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Ein Schlüssel zu vielen Türen

Christel Neusüß‘ Analyse männlicher Denkmuster

aus: vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S. 119-121

Über den Zusammenhang von Liebe und Arbeit wurde in den letzten Jahren in der Frauenbewegung und -forschung viel nachgedacht. Jene Tätigkeiten der unzähligen Frauen, die aus Liebe unentgeltlich und Tag für Tag unter der Bezeichnung »Hausarbeit« vorgenommen werden, dürfen endlich auch Arbeit genannt und in den Rang gesellschaftlich notwendiger Arbeit gehoben werden – auch wenn es noch vereinzelt Marx-Orthodoxe geben mag, die vor den Realitäten des Lebens die Augen verschliessen und lieber bestimmten »Kopfgeburten« nachjagen. Diese »Kopfgeburten« sind Thema des neuen Buches von Christel Neusüß:

Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder Die Genossin Rosa Luxemburg bringt alles durcheinander, Verlag Rasch und Röhring, Hamburg, 1985.

Christel Neusüß, Professorin an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin, hat wichtige Artikel zu Sozialstaats- und Imperialismustheorien, zur Geschichte der Arbeiterbewegung und zur Gewerkschaftspolitik verfaßt. 1972 veröffentlichte sie ihr Buch über »Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals«. Jetzt beschreibt sie den Ablösungspro-zeß von ihrem »Zweitvater Marx« (S. 8), der bei ihr einhergeht mit einem »Perspektivwechsel«: »… nicht mehr nur als theoretischer Kopf von oben, sondern als qua Geschlechtszugehörigkeit Betroffene auch von unten« S. 18 möchte sie künftig Theorie und Geschichte der Arbeiterbewegung betrachten. Marx, so ist ihr klar geworden, hat als Mann geschrieben, und er hat seinen »männlichen Blick« nicht zum Gegenstand seiner sonst so scharfen Reflexionsfähigkeit gemacht.

Ausgesprochen kurzweilig liest sich ihr Einleitungskapitel (»Über was schreibst Du denn?«), in dem sie darlegt, wie sie darauf kam, daß sie sich selbst als Frau jahrelang von ihrer wissenschaftlichen und politischen Arbeit abgetrennt habe. Sie wollte nicht zu den Benachteiligten und Unterdrückten gehören – und schien es äußerlich gesehen ja auch nicht. Daß sie ihr Frau-Sein und ihren wissenschaftlichen Kopf schließlich doch noch zusammenbekam, verdankt sie persönlichen Erfahrungen in ihren Beziehungen und der Debatte zwischen Feministinnen und Marxisten über die Frage, ob Marx die Hausarbeit berücksichtigt habe oder nicht. Diese Debatte ist auch Thema ihres ersten Kapitels mit dem vielsagenden Titel: »Der Mann Marx. Kopf und Hand – wo bleibt denn da der Rest?« Das Thema Marx und Hausarbeit ist der Ausgangspunkt für ihre weiteren Überlegungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, die sie jetzt mit »subjektiven Augen«(S.18) erforscht.

Sie wirft Marx vor, er sei bei seiner Analyse von Kapital und Arbeit allein von den Verhältnissen in der Fabrik ausgegangen und habe die »produktiv-wertbildende Arbeit« der Mütter

– Christel Neusüß schreibt: »meiner Mutter«

– nicht zur Kenntnis genommen.

Die Kritik des Marx’schen Arbeitsbegriffes, der große Bereich menschlicher Tätigkeiten ausspare, bzw. als nicht produktiv werte, führt sie zu einer männlichen Form des Denkens überhaupt, die sie – in Anlehnung an ein berühmtes Zitat aus dem ersten Band des »Kapitals« – das »Baumeistermodell« nennt. Marx hatte dort ausgeführt:

»Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht, daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt, er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß.« MEW, Bd. 23, S. 193

Das »Baumeistermodell«, als ein umfassendes, nicht nur auf bestimmte Tätigkeiten begrenztes Denkmuster, verfolgt Christel Neusüß durch die Geschichte der Arbeiterbewegung hindurch bis heute. Sie findet es nicht nur bei Vertretern der Gewerkschaften, der SPD und des »realen Sozialismus« wider, sondern auch bei der Gegenseite, bei den Unternehmern, ihren Parteien und Ideologen. Kapitalismus und »Arbeiterkopfbewegung« wollten glauben machen, so die Autorin, die Arbeit der Mütter mit ihrer speziellen Produktionsweise sei nicht produktiv. Sie arbeitet heraus, daß beide Fraktionen überhaupt alle Tätigkeiten, die nicht gemäß »Baumeistermodell« organisiert würden, als »instinktivvormenschlich« auffaßten. Dazu zähle auch die Vorstellung von der »geschichtslos« herumliegenden Natur, die es, ebenso wie die sogenannten »primitiven Völker« zu beherrschen gelte. Diese Einstellung habe Folgen:

