Nicht ein neuer, kein "Verfassungsschutz" lautet jetzt die Devise!
aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S.52-54
Der „Verfassungsschutz“, genauer das Bundesamt und die Landesämter für das, was man in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsschutz nennt, waren oft zu kritisieren. Allerdings haben sich nur wenige in aller Regel darüber erregt, daß der „Verfassungsschutz“ viele unbescholtene Bürger ohne deren Wissen beobachtet; daß er über sie Informationen sammelt, deren Richtigkeit von niemandem, insbesondere nicht von den betroffenen Bürgern und Gruppen überprüft werden kann; daß diese Ämter solche fragwürdigen Informationen als „Erkenntnisse“ meist insgeheim etwa an Einstellungsbehörden weitergeben, die dann evtl. ein meist nicht erkenntliches und nicht einklagbares Berufsverbot aussprechen; daß diese Ämter jährlich sogenannte Verfassungsschutzberichte publizieren, in denen die politische „Landschaft“ „rechts“ und vor allem „links“ nach höchst zweifelhaften Maßstäben und schwankenden Kriterien vermessen wird, deren Bezug auf das Grundgesetz mehr als fragwürdig ist.
Alle diese und andere alltäglichen Handlungen des „Verfassungsschutzes“ kümmerten leider wenige. Er wäre richtiger als „Staatsschutz“ zu bezeichnen. Und wer den „Staat“ „schützt“, der erhält von fast allen bundesdeutschen Stellen, insbesondere den regierungsamtlichen, höhere Weihen.
Nun ist der „Verfassungsschutz“ plötzlich zum allgemeinen Thema des Tages geworden. Zur Schlagzeile. „Gefahr für die Sicherheit unseres Staates“ (FAZ), wird gerufen. Die Spionageabwehr, eine der Hauptaufgaben des „Amtes“, hat sich, für Kenner nicht überraschend, als äußerst doppeldeutig herausgestellt. Diejenigen, die da amtlich berufen waren, Spione insbesondere aus der DDR zu entdecken, zu enttarnen oder zu bundesdeutschen Spionagezwecken umzukehren, sind oder waren selbst, so hat es zumindest den Anschein, bis zum höchsten Abwehrmann wider die Bundesrepublik gerichtete, genauer vor allem militärische Geheimnisse derselben auskundschaftende Spione. Die DDR macht’s möglich. Das Bundesamt für „Verfassungsschutz“ und die hinter ihm stehende Regierung haben sich kollektiv als betrogene Betrüger erwiesen.
In der nun publizistisch geradezu überschwappenden Sicherheitspanik, da von nicht wieder gutzumachendem Schaden die Rede ist, ein Schaden selbstverständlich immer für „die Bundesrepublik“, das soll heißen für uns alle, werden die entscheidenden und eigentlich ganz einfachen Fragen nicht gestellt. Die lesefähigen Bürgerinnen und Bürger dieser unserer Republik müßten aber doch u.E. folgende Fragen stellen, und zwar deshalb, weil es eine Verfassung zu schützen gilt, die die Grundrechte des Bürgers und seinen Schutz betont.
1. Wozu braucht man eigentlich in einem freien Land einen „Verfassungsschutz“? Gewiß, es gibt ein „Verfassungsschutzgesetz“ für das Bundesamt, und es gibt auch entsprechende Landesgesetze. Jedenfalls seit etlichen Jahren. Aber daß es hier Gesetze gibt, heißt nicht, daß diese Ämter nicht observierend, speichernd, weitergebend, eine die Freiheit und Privatheit aller gefährdende Rolle spielen. Sie tun dies vor jedem Datenschutz insgeheim. Angesichts ihres Wirkens wird das vom Bundesverfassungsgericht verheißene „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ aller Bürger mehr oder weniger zur Farce. Wenn diese Ämter „nur“ zur Spionageabwehr von außen gegründet wären – ihre Aufgaben sind aber viel umfassender formuliert - wozu dann die flächendeckende Observation mit Konsequenzen für zahlreiche Besetzungen von Berufspositionen im öffentlichen Dienst, den Medien, den Kirchen, den Betrieben u.ä.m.?
2. „Geheimdienste arbeiten immer“ so weiß die Süddeutsche Zeitung – und weiter: „Sie überleben Regierungen, ja politische Systeme, werden nicht angeschaltet oder abgestellt, je nach politischer Lage.“ Besteht nicht gerade in dem, was hier als unverbrüchliche Weltweisheit verkündet wird, die Gefahr für die Sicherheit von uns Bürgern, für das normale Funktionieren der Demokratie? Wenn die Regierungen und Systeme kommen und gehen, die Geheimdienste aber bestehen bleiben, heißt dies dann nicht, daß offenbar im Inneren „unseres Staates“ organisierte Kräfte weit außerhalb jeder Kontrolle am Werk sind? Und mehr noch stellt sich die Frage: Wer schützt uns vor solchen Schützern? Und außerdem: Sind die Geheimdienste nicht nur für die Geheimdienste da und dienen außerdem höchst fragwürdigen, eben zwielichtigen Interessen? Worin besteht denn in der Tat die Leistung dieser Geheimdienste, am Maßstab des Grundgesetzes und der Menschenrechte gemessen und von der Perspektive der Lebensqualität der Bürger aus gesehen?
