Internationale Beziehungen und Geheimpolitik
aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S.69-75.
Verschwörungstheoretiker haben es gut. Wer hinter der Oberfläche politischer Handlungen, die oft nur ein verworrenes Bild von den laufenden Ereignissen formen, eine zweite Ebene vermutet, auf der alles sehr viel übersichtlicher verläuft, weil die Akteure miteinander verschworen sind, weil es ohnehin nur ganz wenige gibt, die die Fäden der Wirklichkeit in Händen haben, und weil alles geheim ist, verfügt nicht nur über privile-gierte Einsichten (Erkenntnisse oder intelligence heißt das im professionellen Jargon). Er vermag darüber hinaus auch eine ganz besondere Art von Befriedigung aus diesen Einsichten zu ziehen. Denn der Verschwörungstheoretiker ist ja, wenn auch sozusagen nur als Voyeur (aber was heißt hier: nur?), ein Miteingeweihter. Wer die »Protokolle der Weisen von Zion« für ein authentisches Dokument der Politik des frühen 20. Jahrhunderts hält(1), für den ordnen sich die verschiedenartigsten Anzeichen des Verfalls automatisch zu einem Meisterplan einer Handvoll machtgieriger, krummnasiger Männer, die die Welt beherrschen wollen.
Nimmt man es genau, ist die verschwörungstheoretische Perspektive der Standard Ansatz zur Erklärung von politischen Vorgängen, vom Stammtisch bis in Theoriebildung der Politikwissenschaft(2). Wie üblich bei derlei, besteht das Problem nun nicht darin, daß Hirngespinste an die Stelle von Denken getreten sind, daß »alles falsch« ist. Das ist es ja nicht, wie jeder weiß. Es gibt in der Tat unter der Oberfläche des politischen Geschäfts eine zweite Ebene, auf der alles übersichtlicher verlaufen soll, was es aber nur selten tut. Vielleicht würden sich einige der politischen Akteure, um sich ihr Geschäft zu erleichtern, auch gerne miteinander verschwören, aber das klappt nur in den wenigsten Fällen.
Nehmen wir als Beispiel die internationalen Beziehungen. Vor aller anderen Politik ist sie über mehrere Jahrhunderte von dem Ruch geheimer und geheimnisvoller Machenschaften umweht. Zu Beginn der Neuzeit war Staatspolitik grundsätzlich Staatsgeheimnis. Dies lockerte sich langsam. Aber noch im 18. Jahrhundert mußten die Beratungen im (englischen) Parlament als streng vertraulich behandelt werden. Selbst als die politische Legitimation des Staats der bürgerlichen Gesellschaft es unumgänglich machte, die Ergebnisse solcher Beratungen öffentlich zu machen, verblieb doch ein großer Teil des Entscheidungsprozesses im Verborgenen. Auf zwei eng miteinander verbundenen Politikfeldern ist die Macht des Geheimen auch heute noch beachtlich, in außenpolitischen Angelegenheiten und solchen des Militärs. Ist dies nichts als ein Rest Feudalismus, ein über bürokratische Interessen am Leben gehaltener Anachronismus?
Ein Wendepunkt, an dem es geradeaus ging
Das zwanzigste Jahrhundert, von Beginn an eines der falschen Emphase, versprach zunächst eine grundlegende Änderung. Der Charakter der internationalen Beziehungen scheint sich unter dem Eindruck der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu verändern. So wird angekündigt, von Lenin: »Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab, sie erklärt, daß sie ihrerseits fest entschlossen ist, alle Verhandlungen völlig offen vor dem ganzen Volke zu führen. ..«(3). Genau zwei Monate später proklamiert der Präsident der USA: »Öffentliche Friedensverträge, öffentlich beschlossen, nach denen es keine privaten internationalen Abmachungen irgendwelcher Art geben darf. Vielmehr soll die Diplomatie stets frei und vor aller Öffentlichkeit sich abspielen.«(4)
Natürlich hat sich kein Mensch daran gehalten. Der Text von Lenins »Dekret über den Frieden« ist eine revolutionäre Aktion, schwungvoll nach rückwärts gerichtet (nämlich gegen die Kerenski-Regierung) und listig an die Kriegsgegner, denen suggeriert werden soll, daß man sich mit dem Rücken an der Wand in einer moralisch höherwertigen Stellung befindet. Wilsons »Vierzehn Punkte« sollten die Grundlage für eine neue internationale Ordnung bilden, für ein System kollektiver Sicherheit und friedlicher Handelsinteressen, für das es auf den Pariser Vorort Konferenzen 1918/19 und die Jahre danach keine Chance gab.
