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Neu-Ka­le­do­nien — Ein zweites Algerien?

vorgängevorgänge 7811/1985Seite 13-16

aus: vorgänge Nr. 78, (Heft 6/1985), S. 13-16

Neu-Kaledonien, ein kleines Archipel im Südpazifik, 145 000 Einwohner zählend und 20 000 km von Paris entfernt gelegen, füllte Ende des vergangenen Jahres die Schlagzeilen: Aus einem Wahlboykott im französischen T.O.M hatten sich harte Auseinandersetzungen entwickelt. Selbst wenn seit dem Frühsommer wieder relative Ruhe eingekehrt ist und die Regierung in Paris für 1986 oder 1987 eine – wahrscheinlich nicht sonderlich demokratische – Volksabstimmung angekündigt hat: Auf diesem Wege sind die dortigen Probleme kaum zu lösen, denn auch die Unruhen in Guadeloupe Ende Juli stellten unter Beweis, daß es sich bei Neu-Kaledonien nicht um einen Einzelfall oder gar »Restposten« des französischen Kolonialismus handelt.

Im  April 1983 lebten auf der Inselgruppe 62 000 Kanaken,  54000 Europäer, sowie 12 000 Immigranten aus dem T.O.M. Wallis et Futuna; die restlichen Einwohner rekrutierten sich aus Bewohnern der verschiedenen pazifischen Inseln, besonders Thaiti, Indonesien und Vanuatu. Die ursprüngliche Bevölkerung, die Kanaken, sind – wenngleich sie die stärkste ethnische Gruppe bilden – zu einer Minderheit geworden; ihre Anzahl verringerte sich in der Zeit zwischen der Kolonialisierung 1853 und den 20er Jahren infolge von Epidemien und Hungersnöten. Da die französische Immigration nur zögernd einsetzte, errichtete die Kolonialmacht eine Strafkolonie; nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch setzte eine beträchtliche Einwanderungswelle aus dem Mutterland, die von diesem zur Absicherung des Nickelbooms, aber auch als Prävention gegen mögliche Unabhängigkeitsbestrebungen sowie gegen die Kanaken als Ethnie unterstützt wurde.

Die wichtigsten sozialen Gruppen dieses Archipels sind; Die caldoches (Europäer), meist Lehrende im weitesten Sinn, Angestellte und wenige Arbeiter; weniger als 10% von ihnen leben auf dem Land, die überwiegende Mehrheit konzentriert sich in der Hauptstadt Nou-mea. Die verschiedenen Gruppierungen sind weniger durch gemeinsame Interessen verbunden als vielmehr durch einen oftmals fanatischen Hass gegen die Kanaken, hinter dem alle sozialen Unterschiede zurücktreten. Auf der politischen Ebene werden sie dominiert durch das »Rassemblement pour la Caledonie dans la Republique« RCPR , das Teil der gaullistischen Bewegung ist, doch auch die rechtsextreme »Front National« faßt in diesen Schichten Fuß. Die Immigranten von den Pazifikinseln, die die Regierung vornehmlich als Arbeitskräfte ins Land rief, leben in traditionellen Zusammenhängen, fast in Ghettos zurückgezogen; politisch werden auch sie von der RCPR vertreten. Die Kanaken verstehen sich aufgrund ihrer Kultur, Tradition und Sozialstruktur als Teil der ozeanischen Bevölkerung, noch heute leben sie überwiegend vom Ackerbau, so daß ihr Siedlungsgebiet den wichtigsten Faktor für ihre Identrtatsbildung ausmacht. Daher war ihre Vertreibung durch die »caldoches« nicht nur eine ökonomische, sondern vor allem eine soziale und moralische Katastrophe. Das soziale System basierte auf einer »concer-tation« zwischen dem Clan und den Neuankömmlingen, die ihre sozialen Beziehungen aushandelten und so mit von beiden Seiten gewollten und in gewisser Weise freiwilligen Arrangements koexistierten. Von ihnen wurde die Kolonialpolitik als Repression und teilweise Vernichtung erlebt, die sie systematisch in die Marginalität trieb, sie in ihrer ldentität aber auch bestärkte. So ist denn ihre Forderung nach Selbstbestimmung über das Land der Versuch, mit der eigenen, um Land und Erde errichteten Identitat wieder ins Reine zu kommen.

