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Der Mikrozensus - Amtlich vorpro­gram­mierte Statis­tik­ver­fäl­schung

aus: vorgänge Nr. 78, (Heft 6/1985), S. 30-33

Diesmal war mir das Schicksal noch hold, mit umso größerer Wahrscheinlichkeit trifft es mich das nächstemal. Darum ließ ich mir  um einstweilen zu üben  einen Mikrozensus Fragebogen zuschicken.

Da liegt also dieser gewichtige Fragebogen mit seinen 80 detaillierten Fragen vor mir, und ich schreite mit einem Kugelschreiber bewaffnet zur Tat. Halt! Zunächst lese ich natürlich genauestens die Vorbemerkungen („SO WIRD’S GEMACHT!“) und Erläuterungen: Rechtsgrundlagen, Auskunftsverpflichtung (längster Absatz) und Datenschutz (umso kürzer, höchstens vage und allgemein gehalten!).
Aber dann gehts los: Als erstes sind Familien- und Vornamen der Haushaltsmitglieder einzutragen; die Reihenfolge ist vorgeschrieben: Ehegatten, Kinder Verwandte,  Familienfremde. Klar, daß das Statistische Bundesamt von der Familie als Keimzelle des Staates ausgeht. WG’s bestehen dann eben aus lauter „Familienfremden“, was spätestens bei der Frage 6 (Verwandschaftsbeziehungen) offenbar werden könnte, während sich die Ausfüllung der Frage 80 („Lfd. Nr. der Familie (!) im Haushalt“) das Stat. Landesamt vorbehält (wie das bewerkstelligt wird entzieht sich meiner Kenntnis). Immerhin bleibt es dem einzelnen Haushalt überlassen, welcher Ehegatte die erste Stelle einnehmen darf. Sollten sich die Leute nicht einigen (auch das ist offenbar vorgesehen), so muß halt jeder einen eigenen Bogen bearbeiten. Wer dann die Kinder mitaufführen soll wird nicht angegeben (womöglich beide? O welch statistischer Kindersegen!). Die Fragen 2-5 (Geschlecht, Geburtsmonat, Geburtsjahr, Familienstand) sind mühelos zu beantworten. Nur: mir will es einfach nicht einleuchten, warum es beim Geburtsmonat die zwei Ankreuzmöglichkeiten „Januar – Mai“ (also 5 Monate) und „Juni – Dezember“ (7 Monate!) gibt. So sehr ich auch darüber nachgrüble, ich komme nicht hinter das Geheimnis dieser Frage. Was um Mondes Willen hat das Stat. Bundesamt davon, festzustellen, daß etwa 5/12 der Befragten in den ersten 5 Monaten geboren sind? Oder gibts da irgendeinen okkulten, astralen Beweggrund? Oder ist den Entwerfern des Fragebogens die Symmetrie unsympathisch? Oder am einfachsten: Sie spannten es gar nicht, da sie so in unser Dezimalsystem versponnen sind, daß sie die 12-Zahl unserer Monate ignorieren?

Doch nun zur berühmten Frage 6: hier soll der Verwandschaftsgrad zur „ersten Person“ (lfd. Nr. 01 oder dessen Ehegatte) offenbart werden. Ganz abgesehen davon, daß diese Frage hinfällig ist, da ja für jedes Haushaltsmitglied ein eigener Bogen ausgefüllt werden darf (ohne Querverbindungsmöglichkeiten zu anderen Fragebögen), birgt sie interessantes Hintergrundmaterial: Warum interessiert nur die Verwandschaft zu Nr. 1; es könnten doch Haushaltsmitglieder „familienfremd“ zu Nr. l aber untereinander verwandt sein. Dann wird hier bei den Kindern nicht unterschieden zwischen „eigenen“ Kindern, Stief-, Adoptiv-, Pflegekindern und Schwiegersöhnen/töchtern. So sehr mich das freut, endlich einmal in einer offiziellen Statistik unser Pflegekind als „unser“ Kind eintragen zu dürfen, so wird hier die Statistik doch arg verwässert. Vielleicht wäre es doch auch interessant, wieviel Pflege- und Adoptivkinder es bei uns gibt. Vielleicht aber möchte man gerade das, nämlich die Verwässerung und Verfälschung der Statistik (wobei man sich fragen darf, welche Statistik überhaupt stimmt; aber so kann sie gar nicht stimmen), und verfälscht wird auf jeden Fall schon allein durch die Tatsache der Möglichkeit, diese Frage durch getrenntes Ausfüllen zu umgehen: Leute, die nicht miteinander verwandt, aber zusammenwohnen, neigen eher dazu, getrennt auszufüllen, während Familien einfachheitshalber einen gemeinsamen Fragebogen bearbeiten. Das Ergebnis steht von vornherein fest: die Statistik wird unverhältnismäßig mehr zusammenlebende Verwandte aufweisen! Wenn das mal nicht beabsichtigt ist?!

