zum Disziplinierungs- und Herrschaftsinstrument. Diese Erweiterung des Illoyalitäts- und Verratsbegriffs ist immer noch mit dem Staatsgeheimnis als schützenswertem Gut im Rechtssystem verbunden. Da aber von verschiedenen Schichten und Klassen Wesen, Erscheinung und Sicherheit von Staat und Nation verschieden bestimmt wird, gibt es nur selten Übereinstimmung darüber, was geheim sein und bleiben sollte. Verrat wird somit fast zwangsläufig zu einem Teil der politischen Systeme.

Diese Definitionsschwierigkeiten und Definitionsveränderungen des allgemeingültigen Geheimnisses führen letztendlich dazu, daß, wie Talleyrand einmal feststellte, Geheimnis und Verrat zu Fragen des Zeitgeistes werden. Der Bereich des Staatsgeheimnisses bildete für die Expansion des Verratsvorwurfes allerdings nur eine vorläufige Grenze. Die Anklage des Treuebruchs wird gesellschaftlich erhoben; das Anderssein und das Nichtübereinstimmen mit Rollenerwartungen kann unter Umständen zum Verrat erklärt werden. Die diversen Komitees zur Untersuchung unamerikanischer, undeutscher oder unbritischer Umtriebe sprechen da, im Wortsinne, eine deutliche Sprache. Wer als Individuum oder als Kollektiv nationale, klassenmäßige, ideologische (die Reihe ließe sich beliebig verlängern) Identitäten, die ihn bzw. sie selbst definieren müßten, in Zweifel zieht, steht in der permanenten Gefahr, als Verräter gebrandmarkt zu werden. Als modernste Tendenz in der Begriffsgeschichte des Verrats muß wohl Urs Jaeggis „Versuch über den Verrat“ gelten. Hier wird die gesellschaftliche Ebene verlassen und der Treuebruch ins Individuum verlegt: „Wir verraten uns. Verraten, was wir einmal wollten und wofür wir gekämpft haben. Der Verrat, der weder mit Dingen noch mit Personen zu tun hat. Nur mit ihm, der verrät, nur mit sich selbst.“[2]

Das Sicherheitsinteresse wird hier zum Wunsch, als Einzelner widerspruchsfrei, bruchlos und als Einheit existieren zu können. Auf das Gespaltensein des Verräters schaut man mit einer Mischung aus Angst und Lust; nicht zufällig wird in vielen Büchern über den Verrat in unserem Jahrhundert (und gemeint ist da fast immer der politische Verrat) der Atomspion Klaus Fuchs zitiert, der über seine Geheimdienstarbeit für die Sowjetunion formulierte, daß er mit einer „kontrollierten Schizophrenie“ gelebt habe. Die Faszination, die heute vom Begriff des Verrats ausgeht, liegt aber nicht nur in die Anziehung und Abschreckung des Gespaltenseins begründet. Der Verräter ist gerade in trivialmythologischen Darstellungen (man denke hier nur an die Romane John Carres) auch immer deshalb eine eigentlich überlegene Figur, weil er über zwei Sichtweisen von Wirklichkeit verfügt. Verräter können, jedenfalls solange sie erfolgreich sind, Schein und Sein auseinanderhalten. Andre Gorz hat es beispielhaft formuliert „Sie (die Gesellschaft, T.N.) entstellt die Wirklichkeit, da sie ihr ihre Schimären vorzieht, gibt sie sich einem Terror hin, der die Wirklichkeit aus ihrem Schoße zu verbannen trachtet. Diese Wirklichkeit, die zu kennen sie sich weigert, verfolgt sie in der Person der Verräter. Sie braucht Verräter, die sie verfolgen kann, denn sie fühlt sich verraten, da die Geschichte ihrem Verhalten einen objektiven Sinn verleiht, der ihr ihre Absichten raubt, den Sinn dieser Absichten aufhebt, um ihn durch einen anderen zu ersetzen. Die Verräter sind ganz einfach diejenigen, die erkennen, was sie nicht sehen – das Unvermeidliche, dem sie rückwärtsgehend zusteuert“.[3]

Der Verräter wird zum beunruhigenden, skandalösen und gleichzeitig bewunderten Wesen. Dieses größere Wissen hebt ihn aus der Masse der Mittelmäßigen empor und stellt ihn mit einem anderen Angehörigen der Elite auf eine Stufe, mit dem Geheimnisträger. Der Begriff des Verrats ist heute mit Assoziationen wie Spaltung, Gratwanderung, Wirklichkeitsnähe, Relativierung von Moral und Überlegenheit verbunden. Das Aufsehen, das Spionage-Affären immer noch auslösen, hat wohl mehr mit diesen Konotationen zu tun als mit der Gefährdung der Staatssicherheit.

Die immer wieder artikulierte Faszination – Spionageromane, mehr oder weniger seriöse Tatsachenberichte über große Verratsfälle füllen ganze Bibliotheken und werden immer wieder neu geschrieben – deutet vielmehr darauf hin, daß im Verräter ein Zivlisationstypus erscheint, in dem gesellschaftliche Identitätsdefizite und Identitätsbedürfnisse ihren (idealtypischen) Ausdruck finden. Verrat mit dem Bruch und der Weitergabe von Geheimnissen in Verbindung zu bringen, ist heute eine anachronistis Vorstellung.

1 Flemming Sörense.  „Verdächtig sind wir alle. Die Paranoia der Staatsmacht“, Hamburg 1983, S.
2 Urs Jaeggi: „Versuch über den Verrat“, Darmstadt 1984, S. 302
3 Andre Garz: „Der Verräter“, Vorwort von Jean-Pau1 Sartre, Frankfurt/M. 1980, S. 169

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