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Neokon­ser­va­tismus - Sozial­de­mo­kratie

Neue soziale Bewegungen

aus: vorgänge Nr.78, (Heft 6/1985), S.1-6

Kapitalistische Marktwirtschaften lassen sich als defizitäre Vergesellschaftungsformen kennzeichnen da sie mehr an Bestandsvoraussetzungen verbrauchen, als sie autonom zu reproduzieren vermögen. Daher sind sie strukturell instabil – wie werden sie stabilisiert?

Ich sehe zwei unterschiedliche Typen der Stabilisierung, die im Laufe der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften wirksam wurden:

-Systemstabilisierung durch Mobi-lisierung von vorkapitalistischen traditionalen Werthaltungen;

– Systemstabilisierung durch institutionelle systemverträgliche Innovation.

Erstgenannter Typus bezeichnet das Muster bürgerlicher Krisenreaktionen(1) letzterer den Pfad sozialdemokratischer Politikentwicklung.

Lorenz von Stein(2) verdanken wir eine der frühesten und zugleich prägnantesten Bestimmung der wesentlichen Merkmale nach-traditionaler Gesellschaften: Das aus feudalen und ständischen Bindungen freigesetzte Individuum und die gesellschaftliche Freisetzung und Anerkennung des individuellen Interesses. Von Stein versah diese Analyse noch mit optimistischem Aufbruchspathos mit dem es bürgerlicherseits allerdings bald vorbei war; Die Theorieansätze befaßten sich samt und sonders damit beide Bestimmungsmerkmale bürgerlicher Gesellschaft wieder aus der Realität abzudrängen. Dem dienten Konstruktionen überindividueller gesellschaftlicher Wirklichkeiten, denen der einzelne ein- und untergeordnet sei bzw. denen er sich unterzuordnen habe. Im Begriff der »Volksgemeinschaft« erreichte die Unterordnung und Zerstörung von Individualetat ihren tragischen Höhepunkt. Mag es auch sein daß der Nationalsozialismus für wesentliche Teile des Konservatismus den Untergang bedeutete so steht er doch in der Konsequenz der konservativen Denkversuche zur Stabilisierung durch Reaktivierung traditionaler Werte und der Beschwörung vormoderner Vergesell-schaftung, Gemeinschaft. »Die Banalität des Bösen ist der Schatten, der den guten Taten einer traditionsgebundenen Moral in einer nicht mehr traditionalen Gesellschaft auf dem Fuße folgt.«(3)

Nach dem zweiten Weltkrieg, besonders in den 60er Jahren, richtete sich die konservative Hoffnung auf Stillegung der gesellschaftlichen Dynamik nicht mehr auf die Mobilisierbarkeit von vormodernen Werten sondern auf die allgemeine Anerkennung von Sachzwängen. »An die Stelle eines politischen Volkswillens«, schreibt Helmut Schelsky 19619(4), »tritt die Sachgesetzlichkeit die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert.« Politik. als normativer Entscheidungsprozeß und als Abgleichung von Interessen erübrige sich mehr und mehr. An ihre Stelle trete Politik als Exekution von Sachgesetzlichkeiten zwecks Realisierung optimaler Ergebnisse – im Interesse aller. Dies ist der Bruch mit dem Alt-Konservatismus: Stabilität kapitalistischer Marktwirtschaften wird nicht mehr unter Rückgriff auf vormoderne Traditionsgehalte sondern im System selbst, als Ergebnis der Leistungsfähigkeit des Systems bei der Befriedigung der Interessen aller erwartet. Dies sehe ich als die Geburtsstunde des Neokonservatismus an(5).

Nun – die Erwartungen wurden bald enttäuscht. 1968 waren sie dahin und hinterließen eine Riege traumatisierter Neu-Altkonservativer. Sie flüchteten zurück in das alte Muster: auf die Beschwörung traditionaler Werte und Tugenden zwecks Systemstabilisierung. Ein Manifest schufen sie sich in der Bundesrepublik mit den Thesen zum »Mut zur Erziehung«.

