Ein Traditionalist. Zum Tode von Wolfgang Abendroth.
Aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S.21-23
Die Tradition einer »westdeutschen Linken links von der SPD, so schrieb die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« in ihrem Nachruf für Wolfgang Abendroth, werde aufrechterhalten nicht durch gesellschaftliche Analytik, sondern durch »Bewunderung für Einzelpersönlichkeiten«; und so sei es die Person Abendroth gewesen, die »junge Menschen an sich zog und an sozialistische Ideen band«.
So ganz falsch ist das nicht. Traditionen politischer Bewegungen und politische Theorien, die auf gesellschaftliches Handeln gerichtet sind, vermitteln sich nur zum Teil und nur unter großen Schwierigkeiten über Literatur. Überlieferung ist auf Menschen angewiesen, auf die Anziehungsfähigkeit erkennbarer politischer Praxis, auf Diskussionsbereitschaft, in der persönliches Engagement steckt. Dies gilt insbesondere für Zeiten, in denen bestimmte Traditionen historisch gebrochen sind, in den gesellschaftlichen Institutionen kaum Ausdrucksmöglichkeiten haben, von den vorherrschenden Meinungen her verdrängt werden sollen.
Genau hier ist auszumachen, was Wolfgang Abendroth für die Linke m Westdeutschland bedeutete. Hier allerdings ist auch zu korrigieren, was die FAZ im Nachruf auf Abendroth beschrieb. Der war ein Mensch, der nicht die Rolle des distanzierten Wissenschaftlers annahm, nahm, der auch keinerlei Ähnlichkeiten mit den Technikern der »Politarbeit« hatte. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie Abendroth »persönlich« wirkte, wie sehr im Kontakt zu ihm menschliche Verbindlichkeit entstand; ganz unverblaßt ist für mich die Erinnerung an den akademischen Lehrer Abendroth zu Beginn der 50er Jahre, als wir – die ersten Marburger akademischen Schüler – den damals einzigen marxistischen Hochschullehrer in der Bundesrepublik kennenlernten und bald wußten, daß er weitaus mehr in seine Universitätstätigkeit einbrachte als nur den versierten Umgang mit wissenschaftlicher Lehre. Abendroth faszinierte, aber das war keine wissenschaftlich oder persönlich »freischwebende« oder gar irrlichternde Faszination sondern die Anziehung lag darin, daß sich bei ihm Theorie und Praxis biographisch überzeugend verbanden und darin eine Traditionslinie zu entdecken war, die nach dem deutschen Faschismus sonst kaum noch existierte, nämlich die einer stetigen, solidarischen und zugleich kritischen intellektuellen Arbeit für die sozialistische Bewegung.
Das eine solche wissenschaftliche und politische Lebensweise in jenen Jahren hierzulande selten geworden war, hatte seine Gründe in den Verlusten, die der Arbeiterbewegung und der linken Intelligenz in Deutschland durch Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung unter der Herrschaft des NS-Systems zugefügt worden waren, es hatte Grunde aber auch in den Nachkriegsverhältnissen. Der Kalte Krieg drängte zu politischen Parteinahmen, die so oder so einem kritisch-marxistischen Denken keinen Raum ließen; die Erfahrung des Stalinismus und vieler Erscheinungen der sowjetischen Politik in Deutschland veranlaßte viele Linksintellektuelle zum »Abschied von der Tradition«; andere fügten sich den jeweiligen Parteiapparaten ein (in der Hoffnung, so noch am ehesten politisch wirksam werden zu können – um den Preis gedanklicher Selbständigkeit. Andererseits waren die westdeutschen Wissenschaftsinstitutionen sehr darum bemüht, Marxisten den Zugang zu verwehren. Es war ein Glücksfall, daß Abendroth an der Universität zum Zuge kam, und über viele Jahre hin haben ihm die Kollegen dort das Leben schwer gemacht, eben weil er seine politische Identitat nicht aufgab. Wer an den westdeutschen Hochschulen, außer Abendroth, hat in den fünfziger Jahren den wissenschaftlichen Anschluß an die Geschichte der Arbeiterbewegung mit dem Blick auf politische Praxis in der Gegenwart hergestellt? Wer, außer Abendroth, hat Marxismus als analytische Methode zur Grundlegung aktuellen politischen Handelns nahegelegt? Da bleibt kaum ein anderer – bis im Zuge der Studentenbewegung ein akademischer Klimawechsel sich anbahnte.