Gewiß haben sich Art, Formen, Inhalt der internationalen Beziehungen nach 1917/18 gewandelt. Der Aufstieg der USA zu einer Weltführungsmacht hat ihr politisches System dazu gezwungen, ihre Außenpolitik zu professionalisieren(5), mithin also den überlieferten Techniken außenpolitischen Handelns anzupassen. Das ging allerdings nur langsam. Für die Außenpolitik von Henry Kissinger ist die Wilsonsche Forderung nach öffentlicher Diplomatie schlicht irrelevant geworden.
Im Selbstverständnis der sowjetischen Partei- und Staatsführung haben sich mit dem Sieg der Revolution in Rußland und seither in steter Expansion »internationale Beziehungen neuen Typs«(6) ausgebildet. Das Neue daran kann aber jedenfalls nicht die Erfüllung der Leninschen Forderung nach öffentlicher Diplomatie sein. Weder beim »proletarischen Internationalismus« noch bei der Politik der »friedlichen Koexistenz« wird auf Nicht-Öffentlichkeit verzichtet. Im Gegenteil. Jenem Nichtangriffsvertrag mit Deutschland vom 23.8.1939 wurde ein Geheimes Zusatzprotokoll beigesellt, in dem es u.a. heißt: »Aus Anlaß der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR haben die unterzeichneten Bevollmächtigten der beiden Teile in streng vertraulicher Aussprache die Frage der Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa erörtert… Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staat gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Pissa, Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden. In jedem Falle werden beide Regierungen diese Frage im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen.«(7) Das taten sie dann auch, eine Zeit lang. Nun könnte man behaupten, daß es sich in diesem – zugegeben: unter moralischen Gesichtspunkten ziemlich widerwärtigen – Fall um eine Ausnahme handelt, weil die Akteure ihre Außenpolitik im Effekt gleichermaßen ungebunden betreiben konnten. Rücksichten auf einheimische Öffentlichkeit entfielen, so daß man sich ohne weiteres der Formen klassischer Geheimdiplomatie bedienen konnte.
Indes muß man mit der Einführung moralischer Gesichtspunkte äußerst vorsichtig sein, will man sich nicht von den eigenen Präferenzen den analytischen Horizont einnebeln lassen. Und außerdem mag das Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt mit seinen erheblichen Konsequenzen erst über 1941 und dann über 1945 hinaus vielleicht ein Ausnahmefall wegen seiner besonderen zynischen Qualität sein. Geheimdiplomatie, wenn sie auch technisch immer schwieriger geworden ist, nimmt selbstverständlich auch nach 1945 einen wichtigen Platz in den. Umgangsformen der Akteure im internationalen System ein. Je heikler ein internationaler Konflikt ist, in der Regel heißt das auch: je brisanter, je gefährlicher, um so mehr sind die beteiligten Akteure auf Geheimkontakte und Geheimdiplomatie verwiesen. Die Vorstellung, Lenins und Wilsons Konzept einer offenen Diplomatie hätte sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt, läßt sicher nicht nur altgedienten Diplomaten das Blut in den Adern gefrieren.