Mit einer Förderung von 40 Mio. Tonnen ist Neu-Kaledonien der zweitgrößte Nickelproduzent der Erde. Der Ende der sechziger Jahre einsetzende Boom fand jedoch kaum fünf Jahre darauf ein rasches Ende als in den nickelverarbeitenden Industrien neue Technologien eingesetzt wurden, die minderwertige Nickelqualitäten verarbeiteten. So ist die Zukunft dieser Branche weitgehend unbestimmt, da trotz verschiedener Sanierungs-versuche es nicht gelang, die Krise zu überwinden. Durch den Anbau von Kaffee wurde versucht, die Kanaken in die kapitalistische Ökonomie einzugliedern, traditionelle Abhängigkeiten aufzuweichen. Da seit den sechziger Jahren aber auch in der Kaffee-produktion Stagnation herrscht, zeigte die Integration nicht den erhofften Erfolg. Schließlich ist noch die Verwaltung anzuführen, die auf direktem Wege aus der Kolonialverwaltung hervorging. Sieht man von den öffentlichen Hilfen, Subventionen etc. ab, deren Verbleib oftmals nicht kontrollierbar ist, erweisen zwei Daten die Bedeutung dieses mehr oder minder) parasitären Sektors: 30% der Lohnabhängigen arbeiten für den Staat, der Staat zahlt 50% der Löhne. Da die Mehrzahl der Verwaltungsangestellten sich aus den »caldoches« rekrutiert, erweisen diese Proportionen zugleich die erhebliche Differenz zu den Kanaken.

In der politisch-institutionellen Geschichte Neu-Kaledoniens sind vier Etappen zu unterscheiden: Von 1853 bis 1946 regierte ein Gouverneur mit quasi unbeschränkten Vollmachten. Für die Kanaken bedeutete diese Zeit Zwangsarbeit, für die »caldoches« Verweigerung der Bürgerrechte. 1946 erhielt die Kolonie den Status eines »überseeischen Gebiets« T.O.M. und verfügte nun über größere Autonomie. Formell wurden allen Einwohnern die Bürgerrechte zuerkannt. Durch den »Lois Billote« wurde 1962/63 die Beziehung zwischen der ehemaligen Kolonie und Frankreich wieder enger, denn die Verfügung über die Nickel-Ressourcen sollte in Paris verbleiben. 1984 schließlich wurde der »Status Lemoine« eingeführt, der eine interne Selbstverwaltung vorsieht, die zur formellen Unabhängigkeit führen soll. Die französischen Positionen ökonomisch politisch und militärisch sollen so auf Dauer gesichert werden.

Bis zum Beginn der siebziger Jahre wurde die politisch-parlamentarische Landschaft von der »Union caledonienne« UC beherrscht, in der sich neben den Melanesiern auch Teile des christlichen Milieus und der »caldoches« organisierten. Sie stellte die Forderung nach der Unabhängigkeit Neu-Kaledoniens auf. Unter dem Einfluß des Mai ’68 formierten sich dann verschiedene linke und anti-assimilatorische Gruppen sowie eine linke Partei der »caldoches«, die PCS, die mit der französischen »Partisocialiste« allerdings nur wenig gemein hat. 1976 wurde eine große linke Partei, die »Parti de la liberation kanake« PALIKA gegründet, die 1979 mit anderen Gruppierungen als »Front independiste« (FI) zu den Wahlen kandidierte. Sie verblieb bis zum vergangenen Jahr der Rahmen, in dem die politischen und besonders die parlamentarischen Aktionen zur Erlangung der Unabhängigkeit entwickelt wurden. 1984 löste sich die FI schließlich auf, denn trotz der neuen Regierungsmehrheit in Frankreich und ihrer Aktivitäten im Land selbst sah sie keine Möglichkeit mehr, wie bisher für ein unabhängiges Kanaky zu arbeiten.

Abgelöst wurde sie durch die »Front de Liberation Nationale Kanake et Socialiste« (FLNKS) ; sie ist ein Bündnis aus der UC, der PSC, der PALIKA, kleinerer linker Gruppen und der Gewerkschaft USTKE, politisch und ideologisch recht heterogen. Ihre Aktionen reichen von Wahlkandidaturen über Landbesetzungen, Straßensperren und Arbeitskämpfen bis hin zum Aufbau von Kooperativen. Sie versucht die malenesische Tradition der »concertation« als politische Form zu nutzen. Die FLNKS verfügt über kein Programm für den Aufbau eines kaledonischen Sozialismus, wie ihr Name vielleicht nahelegen könnte. Überhaupt sind ihre Positionen wenig eindeutig entwickelt. Dies erklärt sich auch aus der Tradition der »concertation«, die Programme wie man sie in Europa kennt, nur bedingt gebrauchen kann, ebenso aber aus ihrer Heterogenität und Unent-schlossenheit. Sozialismus bedeutet für sie zuerst, gegen »die Rechten« und die Kolonisten Stellung zu beziehen.

Ihr politischer Führer, Tijibaou, skizzierte in einem Interview Le Monde vom 4.1.1985 eine mögliche Entwicklungsstrategie für ein unabhängiges Kanaky: Grundlage ist das Selbstbestimmungsrecht der Kanaken über ihr Land, das sie ernähren muß. Die wirtschaftliche Entwicklung soll auf der horizontalen und flächendeckenden Förderung der vorhandenen Klein- und Mittelindustrie sowie des Handwerks basieren. Tourismus kann in beschränktem Umfang gefördert werden, französische Entwicklungshilfe wird nicht prinzipiell verworfen.

Die Vorstellung der »caldoches« lassen sich auf die Formel des Erhalts des Staus quo reduzieren, in die immer wieder Versuche einfließen, über diese Frage die Regierung in Paris zu destablisieren.