Unbedeutsam, einflußlos sind sie damit keineswegs. Aber ihre Wirksamkeit ist doch gebrochen. Denn, sieht man genauer hin, so ist zu erkennen, daß die legitimatorischen Selbstdarstellungen etwa der CDU-Regierungspolitik nicht diesem alt-neuen Muster folgen. Hinter der Gemeinschaftsduselei von Bundeskanzler Kohl und Solidaritätsappellen von Arbeitsminister Blüm steht, wie vermittelt auch immer, nicht der Rekurs auf irgendwelche Werte, sondern der Appell an die »wohlverstandenen Interessen des Publikums«: »Es ist meine feste Überzeugung, daß die große Mehrheit der deutschen Arbeitnehmerschaft ganz genau weiß, daß nur durch Gemeinschaftsleistungen in dieser Situation etwas zu erreichen ist.«(6) Und: »Je mehr mitmachen, umso schwerer haben es diejenigen, die sich vom Spielfeld begeben und die Solidarität verweigern.«(7)

Erstes Zwischenergebnis: Konservatismus unterscheidet sich von Neokonservatismus darin, daß ersterer das Interesse tragende Individuum übergeordneten, »werthaltigen« Zusammenhängen einverleibt, während letzterer die Integration von Gesellschaft durch allgemeine Einsicht in deren Vorzüge – also: durch ihre Fähigkeit, die Interessen aller zu bedienen – sicherstellen will.

Die Konservierungsleistungen, die durch institutionelle Innovationen erbracht wurden, sind – allerdings mit einigen Widersprüchlichkeiten – der Sozialdemokratie zuzurechnen. Zwei große Schübe politischer Innovation sind von Bedeutung.

1. Die Entstehung von Sozialstaatlichkeit

Der Sozialstaat in seinen Anfängen ist kein Verdienst der Sozialdemokratie im Sinne unmittelbarer Autorenschaft(8); aber sie war Ursache und Auslöser – ein Umstand, den Bismarck mit. ambivalenter Anerkennung hervorhob und an den die Sozialdemokraten in der Folge anknüpften, um schließlich die Handlungskompetenz in Sachen Sozialstaat zu übernehmen. Ambivalent mußte die Stellung der Sozialdemokratie zur Sozialstaatlichkeit von Beginn an sein: »Wir sagen, uns ist jedes Mittel recht, und auch alle Mittel, welche man anwendet, um die Lage der Arbeiter zu verbessern, und darum haben wir nichts gegen die Vorlage. Wir lieben dieselbe aber auch nicht und sagen auch nicht, daß sie gut sei; wir sind nicht entzückt von dieser Vorlage, wir sehen in ihr wieder nur ein Palliativmittel, das nichts nützt.«(9)

Die Sozialdemokratie stand vor dem Dilemma, Besserungen der Lebenslage der Lohnab-hängigen mit konservierenden Effekten für das Gesellschaftssystem zu bezahlen. Damit ist eine wesentliche Differenzierung anzubringen: Von den beiden Konservierungs-Linien laufen bei den Konservativen die auf den einzelnen und die auf das System bezogenen politischen Gestaltungsabsichten ineinander. Lebenswelteffekt und Systemeffekt stehen im konservativen Kalkül m einer Fluchtlinie. Für die Sozialdemokraten hingegen laufen Lebenswelteffekt und Systemeffekt gegeneinander: Die unmittelbare Verbesserung der Lebenslagen, für die man ja kämpfen mußte, hat den Abbau von Systemveränderungsenergie, die man doch erhalten wollte, zur Kehrseite. Systemkonservierung ist hier eher unerwünschtes Nebenprodukt. Ich nenne dies das »historische Dilemma der Sozialdemokratie« (l0). Es wurde noch ein weiteres Mal auf die Spitze getrieben: In der Weltwirtschaftskrise, die den zweiten Schub institutioneller, systemerhaltender Innovation brachte.

