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Sozial­de­mo­kratie am Schei­de­wege?

Stellungnahme des Komitees für Grundrechte und Demokratie zum Bülow-Papier

Dokumentaion

aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S. 129/130

Sensbachtal, 22. September 1985 – In einer Stellungnahme hat der Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie zu dem zur Zeit heftig umstrittenen Bülow-Papier »Strategien vertrauenschaffender Sicherheitsstrukturen in Europa« Stellung genommen. Das Papier, das auch in Teilen der SPD kritisch beurteilt und von den Regierungsparteien scharf attackiert wird, wird sowohl bei den GRÜNEN als auch in der gesamten außer-parlamentarischen Friedensbewegung intensiv diskutiert. Das in der Friedenbewegung engagierte Komitee für Grundrechte und Demokratie, das bereits vor Jahren mit Vor-schlägen für eine alternative Sicherheitspolitik in die friedenspolitische Diskussion eingegriffen hat, nimmt zu dem Bülow-Papier wie folgt Stellung:

I. Seit Ende der fünfziger Jahre ist das Verhältnis zwischen der selbständigen außer-parlamentarischen Friedensbewegung und der SPD gebrochen, da diese die von ihr initiierte Kampagne »Kampf dem Atomtod« aufgab und sich seither bis zur Gegenwart nicht von der Abschreckungspolitik und ihrer Konsequenz, der ständigen weiteren Aufrüstung, los sagen konnte. Sozialdemokratisch propagierte zentrale Begriffe, wie z.B. Sicherheitspartnerschaft, sind nach wie vor eng mit dem traditionellen Konzept der Ab-schreckung, des sogenannten militärischen Gleichgewichtes – was ständige Aufrüstung bedeutete – sowie mit dem der Rüstungskontrolle verbunden, welche bislang vorrangig Begleitmusik zur Aufrüstung war. Die SPD in der Opposition steht unter dem ständigen Verdacht, mit guten, aber zu begrenzten Initiativen (z.B. Vertragsvorschlag für eine chemiewaffenfreie Zone) und mit vagen, weit ausdeutbaren Begriffen Wähler an sich binden zu wollen, während sie sich letztlich alle Türen für die Fortsetzung der bisherigen fatalen Sicherheitspolitik offenhält. Mit dem Bülow-Konzept, das auf Elementen beruht, die seit langer Zeit in der Friedensbewegung erörtert werden, gerät die SPD vor eine bedeutungsvolle Weichenstellung.

II. In dem Bülow-Papier wird ein Konzept zur Überwindung der gegenseitigen Bedrohung, auf der das Abschreckungssystem beruht, entwickelt. Die Nicht-Bedrohung der anderen Seite durch strukturelle, Nichtangriffsfähigkeit soll leitendes Kriterium einer
zukünftigen Sicherheitspolitik mit tiefgreifenden friedenspolitischen Implikationen sein. Die Bildung einer atomwaffenfreien Zone9 der Verzicht auf Pershing II, Marschflug-körper und auf nukleare Gefechtsfeldwaffen sowie auf die Option des nuklearen
Einsatzes sind u.a. Konsequenzen des Konzeptes, ebenso wie eine Ablehnung der aggressiven Air-Land-Battle- und FoFa-Strategien. Vertrauensbildung durch Nichtbedrohung soll offensichtlich dem Konzept der Sicherheitspartnerschaft nun einen deutlich auf europäisch-regionale Abrüstung weisenden Inhalt geben. Die Anforderung der Umstellung richtet sich zuerst an die eigene Seite, ohne jedoch die offensiven Potentiale der Warschauer-Pakt-Staaten auszuklammern. Obwohl das Verhältnis der westeuro-päischen Staaten untereinander in dem Konzept kaum angesprochen wird, würde es dennoch aktuellen Tendenzen zur Schaffung einer sich verselbständigenden westeuro-päischen Abschreckungsmacht entgegenstehen. Eine solche Politik konsequent entwickelt, könnte die Abhängigkeit Europas von den Großmächten erheblich vermindern.