Die wahrscheinlich gefährlichste internationale Krise der Nachkriegszeit, die Kuba Raketenkrise vom Herbst 1962, ist so behandelt worden, daß die amerikanische Öffentlichkeit trickreich getäuscht worden ist; nicht auszudenken, wäs passiert wäre, wäre dieses Täuschungsmanöver nicht geglückt. Zu Beginn der siebziger Jahre hat es sogar einen Friedensnobelpreis für ein vermeintliches geheimdiplomatisches Meisterstück gegeben; die Beendigung des amerikanischen Teils des Vietnam Kriegs sieht sich aus heutiger Sicht allerdings etwas anders an. In den Memoiren Kissingers findet sich für diese Jahre eines machtpolitisch nüchternen, partielle Kooperation anstrebenden Ost-West-Verhältnisses ein anderes Beispiel für die Verwendung dann allerdings so doch nicht benutzter Formen der Geheimdiplomatie. Es geht um den Nah-Ost-Konflikt, wie er sich einmal wieder in besonders lästiger Form im Frühjahr 1972 präsentierte, und um amerikanisch sowjetische Absprachen, deren Einzelheiten hier fortfallen können, weil es um die Methode geht: »Schließlich gab uns Gromyko einen guten Rat für die Überwindung unserer innenpolitischen Schwierigkeiten. Er schlug vor, vor der Öffentlichkeit zu erklären, wir handelten eine Vereinbarung über das Auseinanderrücken der Truppen am Suezkanal aus, während er und ich uns im geheimen über eine endgültige Regelung einigten, die wir nach den Präsidentschaftswahlen 1972 bekanntgeben und in Kraft setzen könnten.« Den nächsten Satz muß man noch mitaufführen: »Trotz meines legendären Selbstvertrauens und meiner angeblichen Neigungen zur Geheimhaltung glaubte ich nicht, daß so etwas möglich sei, und lehnte den Vorschlag ab.«(8)
Von der Funktionalität der Geheimhaltung in der Außenpolitik
Die Soziologen, jedenfalls die kaltschnäuzigen (also die richtigen) haben keine Skrupel, von der Funktionalität der Geheimhaltung zu sprechen. »Die Verwendung des Geheimnisses als einer soziologischen Technik, als einer Form des Handelns, ohne die angesichts unsres sozialen Umgebenseins gewisse Zwecke überhaupt nicht erreichbar sind – ist ohne weiteres einzusehen.« Das stammt nicht von Max Weber, könnte aber(9). Das Knäuel von unterschiedlichen Interessen und Perzeptionen (Wahrnehmungen), als welches sich das »soziale Umgebensein« in der Außenpolitik erweist, verlangt ganz offensichtlich Geheimhaltung als politische Technik, jedenfalls in einem bestimmten Stadium der Entscheidungsvorbereitung. Man muß das, wohlgemerkt, gründlich unterscheiden von der Geheimhaltung der Ergebnisse solcher Entscheidungsprozesse. Da dürfte Kissinger recht haben, wenn er glaubt, so etwas sei für Regierungen moderner Demokratien einigermaßen risikolos nicht möglich. Wir werden immer wieder aus den politischen Apparaten selbst heraus über vorgeblich zu Unrecht geheim gehaltene Entscheidungen informiert, man denke an die Veröffentlichung der »Pentagon-Papiere« oder an das Durchsickern der »Bahr-Papiere« aus der Verhandlungsphase des ersten der Ostverträge der sozial-liberalen Koalition oder jüngst an die Greenpeace-Affäre in Frankreich.
Wir sind hier aber unversehens auf eine andere Ebene des Problems Geheimhaltung und internationale Politik gerutscht. Die These frühbürgerlicher Aufklärung – Politik muß öffentlich werden, so nur wird sie auch rationaler – war ja immer schon ein Mißverständnis. Aber auch die nicht ganz so optimistische Deutung der Forderung nach Öffentlichkeit im Sinne einer Öffnung von Partizipations-Chancen greift (wenn man so will: leider) zu kurz, um das teils raffinierte, teils grobschlächtige politische Spiel um Geheimhaltung und Öffentlichkeit, um die Funktionalisierung der »Weltöffentlichkeit« (der fiktiven) für die eigenen Zwecke oder die Wirkungen des innenpolitischen Drucks auf das außenpolitische Verhalten des Gegners im Sinne der eigenen Ziele zu benutzen. »Außenpolitik bedeutet in vielen Fällen, daß man in der Verfolgung nationaler Interessen einen Weg suchen muß, der die eigene Öffentlichkeit befriedigt, ohne die Öffentlichkeit des Auslands gegen sich aufzubringen.«(10)
Dies sind häufig Balance-Akte. Offentlichkeit in diesem Sinne ist auch weniger ein diffuses moralisches Gebilde, vielmehr ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen mit besonderen Rollen für die parlamentarische Opposition und für die Massenkommunikationsmittel, also derjenigen, die in und mit ihnen das Sagen haben.