2. Die Ausbildung des arbeitsmarktorientierten Wirtschaftsinterventionismus (Keynesianismus)

Fritz Tarnow(11) auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Leipzig 1931: »Nun stehen wir ja allerdings am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch – ja, was soll ich da sagen? – als Arzt, der heilen will?, oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? Diese Doppelrolle, Arzt und Erbe, ist eine verflucht schwierige Aufgabe.« Und sie wären bereit, ihm, dem Patient Kapitalismus, zu helfen, »so daß die Massen draußen wieder mehr zu essen bekommen, dann geben wir ihm die Medizin und denken im Augenblick nicht so sehr daran, daß wir doch Erben sind und sein baldiges Ende erwarten.« ebd.

Dieser Absicht allerdings kamen die Nazis und der Krieg zuvor. Die »Medizin«, die in der Zelt der Weltwirtschaftskrise entwickelt wurde, war der Keynesianismus. Er verkörpert jenen Typus einer »konservativen Revolution« (Werner Hofmann), die mit neuen Mitteln das Alte zu bewahren sucht. Keynesianismus und Sozialdemokratie stehen in besonderer Affinität zueinander. »Die Attraktivität Keynesscher Theorie für die Sozialdemokratie hat ihre Ursache darin, daß Keynes den Doppelaspekt des Lohnes erkennt: Lohn ist zwar einzelwirtschaftlich Kostenfaktor, gesamtwirtschaftlich aber eine der Determinaten der Gesamtnachfrage und somit ausschlaggebend für die unternehmerischen Gewinnerwartungen. … Anhand des Keynesschen Konzepts ließ sich das ehedem unüberwindliche Dilemma der Sozialdemokraten, einerseits die materielle Lage der Lohnab-hängigen verbessern zu wollen, andererseits um der Förderung des ökonomischen Funktionszusammenhangs willen Gewinne stützen zu müssen, unterlaufen. … Nun standen sozialdemokratische Umverteilungsbemühungen mit einem Male nicht mehr im Widerspruch zu kapitalistischen ökonomischen Funktionserfordernissen.«(12)

Die Phase des praktizierten Keynesianismus war dann verhältnismäßig kurz(13); Mitte der siebziger Jahre wurde deutlich, daß sein strategischer Schwerpunkt, der Beschäftigungsmultiplikator, zunehmend leer lief, und es stellte sich heraus, daß die Technik antizyklischer Verschuldung in der Phase säkularer Stagnation an ihre Grenze stieß. Doch damit kehrte man durchaus nicht zu einer Politik »klassischer« Interessenauseinandersetzungen zurück. Nun wirkte die Interessenformierung nach, die der Keynesianismus zustande gebracht hatte: daß die unterschiedlichen Interessen nicht primär gegeneinander gerichtet, sondern in einem gesellschaftlichen Gesamtinteresse aufhebbar, versöhnbar sind. Um das klaglose Funktionieren des »Ganzen« zu fördern, müsse man freilich einzelnen Gruppen Aufschübe ihrer Interessen – gleichsam als »Zukunfts-investition« in künftige Systemleistungsfähigkeit – abverlangen. Aufgabe der Gewerkschaften sei es zur Zeit nicht, »Forderungen zu stellen«, meinte Bundeskanzler Schmidt 1976, »sondern der Regierung zu helfen, die gegenwärtige Krise zu meistern«. Von einem anderen Anfang her gelangt man hier zu einem Denkansatz, der dem oben skizzierten neokonservativen strukturell stark ähnelt: Die Interessenposition der Lohnabhängigen, die zu befolgen oder zu befördern tragender Programmteil sozialdemokratischer Politik ist, wird als in einem System befindlich gedacht, in dem alle Interessen in funktionalen Beziehungen zueinander stehen. Die Funktionsweise dieses Systems dient den Interessen aller; Förderungen der Funktionsweise – und sei es durch momentanen Verzicht auf Interessendurchsetzung – im wohlverstandenen, langfristigen Eigeninteresse(14).