3. Besteht zwischen dem angeblichen Zwang zur Spionageabwehr und zur eigenen Spionage zugleich – denn allein die mangelnde Effektivität wird lauthals gefahrschreiend gerügt – und dem Sicherheitskonzept der Bundesrepublik und der NATO nicht ein eklatanter Widerspruch? Man will doch angeblich „nur“ abschrecken. Man will dem Gegner das Risiko in den verschiedenen Stufen der Abschreckung deutlich machen, in das er liefe, wenn er angriffe. Müssen aber dem potentiellen „Feind“ dafür nicht möglichst alle Informationen zugänglich sein? Und außerdem: Gibt es angesichts des Standes technischer Entwicklungen überhaupt noch viel prinzipiell Geheimhaltbares, abgesehen von den wechselseitigen Herrschaftsinteressen? Könnte es sein, daß man den „Verfassungsschutz“ nur noch zur Observierung und Manipulierung der eigenen Bürger braucht? Dafür, daß die Bürgerinnen und Bürger eine einseitige Sicherheitsbestimmung hinnehmen ohne nachzudenken?
4. Das aber ist die entscheidende Frage: Inwiefern dient der „Verfassungsschutz“ beispielsweise (oder der „Militärische Abschirmdienst“ oder der „Bundesnachrichtendienst“) tatsächlich der Spionageabwehr? Was heißt Spionage? Wie wehrt er ab, mit welchem Erfolg und mit welchen demokratischen Kosten geht er seinen dunklen Geschäften nach? Besteht nicht die schon längst Teilwirklichkeit gewordene Gefahr, daß jeder Bürger als potentieller Spion behandelt wird? Und diese Überwachung wird gerechtfertigt aus dem angeblich allgemeinen „Sicherheitsinteresse“ nach dem Motto: „Spione sind unter uns“. „Feind hört mit“, so hieß es vor nicht allzulanger Zeit, an die uns der 8. Mai so schmerzlich erinnert hat.
Wehret den Anfängen. Nein, es handelt sich um keine Anfänge mehr. Der staatsschützerische „Verfassungsschutz“ ist zu einer vielfingerigen Institution geworden. Ihr Haupterfolg: Beschränkung der inneren Liberalität und Einschüchterung der Bürger. Ist aber eine liberale Demokratie nicht nur so stark wie ihre Bürger liberal sind? Ist die Bundesrepublik Deutschland so schwach, daß sie eines solchen Staatsschutzes bedarf? Und der soll nun noch geheimer, noch unangreifbarer, noch flächendeckender umgebaut werden. In einer realisierten Demokratie wäre Verfassungsschutz die Aufgabe der politischen Aktivbürger: Gegen Gefährdungen der demokratischen Verfassung schützen wirksam nur Demokraten und eine entsprechende politische Kultur, nicht aber nach zweifelhaften Kriterien handelnde, von niemandem kontrollierte Geheimdienst-spezialisten.
Man muß mitnichten annehmen, wir lebten in der besten aller Welten und es bedürfe keiner Vorkehrungen für die Sicherung der Bürger. Diese werden aber gewiß nicht dadurch besser gesichert, daß die soziale Sicherung ab-, der „Verfassungsschutz“ u.a. aber aufgebaut werden. Die Frage steht auf der Tagesordnung und ist zu beantworten: Was leisten denn eigentlich Geheimdienste a la „Verfassungsschutz“? Solange diese Frage nach der demokratischen Funktion der Geheimdienste nicht nachprüfbar und klipp und klar beantwortet wird, gilt als einzige verfassungssichernde Devise: Stopp dem „Verfassungsschutz“! Mehr noch: Schafft den „Verfassungsschutz“ ab! Die Gelegenheit ist günstiger denn je. Nun, da die DDR alles weiß, können ja auch die Bundesdeutschen alles wissen, und man hat die Chance eines Neuanfangs.
Zum Schluß ein ironischer Vorschlag zur Güte: Wie wäre es, Helmut Kohl und Erich Honnecker setzten sich zusammen und beschlössen einen Austausch der Spione und eine Auflösung aller Staatsschutzeinrichtungen? Dies wäre in der Tat eine Entscheidung zum Wohle der Schwestern und Brüder hüben wie drüben!