Der Funktionalisierung von Öffentlichkeit entspricht die Funktionalität der Geheimhaltung. Bei den Legislativen in modernen parlamentarischen Demokratien, ihren dem Prinzip Öffentlichkeit sozusagen am meisten verpflichteten Organen, ist die Geheimhaltung »sogar so notwendig, daß jeder Versuch, sie etwa durch radikale Reformen abzuschaffen, nur dazu geführt hat, den Schauplatz für wichtige Entscheidungen zu verlagern; aus den Plenarsitzungen in die Ausschüsse, aus den Ausschüssen in die Parteigremien usw.«(11) Die inoffizielle Soziologie nennt diesen Vorgang, mit dem Macht-Diffusion verhindert wird, das »Gesetz des wandernden Kerns«. Das ist vielleicht ein bißchen zu bildhaft ausgedrückt; gemeint ist damit eine ubiquitäre soziale Erfahrung (die Akademiker meiner Generation zu ihrem Leidwesen in der Hochschulpolitik der vergangenen 15 Jahre bis zum Überdruß machen mußten), daß immer dort, wo sich der Kreis der an politischen Entscheidungen Beteiligten ausweitet, der Entscheidungsprozeß somit öffentlich(er) wird, sich er sich aufzuspalten beginnt, und zwar in einen offiziellen, uneigentlichen und in einen diesem vorgelagerten inoffiziellen, eigentlichen Entscheidungsprozeß, zu dem nur ein sehr viel kleinerer Kreis Zugang bekommt. So ähnlich, klären uns die Ethnologen auf, funktioniert das auch in den sogenannten primitiven Gesellschaften(12), was ein mächtiges Indiz dafür ist, daß es sich auch in Zukunft nicht ändern wird.
»Das Geheimnis ist im innersten Kern der Macht.«(13) Das ist, wenn auch mystisch tremolierend, nichts als eine empirische Feststellung.
Um hier gleich einen spannend erscheinenden, aber letztlich in einer Sackgasse endenden Nebenweg abzusperren – wir sprechen hier von politischen Prozessen in der Außenpolitik, nicht von Geheimdiensten aller Art, über die es ein Übermaß an apologetischer und kritischer Trivialliteratur gibt, in der die substantielle Armseligkeit dieser für die Politik weitgehend überflüssigen Institutionen verdeckt wird, einmal so und einmal anders herum. »Ohne Geheimagenten fände das ewige Mißtrauen der Mächtigen wohl überhaupt keine Linderung. Schon dadurch mag Spionage zur Verminderung der Aggressivität erheblich beitragen.«(14) Das ist mehr als zweifelhaft. Auch Pornofilme und -heftchen verschaffen ja dem ewigen Verlangen der Unmächtigen keineswegs Linderung.
Das Verschwinden der Verantwortung
In der internationalen Politik hat sich in den letzten Jahren um die Begriffsachse geheim/öffentlich ein Doppelstandard ausgebildet, der leicht zu durchschauen ist. Aber hier wie anderswo bleibt das Durchschauen folgenlos; außerdem sind Doppelstandards schließlich ja auch dazu da, daß man Widersprüchlichkeiten unbelastet durchhält(15). Es lassen sich die Ebene der deklaratorischen, öffentlichen und an Öffentlichkeiten adressierte Politik und die einer unsichtbar bis geheimen, an direkte politische Akteure adressierte Politik unterscheiden. Ein etwas melancholisch stimmendes Beispiel für das friedliche Nebeneinander von Aktivitäten auf diesen beiden Ebenen bietet die UNO-Politik. Auf den Generalversammlungen wird internationale Politik öffentlich betrieben. Am Rande der Generalversammlungen treffen sich die Akteure zu Einzelgesprächen, vertraulich in der Methode, uneinsehbar für Außenstehende im Inhalt; und nicht nur der in derlei Dingen geradezu rekordsüchtige Außenminister der Bundesrepublik Deutschland bewertet den politischen Erfolg einer Generalversammlung hauptsächlich an dem, was »am Rande« passiert ist. Allerdings sind es nur die Kurzsichtigen unter den Zynikern, die daraus den voreiligen Schluß ziehen, also sei es vollkommen gleichgültig, was auf der deklaratarischen Ebene der internationalen Politik veranstaltet wird. Das Gegenteil ist richtig, das Doppelstandard-System funktioniert natürlich nur, wenn die Standards auf beiden Ebenen gültig sind. Sie sind eben nur für verschiedene Zwecke gültig.