Ein zweites Zwischenergebnis: Während der auf Wertorientierungen gegründete Gesellschaftszusammenhalt der konservativen Gesellschaftsinterpretationen im Neokonservatismus durch ein Allgemeininteresse an Systemerhaltungsfähigkeit und Systemerhaltung un-terbaut wurde wandelt sich das sozialdemokratische Gesellschaftsverständnis von einem Modell antagonistischer Interessen in eines, für das die Einfügung der Einzelinteressen in einen übergeordneten Funktionszusammenhang kennzeichnend ist. Dies ist der theoretische Grund für die häufig betonte Tatsache(15), daß die »Wende« 1982 in der Bundesrepublik ihrem materialpolitischen Gehalt nach weit weniger dramatisch war, als dies in einschlägig interessierten Retrospektiven heute dargestellt wird.

Die Tragkraft von Gesellschaftsdeutungen, in denen gegensätzliche Interessen interdependent angeordnet vorgestellt werden, hat eine elementare Voraussetzung: Wirtschaftswachstum und damit Entschärfung des Verteilungskonfliktes in der Zeitperspektive. Diese Voraussetzung wird heute von zwei Seiten her in Frage gestellt. Zum einen erscheint Wachstum in Raten, die denen der sechziger Jahre vergleichbar wären, nicht mehr möglich. Zum anderen erscheint Wachstum, in dem geläufigen Ausmaß und der geläufigen Qualität, nicht mehr wünschenswert. Denn in zunehmendem Maße werden die politischen Exponenten des Industrialismus mit gesellschaftlichen Gruppierungen konfrontiert, die gegen die Folgerisiken industriellen Wachstums herkömmlichen Art Widerstand leisten. Der damit aufbrechende Konflikt lässt sich im Schema konservativ versus fortschrittlich als »schlecht« versus »gut« nicht mehr begreifen. Stellt er doch dies Schema selbst in Frage, indem er den industrialistisch okkupierten Fortschrittsbegriff attackiert. Die sich derart manifestierenden Beharrungskrafte nötigen uns, die Bedeutung von Konservatismus noch in einer ganz anderen Dimension auszuloten.

Karl Mannheim hat zur Erklärung des Unterschieds zwischen progressiv und konservativ folgende »Differenz des Zeiterlebens« herangezogen: »Der Progressive erlebt die jeweilige Gesellschaft als den Anfang der Zukunft, während der Konservative die Gegenwart als die letzte Etappe der Vergangenheit erlebt.(16)

Diese Unterscheidung schließt ein, daß der Progressive zugleich auf verändernde Gestaltung der Zukunft, der Konservative auf Erhaltung des Gegenwärtigen aus ist.

Genau diese Unterscheidung wird in unserer Gegenwart nun durch neuartige technische Gestaltungsmöglichkeiten von Zukunft und damit einhergehende neue Probleme in Frage gestellt. Die heutigen technischen Gestaltungsmöglichkeiten laufen mehr und mehr auf irreversible Festlegungen hinaus: Sei es, daß realisierte Großprojekte nur mit gigan-tischem finanziellen Aufwand rückgängig zu machen wären, sei es, daß selbst nachdem sie rückgängig gemacht wurden, irreparable Folgeschaden bleiben; sei es gar, daß einmal in Gang gesetzte technische Anlagen nicht mehr stillgelegt werden können und als quasi Naturtatsachen für alle Zukunft akzeptiert werden müssen(17). All dies stellt nicht nur einfach Formen der Zukunftsgestaltung dar, sondern bedeutet Festlegungen, in deren Folge weitere Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung zerstört werden. Politik mit solch grundlegenden Gestaltungsqualitäten setzt das konservativ/progressiv-Schema außer Kraft: Projekten, die auf Veränderungen hinauslaufen, in deren Folge es nichts mehr zu verändern gibt, steht nun eine Politik der Bewahrung zukünftiger Veränderungsmöglichkeiten gegenüber. Das Bestreben, eine solche Politik durchzusetzen, ist der gemeinsame Nenner der »neuen sozialen Bewegungen«. Wir erleben also heute eine neue Konfrontation zwischen einem Veränderungswillen, der auf endgültige Festlegungen hinausläuft und Beharrungsbestrebungen, die Veränderungsmöglichkeiten offen halten wollen. Das Konservatismusproblem wird damit gleichsam auf die Metaebene gehoben: Es geht den neuen sozialen Bewegungen wesentlich um Bewahren – aber um das Bewahren von Veränderungsmöglichkeiten. Damit wird die politische Bedeutung von Konservatismus weltanschaulich uneindeutig. Damit wird auch klar, daß diese Konfron-tation quer zu den etablierten Abgrenzungen konservativ-progressiv verlaufen muß.