Wolfgang Abendroth war in seinen jungen Jahren von den Gedanken und Menschen der »Kommunistischen Partei-Opposition« KPO geprägt worden; ein gutes Stück seiner politischen Sozialisation lag außerdem in den Erfahrungen der damaligen linken Jugendbewegung, die offen war auch für die Diskussion mit jungen Menschen anderer politischer Einstellung. Diese beiden Herkünfte waren höchst produktiv für die wissenschaftliche und politische Praxis Abendroth’s nach 1945 als er die Zeit der Illegalität der Haft und des erzwungenen Dienstes im Strafbataillon 999 hinter sich hatte. Abendroth war in einem politischen Kontext aufgewachsen, dem »Linientreue« zu Zwecken dieser oder jener Parteiführung fremd war; er dachte sozialistische Theorie nicht in den Kategorien des Parteibefehls. »Sowjet-marxistische« Dogmatisierung ist ihm nie in den Sinn gekommen. Er sah die Durchsetzung der sowjetischen Gesellschaft als Voraus-setzung historischen Fortschritts an, als Chance, – aber das hat ihn was die Erinnerung an Abendroth im Felde der DKP leicht vergißt nie daran gehindert, katastrophale Fehlent-wicklungen des sowjetischen Systems deutlich und systematisch unter Kritik zu nehmen. Andererseits ist Abendroth nie sozialdemokratischen Illusionen aufgesessen, wonach Wirtschaftswachstum plus parlamentarische Regierungsform aus sich heraus Demokratie und soziale Interessen der abhängig Arbeitenden, auf abhängige Arbeit Angewiesenen verbürgen könnten; er hat nie aus dem Blick verloren, daß die Gefahr eines neuen Faschismus bestehen blieb. Es lohnt sich immer noch, unter diesen Aspekten Abendroths Gegenentwurf zum Godesberger Programm zu lesen, der sich nicht als »mehrheitsfähig« mißverstand, sonder darauf angelegt war, die innerparteiliche Diskussion der SPD mit überkommenen politischen Einsichten der Arbeiterbewegung in Berührung zu bringen.
Abendroth war sich nie zu schade, politische Tagesarbeit zu übernehmen. »Wohlmeinende« Wissenschaftskollegen haben ihm oft geraten, er solle seine Energien auf größere akademische Publikationen konzentrieren, statt sie auf aktuelle Referate und Expertisen für Gewerkschaftsorganisationen oder auf die Mitarbeit in kleinen links-sozialistischen Gruppen und Zeitschriften zu »vergeuden«, In solchen Ratschlägen lag eine völlige Verkennung der politischen Persönlichkeit Abendroth’s. Er wußte, was er tat, als er seine Zelt und seine Fähigkeiten daran setzte, in jenen für die westdeutsche Linke dürren Jahren theoretische und personelle Kontmultaten zu sichern, mochte deren Reichweite noch so bescheiden sein. Er trug wesentlich dazu bei, daß klassenpolitische Sichtweisen aus einigen westdeutschen Gewerkschaften nicht vollends verschwanden; zahlreiche Referate und Artikel Abendroth’s beim Sozialistischen Deutschen Studenten-bund, bei der SDS-Förderergesellschaft, dann beim daraus entstehenden Sozialistischen Bund, oder in den »Funken«, der »Sozialistischen Politik«, den »Plänen«, den »Werk-heften« u.a. Publikationen sorgten dafür, daß die linkssozialistischen Positionen präsent blieben. Als dann mit der Studentenbewegung die intellektuelle Linke Auftrieb erhielt, erwies sich Abendroth als ein Mann, der für Publikumserfolg nicht anfällig war. Durchaus gegen den damaligen Trend warnte er die Neue Linke davor, ihre eigene politische Konjunktur zu überschätzen, rechtsstaatliche Errungenschaften zu negieren oder die SPD und die Gewerkschaften zum alten Eisen zu werfen. Er begrüßte es, daß die kommunistische Richtung der Linken in der Bundesrepublik in Gestalt der DKP wieder legal auftreten konnte und hoffte darauf, daß hier an Überlieferungen des deutschen Kommunismus aus dessen »vorbolschewistischer« Zeit wiederangeknüpft werden könne. Aber Abendroth ließ sich nun wiederum auch nicht zum Nachbeter der DKP-Lesarten von Arbeiterbewegungsgeschichte machen; ganz zutreffend ist im Nachruf der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« bemerkt, daß Abendroth es riskierte, von den einen »wegen einer gewissen Nähe zur DKP, von anderen wegen einer nie aufgebenen gewissen Distanz zu eben dieser DKP angegriffen zu werden«.
Abendroth hat zeitlebens an dem theoretischen Potential und an dem praxisorientierten, kritischen Zugriff festgehalten, die er vor 1933 m authentischen Formen der deutschen Arbeiterbewegung kennengelernt hatte. Insofern war er Traditionalist. Die Linke in der Bundesrepublik wäre heute besser dran, hatte sie mehr von solcherart Traditionalisten zur Verfügung gehabt.