Immerhin gibt es bei internationalen Organisationen wie der UNO noch diese Ebene der symbolischen Politik, auf der grundlegende soziale Werte wie Frieden und Wohlfahrt als Zielprojektionen (wenn auch mit Hintergedanken) umworben werden. Dies ist gewiß ambivalent. Ich bin mir indes ziemlich sicher, daß solche Ambivalenz“ nicht ohne weiteres negativ zu beurteilen ist, wozu es aus entgegengesetzter Motivation sowohl »konservative« wie »progressive« Beobachter der internationalen Politik drängt. Ein Beispiel für erstere bietet etwa Walter L. Bühl in seinem klugen Buch über »Transnationale Politik«: »Obwohl die außenpolitisch engagierte Öffentlichkeit nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung umfaßt und der definitive Einfluß der öffentlichen Meinung auf die Gestaltung der Außenpolitik nicht überschätzt werden soll, ist sie (auf längere Sicht gesehen) insofern eine wichtige Kontextvariable, als über die öffentliche Meinung eine typische Transformation der politischen Entscheidungen in Richtung einer größeren Dramatisierung der Ereignisse, der Primitivierung der Alternativen und einer zyklischen Verlaufsform stattfindet.« Das ist nicht falsch, aber es ist auch nicht die ganze Wahrheit. Durch die Einschränkung der Möglichkeit zur Geheimdiplomatie, zu Geheimabkommen und des Verbergens komplexer politischer Handlungen vergrößern sich ja auch die Chancen, solche Handlungen zu korrigieren oder, aus anderer Sicht, korrigieren zu müssen: Man kann dies etwa am Verhalten westlicher Regierungen in ihrer Südafrika-Politik während des vergangenen Jahrzehnts verfolgen. Aber natürlich sind diese Chancen insgesamt nur schwächlich, darüber darf man sich keine Illusionen machen.
Demgegenüber ist mit dem Stichwort der transnationalen Politik ein anderer, schon heute umfangreicher und weiter wachsender Bereich des internationalen Systems zur Sprache gekommen, in dem die Begriffsachse geheim/öffentlich eigentlich keine Rolle mehr spielt. Die Vielfalt der in sich gebrochenen, miteinander verschachtelten, im einzelnen gar nicht mehr identifizierbaren nationalen, organisationsinternen, ökonomischen und anderen Interessen, welche das Handeln und Verhalten von wichtigen Akteuren in diesem Bereich bestimmen, also etwa (wahllos herausgegriffen aus einer Riesenzahl) der Internationalen Energie-Agentur, der Pugwash-Conference, der Katholischen Kirche, dem Volkswagenwerk, der Sozialistischen Internationale oder dem P.E.N. Club, läßt sich nicht nur nicht mehr überschauen, sie ist auch für die beteiligten Subjekte selbst sozusagen weder geheim noch öffentlich. Damit aber verschwindet auch das gängige Zuordnungs-Schema von Handlung und Handlungsfolge; von trial and error, von Kosten und Nutzen, entschwindet die Kategorie Verantwortung aus der internationalen Politik, welche die einen für eine möglichst ungestörte (Funktions-)Elite politischer Akteure und die anderen für eine an der Überwindung von Ungerechtigkeit, der Verbreitung von Menschenrechten und der Bewahrung des Weltfriedens interessierte Öffentlichkeit reklamieren.