Neue Konfrontationen zeichnen sich ab. Es entsteht ein Gegensatz zwischen dem industrialistischen Wachstumsblock, der im wesentlichen aus Industrie und Gewerkschaften besteht einerseits, und den neuen sozialen Bewegungen, Teile des nichtindustrialistischen Bürgertums samt jenen Kräften, die man die “gewerkschaftsabgewandte Seite der Sozialdemokratie“ nennen kann, auf der anderen Seite. Diese neue Konstellation, die das geläufige politische rechts-links-Schema erschüttert, birgt für beide traditionellen politischen Lager Schwierigkeiten. Konservative Parteien geraten in kaum überbrückbare Konflikte zwischen ihrem Industrieflügel und ihren »bürgerlich-alternativen« Exponenten Ulf Fink m Berlin, Erhard Busek in Wien). In der Sozial-demokratie scheiden sich die Geister an der Gefolgschaftstreue zur traditionellen Gewerkschaftspolitik.

In der aktuellen Krisensituation freilich durften die Probleme der Sozialdemokraten die größeren sein. Ihnen droht Versagen auf zwei Fronten: Einerseits müssen sie versuchen, Angriffe auf die materiellen Positionen ihrer Klientel abzuwehren, andererseits sollten sie Antworten auf neue Problemlagen finden, Konfrontationen mit den neuen sozialen Bewegungen vermeiden. Gegenwärtig scheint es, als agiere die Sozialdemokratie an beiden Fronten wenig überzeugend. Überdeutlich ist insbesondere ihr Bestreben, wenigstens minimale Erfolge bei der Verfolgung ihrer herkömmlichen Aufgaben, der Sicherung der erreichten materiellen Standards, in Kooperation mit Gewinn-Interessen zu erzielen – um den Preis der Vernachlässigung neuer Problemlagen und neuer Bündnismöglichkeiten.

Anknüpfungspunkte einer Politik der Bewahrung, die nicht in herkömmlichen Konser-vatismus kippt, wären darin zu suchen, daß das Programm der globalen Erhaltung von Veränderungsmöglichkeiten eine Fülle von konkreten Gesellschaftsänderungen erfordert. Zu untersuchen und zu verdeutlichen wäre, daß ein solches Vorhaben der Bewahrung durch Stillstand nicht einzulösen ist – und sei es nur aus dem trivialen Grund, daß bereits im status quo unkalkulierbare Zukunftsgefahren produziert werden und daß bereits gegenwärtig jede Menge an »Aufräumarbeit« zu leisten wäre. Und zu klären wäre weiter, auf welcher Basis alte soziale Bewegung, die sich auf Veränderung richtete, und neue soziale Bewegungen, die die Veränderbarkeit der Verhältnisse erhalten wollen, kooperieren können(18). Sicher ist, daß Kooperationsunfähigkeit oder Feindlichkeit zwischen den beiden Schaden für alle anrichten würde, weniger sicher scheint mir, ob die Sozialdemokratie sich als fähig erweisen wird, die Kooperation zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen zu organisieren.