Nach dem offensichtlichen Scheitern des „Pro-Jet Lemome“ am Widerstand der FLNKS ernannte Mitterand den Ex-Gaullisten und heutigen Sozialdemokraten Pisani zum Hoch-komissar in Neu-Kaledonien. Dieser versuchte lange und mit viel diplomatischem Ge-schick eine »concertation« zwischen den politischen Vertretern der »caldoches« und der Kanaken einzuleiten, scheiterte schließlich aber an der kategorischen Weigerung der RCPR, sich an diesem Projekt zu beteiligen. Im Alleingang entwickelte er nun einen »Plan Pisani«, der einen Kompromiß zwischen der sozialen Bewegung für die Unab-hängigkeit und den französischen Interessen – isb. die Verfügung über den Nickel, den Meeresraum und die Militärbasen in dieser Zone Mururoa – anstrebt und von der Regierung in Paris übernommen wurde. Sein Vorschlag schließt die Souveränität des kanakischen Staates ein und konnte da-her die FLNKS als Verhandlungspartner ge-winnen. Doch Pisani denkt an eine spezifische Form von Souveränität: eine Assoziation zwischen dem schwachen Kanaky und der ehemaligen Kolonialmacht. Es ist offensichtlich, wer dieses Bündnis dominieren würde. Der für die FLNKS zentrale Punkt für ihre bisherige Ablehnung des Plans ist das Prinzip »Ein Mann, eine Stimme«, nach dem der neue Status von der Bevölkerung angenommen werden soll. Dennoch versucht die Regierung ihn praktisch umzusetzen und berief den exponierten Pisani nach Frankreich zurück, um diplomatische Lösungen zu erleichtern.

Die häufigen und radikalen Mobilisierungen der »caldoches« und die rassistisch-putschistische Atmosphäre während des vergangenen Frühjahrs rufen die Mobilisierung der »pieds noir« in Algerien in Erinnerung. Seit dem September 1984 forderten Unruhen mindestens 18 Tote; 6 000 Polizisten und Gendarmes sind auf der Insel stationiert, ausgerüstet wie eine Bürgerkriegsarmee und ebenso handelnd. Trotz aller großen Worte bleibt. die Solidaritätsbewegung in Frankreich gering, aber spürbar. So war auch eine Demonstration zu diesem Problem im Mai wohl eher eine Selbstdarstellung der (extremen) Linken – doch ist es nicht alltäglich, an einem Arbeitstag zu einem antikolo-nialistischen Thema Tausende zu mobilisieren.

Für die traditionelle Rechte in Frankreich würde die Abtrennung Kanakys einer Demon-tage der »Grandeur de la Nation« gleichkommen – daher wird zukünftig die neue Variante der »ultras« von Algier und ihrer französischen Freunde – »Nouvelle-Caledonie-Franaise« – vermehrt zu hören sein.

Auch vermag sie die harte Position der RCPR zu nutzen, um gegen Mitterand und die sozialistische Regierung Politik zu machen. Bereits jetzt wirft man ihnen – teilweise in wüsten Beschimpfungen – vor, den Ausverkauf der Nation zu betreiben: die Industrie, die internationale Position, jetzt Neu-Kaledonien – und warum morgen nicht die Bretagne und Korsika? Die Regierung befindet sich in einer Zwick-mühle: einerseits geht sie hart gegen die Unabhängigkeitsbewegung vor, vermag die „caldoches“ dennoch nicht zu gewinnen. Andererseits scheint – nachdem Machoro, Führer des militanten Flügels der FLNKS, von Gendarmes getötet wurde – ein Spitzenabkommen zwischen Tijibaou und der Regierung möglich. Doch könnte es auf die Dauer die Bipolarisierung des Landes nicht wirklich lösen. Die Probleme, die ein unabhängigen Kanaky »erben« würde, verlangen nach einer weitergehenden Antwort als den »Plan Pisani«. Schon heute beginnen sich Konflikte abzuzeichnen, die eine radikalere Politik hervorbringen könnten. Könnte die französische Regierung dies tolerieren? Würde sie militärisch intervenieren, um (noch) einem Diktator in den Sattel zu helfen? Andererseits würde der Rückfluß eines Großteils der »caldoches« nach Frankreich die ohnehin schon starke extreme Rechte weiter aufbauen; eine zunehmende Destabilisierung des Parla-mentarismus wäre die mögliche Folge.

Der Algerienkrieg hat der IV. Republik den Gnadenstoß gegeben und mit dem Gaullismus eine weniger liberale Herrschaftsform ermöglicht. Die V. Republik ist heute recht stabil, eine Wiederholung des Szenarios der frühen 60er Jahre wenig wahrscheinlich. Allerdings kann sich an dem kaledonischen Problem sowohl die Rechte aufbauen als auch eine Solidaritätsbewegung, die der krisenerschütterten Linken neue Impulse geben könnte. Für Kanaky hängt die Zukunft von der Entwicklung und Umsetzung eines Programmes des sozialen Umgestaltung ab, in dem die noch soliden Traditionen und neue gesellschaftliche Ansprüche verbunden werden müßten.

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