Verschwörungstheoretiker, das kommt am Ende heraus, sind also Moralisten, die mit relativ einfachen, meist binären Einteilungsrastern das Konzept Verantwortung in der internationalen Politik retten möchten. Bekanntlich tun sie das in der Regel auf absurde Weise, indem sie die Verantwortung für Schlimmes jemandem in die Schuhe schieben. Zwar ist nicht wirklich alles so simpel, wie es zutage liegt, auch in Bonn nicht, wo man, nach einem Bonmot von Johannes Gross, das Abgründige imaginiert, weil man eben dem Simplen, das zutage liegt, nicht glauben mag. Aber das, was in den internationalen Beziehungen eben nicht zutage liegt, was mit viel Aufwand aufzudecken, ja zu entlarven auch ein Beruf ist, das sind in der Regel nicht die grandiosen oder perfiden Geheimnisse, sondern Routineangelegenheiten vor beschränkten Horizonten. Rezepturen zur Offen-legung reißen diese Horizonte nicht auf. Stattdessen verschieben sie, mit leichter Zeitverzögerung, die Grenze zwischen dem Offiziellen und dem Inoffiziellen. Außenpolitik der Demokratie unterscheidet sich von der aristokratischen Außenpolitik im Grad ihrer Komplexität, der ist nämlich höher. Das hat aber weder etwas mit Effizienz noch mit Moral zu tun, weder mit Verfall noch mit Fortschritt.
Verweise
1 Die »Protokolle der Weisen von Zion« sind eine grobe Fälschung, das war schon lange bekannt, als dennoch viele Menschen überall m der Welt sie für echt hielten. Das ist ein weiterer Vorteil von Verschwörungstheorien: sie sind unwiderlegbar.
2 Der andere Theorie-Typ, am Stammtisch und in politologischen Seminaren, ist der Verselbständigungs-Ansatz. Etwa; das kriegt eben keiner in den Griff, wobei »das« die Bürokratie sein kann, die Technik, das Wettrüsten, der militärisch-industrielle Komplex usw.
3 W.I. Lenin, Dekret über den Frieden, hier zit. nach: K. Farner, Th. Pinkus (Hrsg.), Der Weg des Sozialismus. Quellen und Dokumente vom Erfurter Programm 1891 bis zur Erklärung von Havanna 1962, Reinbek 1964, S. 52.
4 Ansprache von Präsident Wilson vor dem Kongreß am 8.1.1918, m: Woodrow Wilson, Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Versailles anno 1919, hrsg. (1923), v. R.St. Baker, Bd. III,
S Die Forderung nach einer solchen Professionalisierung und nach der Überwindung einer »diplomacy by dllettantism« durchzieht .z.B. das Buch von George F. Kennan, Amerlcan Drplomacy 1900-1950, New York 1952.
6Vgl. Joachim Pabst, Internationale Beziehungen neuen Typs. Erfahrungen, Entwicklungsetappen, Probleme, Berlin/Ost 1981 – in der Tat viel Probleme!
7 Nichtangriffsvertrag Deutschland-Sowjetunion vom 23.8.1939, zit. nach: H.-A. Jacobsen (Hrsg.), Der Weg zur Teilung der Welt. Politik und Strategie 1939-1945, Koblenz 1977, S. 27.
8 Henry A. Kissinger, Memoiren 1968-1973, München 1979, S. 1369. Mir geht es hier nicht um die Chuzpe des Vorschlags. Auch nicht um die seiner Zurückweisung. Man soll nur erkennen, daß beide Politiker zu Geheimhaltung und Öffentlichkeit ein instrumentelles Verhältnis und kein moralisches zeigen. Das macht sie keineswegs tadelnswert.
9 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, München u. Leipzig 1922, 2. Aufl., S. 273.
10 Wilhelm G. Grewe, Spiel der Kräfte in der Weltpolitik. Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen, Frankfurt/M. 1981, S. 322, mit einigen eindrucksvollen Beispielen.
11 Carl J. Friedrich, Pathologie der Politik, Frankfurt/M, und New York 1973, S. 145.
12 Dazu, so amüsant wie gelehrt, F.G. BaileY, MoralitY and Expediency, Oxford 1977.
13 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 333.
14 G.-K.
Kaltenbrunner (Hrsg.), Wozu Geheimdienste? Kundschafter, Agenten, Spione, München 1985, S. 10 (aus dem Vorwort des Herausgebers).
15 Vgl. hierzu: Kl. Moritz, Doppelstandard, Soltro 1982 (Grundlagen gesellschaftlicher Reproduktion, Bd. 3) gegenüber einer eher »naiven« Anthropologie ä la Bateson und anderer wird in diesem Band einer, wie mir scheinen will, angemesseneren und im übrigen auch spannenderen Theoriearbeit das Wort geredet.