Verweise

1 vgl. Georg Vobruba: Gemeinschaftsbewußtsein in der Gesellschaftskrise; in: Ders. (Hg.): »Wir sitzen alle in einem Boot«. Gemeinschaftsrhetorik in der Krise; Ffm/New York 1983
2 Lorenz von Stein: Der Begriff der Gesellschaft und die sociale Geschichte der französischen Revolution bis zum Jahre 1830; Leipzig 1850
3 Jürgen Habermas: Kleine politische Schriften; Ffm 1981, S. 409
4 Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit; München 1979
5 Anders gesagt: Ich bezeichne mit »Neokonservatismus« nicht den Umstand, daß konservative Positionen in jüngster Vergangenheit wieder vermehrt sich zu Wort melden, sondern ein – wie ich meine – neues konservatives Argumentationsmuster.
6 Helmut Kohl: Verantwortung für Stabilität und Wachstum der Wirtschaft; in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Builetin Nr. 19 vom 17.2.1983
7 Norbert Blüm: Solidarität und Subsidiarität in der Sozialpolitik; in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin Nr. 114 vom 19.11.1982
g Vgl. Heinz Steinert: Staatliche Kontrollpolitik oder wohlfahrtstaatliche Ordnungsleistungen?; in: ÖZS 2/1981. Emmerich Talos: Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse; Wien 1981
9 Österreichische Enquete über Arbeitsschutzgesetzgebung 1883; zit. nach Talos, a.a.O.
10 Vgl. Georg Vobruba: Politik an der Grenze des Arbeitsmarktes; Ffm 1985
11 Zit. nach Wolf Wagner: Verelendungsthearie – die hilflose Kapitalismuskritik; Ffm 1976
12 Georg Vobruba: Politik mit dem Wohlfahrtsstaat; Ffm 1983, S. 134f
13 Vgl. Michael Th. Greven: CDU und CSU in der Regierung – Plädoyer, sich mit den Konservativen zu beschäftigen; in: Prokla 51/1983
14 Vgl. Georg Vobruba: Politik mit dem Wohlfahrtsstaat, a.a.O.
15 Vgl. u.a. Wolfgang Fach: Ideale des Untergangs,in Gestalten der Sozialdemokratie; in: Georg Vobruba (Hg.): »Wir sitzen alle in einem Boot«, a.a.O. und Michael Th. Greven: Der »hilflose« Sozialstaat und die hilflose Sozialstaatskritik; in: vorgänge 67/1984
16 Karl Mannheim: Konservatismus; Ffm 1984
17 Aus diesen neuen technischen Qualitäten folgt auch ein neues Verhältnis zu Mehrheitsentscheidungen: Irreversible Festlegungen entziehen Mehrheitsentscheidungen ihre legitimatorische Kraft dadurch, daß sie auf faktische Perpetuierung aktueller Mehrheiten hinauslaufen. Dies geht deshalb an den Nerv von Mehrheitsverfahren, weil die Anerkennung der Mehrheit und ihrer Entscheidungen durch die unterlegene Minderheit darauf beruht, daß die Mehrheitsverhältnisse in periodischen Abständen revidierbar sind; daß die Minderheit prinzipiell immer die Möglichkeit hat, zur Mehrheit zu werden. Mehrheitsentscheidungen, die auf irreversible Festlegungen hinauslaufen, sind in ihrem »demokratischen Gehalt« dem absurden Beschluß einer Mehrheit zu vergleichen, für immer Mehrheit zu verbleiben. Widerstand gegen solche Entscheidungen ist soziologisch jedenfalls keinesfalls erstaunlich (Vgl. Bernd Guggenberger/Claus Offe (Hg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie; Opladen 1984)
18 Als einen ersten Versuch dazu vgl. Georg Vobruba: Gewerkschaftsöffnung; in: Gewerkschaftliche Monatshefte 3/1983 und die Diskussion um Aussperrungsverbot, Arbeitszeitgesetz und garantiertes Mindesteinkommen bei den GRÜNEN im Deutschen Bundestag.

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