III. Trotz dieser positiven, in eine neue Richtung weisenden Momente des Bülow-Konzeptes wird die Friedensbewegung vieles in ihm kritisieren und ablehnen. Zahlreiche Punkte bleiben vage und dabei in einer anderen Richtung interpretierbar. Dies gilt z.B. für den Bereich der »Konventionalisierung« und für die verbleibenden Aufgaben von Panzerverbänden. Abzulehnen sind auch jene Systeme die nach dem Konzept zunächst noch weit in das Hinterland der europäischen Warschauer-Pakt-Staaten hineinwirken sollen, wozu auf See stationierte Marschflugkörper gehören könnten. Keine Überein-stimmung wird es auch bei den Nuklearwaffen geben, denen vorübergehend oder auf Dauer gewichtige Funktionen beigemessen werden. Die Formulierungen. zum NATO-Verhältnis, zu der Vormacht USA, aber auch zu den europäischen Atommächten sind so offen, daß aus der langfristigen Absichtserklärung des Bülow-Konzeptes unter dem Druck politischer Verhältnisse auch Gegenteiliges entwickelt werden könnte. Verschwommen bleibt das Schwergewicht von Rüstungskontrollverhandlungen bei der Durchsetzung des Konzepts, da dadurch die in dem Konzept angelegten einseitigen Initiativen, die allein eine Dynamik der Abrüstung in Gang setzen würden, kaum zum Zuge kämen. Multilaterale Rüstungskontrollverhandlungen haben sich bislang stets als Sackgassen erwiesen. Schließlich wird zum brisanten SDI-Projekt nur unverbindliches Mißbehagen geäußert. Solche und weitere Kritikpunkte ändern jedoch nichts daran, daß in dem Bülow-Konzept zentrale Gesichtspunkte für eine Alternative formuliert werden, deren konse-quente Befolgung zu einer gewichtigen und längst fälligen Weichenstellung für die Sozialdemokratie führen könnte.

IV. Der Aufschrei der Regierungsparteien angesichts des Bülow-Vorschlages verwundert wenig. Waren doch für sie schon immer diejenigen Landesverräter, die sich der Milita-risierung und Aufrüstung, welche letztlich stets in die Katastrophe führten, entgegen-stellten. Ihr Aufschrei findet aber – und das ist neu – selbst in großen Teilen der konservativen Schichten unserer Gesellschaft kein Echo. Zu tief sind die Argumente der Friedensbewegung auch dort eingedrungen. Wer heute mutige Wege aus der Sackgasse des Wettrüstens aufzeigt, braucht die Panikmache der Regierungsparteien nicht mehr zu fürchten. Zu fürchten ist vielmehr Halbherzigkeit und die Verwechslung von Taktik mit Politik.

V. Die herrschende Politik zielt auf eine Spaltung der Gesellschaft und auf die Sanierung ihres Kernbereiches auf Kosten des etwa schwachen Drittels der Bürger. Eine solche Gesellschaft ist unsolidarisch und notwendig aggressiv nach innen und außen. Eine Überwindung der gegenseitigen Bedrohung in Mitteleuropa und die Schaffung von Vertrauen sind in ihr nicht möglich. Friedens- und soziale Bewegungen in der Bundes-republik kämpfen dagegen für eine solidarische und friedensfähige Gesellschaft. Sie wollen Unterdrückung abbauen und demokratische Motivation und Rechte erweitern. Einer, wenn nicht gar der Knackpunkt dieses Bemühens ist die Überwindung des waffenstarrenden Bedrohungssystems in Mitteleuropa, das sich außen- wie innenpolitisch so verheerend auswirkt.

Will die Sozialdemokratie, die zwar oftmals Teil, aber keineswegs Repräsentant der sozialen Bewegungen ist, dazu beitragen, dem konservativen Herrschaftsprojekt der gesellschaftlichen Spaltung eine Alternative entgegenzusetzen, so muß sie sich eindeutig vom Abschreckungsgedanken abwenden. Erst hierdurch kann sie die neue politische Kultur mit vorantreiben, die in den vielfältigen und mühsamen Lernprozessen und Aktivitäten der sozialen Bewegungen langsam sich herauszubilden und zur gesell-schaftsverändernden Gegenkraft zu werden beginnt. Dabei müssen die verschiedenen außerparlamentarischen und parteigebundenen Kräfte, die je auf ihre Weise für diese Alternative arbeiten, konkurrenzhafte Haltungen zugunsten konstruktiv-kritischen Miteinanders überwinden.

VI. Für die Sozialdemokratie stellt sich mithin die Aufgabe einer Neuorientierung gegenüber dem konservativen Herrschaftsprojekt. Dies wird mit schwierigen inneren Auseinandersetzungen verbunden sein, reichen doch seine Wurzeln tief in das frühere sozial-demokratische »Modell Deutschland« . Nicht zuletzt an der Verarbeitung des Bülow-Konzeptes innerhalb der Sozialdemokratie wird für die außerparlamentarischen sozialen Bewegungen erkennbar sein, ob die SPD nur auf Elitenwechsel in den Regier-ungsinstitutionen zielt oder sich auf eine vorwärtsweisende Alternative einzulassen bereit ist.

Für das Komiteee für Grundrechte und Demokratie
Prof. Dr. Andreas Buro

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