»Daß Frauen, sofern sie nicht Fabrikarbeiterinnen sind, „primitive Völker“ und die Natur so behandelt werden, als seien sie nicht produktiv, und daß der Mann von der Gesellschaft nur als produktiv betrachtet wird, wenn er in der Fabrik malocht oder in der öffentlichen Sphäre tätig ist, all das rächt sich. Dieses Denken entspricht eben, wenn es sich m Praxis umsetzt, nicht der gegenständlichen Wahrheit.
Ausbeutung, Gewalt, Raub, Zerstörung signalisierten die Unwahrheit.«(S. 286) Ausbeutung, Raub, Zerstörung und Gewalt aber müssen, wenn sie zu offensichtlich werden, verdrängt, weggeschoben, »weginterpretiert« werden. Brutalitäten von Arbeitern gegen ihre Frauen werden so zum »Restbestand des alten Patriarchats«, Gewalt und Zerstö- rung zu leider nun mal notwendigen Stationen auf dem Weg des »zivilisatorischen Fortschritts«.

An dieser Stelle ihrer Kritik entdeckt Christel Neusuß Gemeinsamkeiten mit Rosa Luxem-burg. Nirgendwo finde sich bei ihr jene »List der Vernunft«, mit der Gewalt und Zerstörung irgendwann einmal als produktiv für den historischen Fortschritt eingeordnet wurden. Rosa Luxemburg frage in ihren ökonomischen und historischen Schriften nicht wie ihre männlichen Kollegen nach den »Wunderwerken der großen Industrie«, sondern nach dem »Schicksal der Völker im Prozeß der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes«(S.288). Auch an anderer Stelle unterscheide sie sich in ihrer Blickrichtung ganz erheblich von den Männern der Arbeiterbewegung: Im Gegensatz zur Marx’schen Kopfgeburt von der »ganzen Welt als kapitalistischer Nation« gehe sie von der historischen Realität aus Rosa Luxemburg hatte in diesem Zusammenhang von einer »blutleeren theoretischen Fiktion« gesprochen).
Die Gegenüberstellung verschiedener politischer und organisatorischer Positionen von Rosa Luxemburg mit den vom männlichen Denkmuster geprägten Auffassungen liest sich sehr spannend.

Christel Neusuß begründet Rosa Luxemburgs andere Denkweise mit den Praxiserfahrungen und -traditionen ihres Geschlechts. Sie haben sich Arbeit, Entwicklung und Veränderung in der Tradition der Arbeitserfahrungen von Frauen, die Kinder aufzögen oder für ihr Großwerden verantwortlich wären, vorgestellt. (Hier fallt allerdings sofort auf daß Rosa Luxemburg selbst keine Kinder gehabt hat). Christel Neusuß schreibt:

»Ich interpretiere ihre Vorstellung vom sozialen Widerstandshandeln und von der gesellschaftlichen Veränderung als eine tiefgreifende Kritik der Auftrennung des Gesamtzusammenhangs menschlicher Praxis in männlich- kopfgeleitete und weiblich-gefühlsgeleitete Tätigkeiten, in Geschichte und ‚Natur‘ …«(S. 328). Allerdings habe sie sich niemals Gedanken über Geschlechtszugehorigkeiten und die damit verbundenen Traditionen von Praxis, Herrschaft und Ausbeutung gemacht. Deshalb sei sie an dieser Stelle selbst »im Kopf stecken geblieben«(S. 328).
Trotz dieses spannenden Ansatzes wurde mir die Lektüre des Buches oft mühsam und zäh. Zu viel scheint in diesen, wie ein endloses Selbstgespräch dahinfließenden Text hineingepackt. Christel Neusüß‘ Ziel: die »Entschlüsselung speziell männlicher Muster von Arbeit, Produktivität und sozialem Handeln«(S.18) ist ja auch ein großer Anspruch – zu umfassend vielleicht, um ihn als Einzelne, auf einen Schlag und in einem Buch einzulösen. Indes,das war auch nicht ihre Absicht .Lediglich ihren Erkenntnisstand wolle sie darlegen, schreibt die Autorin und Erkenntnisse seien ja immer im Fluß.
Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn die Entwicklungsphasen der Erkenntnis in ihrer ganzen Breite veröffentlicht werden, noch dazu in streckenweise unerträglich schlampiger Sprache und Zitierweise. Vielleicht hat sie auch mit einem Schlüssel zu viele Türen aufsperren wollen. –

Trotzdem, die Tür zu Rosa Luxemburg habe ich mir gern aufschließen lassen. Der Ansatz, über Rosa Luxemburg als »Frau, die Politik macht« (S. 326) nachzudenken, ist lohnend. Hoffentlich gelingt es den Leserinnen und Lesern des Buches, bis dahin vorzudringen.

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