Weiter zur Frage nach der Staatsangehörigkeit: Hier werden 25 Länder angeboten (von Algerien über Belgien bis zu Tunesien, Ungarn und USA), während alle übrigen in einen Topf geworfen werden. Dabei interessiert es offenbar nicht, ob jemand aus Bulgarien, Marokko, Australien, Liechtenstein, Chile oder Indien ist … Die Fragen 8 – 14 betreffen die „Ausländer“: Hier stimmt ein Wörtlein („noch“) in den Fragen hoffnungsvoll: „Lebt ihr Ehegatte noch im Heimatland?“, für Ledige (warum eigentlich nur für diese?): „Leben ihre Eltern noch im Heimatland?“, schließlich wieder für alle: „Haben Sie noch Kinder im Heimatland?“. Darf also mit einem Nachzug der restlichen Familie gerechnet werden oder ist dieses „noch“ nur eine falsche Hoffnung weckendes, überflüssiges Füllwort? Interessant ist die Bemerkung zum Zuzugsjahr: „Bei Unterbrechung des Aufenthaltes von 6 Monaten oder mehr: Jahr Ihrer Rückkehr angeben“. Da kann eine/r also schon Jahre bis Jahrzehnte bei uns gewohnt haben, ½ Jahr Heimat wirft ihn wieder ganz zurück; die Jahre/Jahrzehnte vorher erscheinen nicht in der Statistik!

Die Fragen 15 – 17 (Weitere Wohnung / Besuch von Kindergarten etc.) fülle ich kommentarlos aus und komme zum großen Komplex Erwerbstätigkeit /Arbeitssuche etc.: Zunächst die Frage: „Auf welche Weise suchen Sie eine Tätigkeit?“ Hier werden als Antworten angeboten, und zwar in folgender Reihenfolge: Arbeitsamt, Private Vermittlung, Aufgabe von Inseraten, Bewerbung auf Inserate, direkte Bewerbung, persönliche Verbindung, Sonstiges. Soweit sogut. Natürlich wird so ziemlich jeder Arbeitssuchende hier mehrere Antworten ankreuzen können. Darf er aber nicht. Er darf sich nicht einmal die für ihn wichtigste aussuchen; nein: „Kommen mehrere Arten in Betracht, nur die erste zutreffende Art ankreuzen“. Und diese heißt „Arbeitsamt“! So wird denn auch eine zukünftige Statistik ausfallen: Da kann dann das Bundesamt für Arbeit stolz verkünden, daß soundsoviel % der Arbeitssuchenden das Arbeitsamt in Anspruch nehmen; erst an zweiter Stelle folge mit beträchtlichem Abstand „Private Vermittlung“. Gleiches gilt für die (vorweggenommene) Frage 50: „Wenn Sie in der Berichtswoche weniger oder mehr als die normale Arbeitszeit geleistet haben, welcher Grund trifft dafür zu? Treffen mehrere Gründe zu, tragen Sie bitte die niedrigste Signierziffer ein“. Die niedrigste Ziffer für „weniger Arbeit“ lautet „Krankheit, Kur, Heilstättenbehandlung“, erst an 6. Stelle kommt „Kurzarbeit“ … Entsprechend könnte dann die Statistik aussehen!

Folgt der (gerade für Ausländer) trotz/wegen der vielen Erläuterungen schwierige Komplex Kranken-/Rentenversicherung … Und hierbei kommt unvermittelt als letzte Frage „Name des Betriebes, in dem Sie tätig sind (waren)“. Wozu diese Frage?

Nr. 38 und 39 interessieren sich für den Wirtschaftszweig („möglichst genaue Angabe zum Geschäftszweig“) und Beruf („Nennen Sie bitte den genauen Beruf…“)‚ wobei diese präzisen Angaben dann vom Stat. Landesamt wieder in Zahlen verschlüsselt werden. Wäre es da nicht besser, gleich diese Zahlen zu offenbaren und die Ausfüller aussuchen zu lassen; vielleicht können diese ihren Beruf besser einordnen als die Statistikbeamten? Eine Tätigkeit ist ausdrücklich ausgeschlossen: Zivildienstleistender (die haben ihre „augenblicklich ausgeübte Tätigkeit“ anzugeben), wie auch in der nächsten Frage nicht zwischen Grundwehr- und Zivildienst unterschieden wird.

Bei den Fragen zu den Tätigkeitsmerkmalen des Berufs wird einiges zusammengemischt und durcheinandergewürfelt, am nettesten bei den „Sonstigen Dienstleistungen“: Merkmal Nr. 8 umfaßt „Bewirten, Beherbergen; Bügeln; Reinigen/Abfall beseitigen, Packen, Verladen, Transportieren/Zustellen, Sortieren/Ablegen, Fahrzeug steuern“, Nr. 9 „Sichern, Bewachen, Gesetze/Vorschriften anwenden/auslegen, Beurkunden“ und Nr. 0 „Erziehen/Lehren/Ausbilden; Beratend helfen; Pflegen/Versorgen, Medizinisch/Kosmetisch behandeln; Publizieren, Unterhalten, Vortragen, Informieren“ – Lehrer / Masseuse / Schlagersänger / Prostituierte / Priester fallen alle gleichermaßen unter die Nr. 0; doch halt: eigentlich besteht doch das, was von mir als Lehrer (oder sonstigem Beamten) hauptsächlich verlangt wird, darin, „Vorschriften anzuwenden“, also Nr. 9; aber in diese fallen auch – laut Erläuterung – unsere Militärs: „Soldaten haben die überwiegende Aufgabe des Sicherns und Bewachens“ heißt es – wahrscheinlich mangels Merkmal „Abschrecken“. Da fühle ich mich bei den Prostituierten in Nr. 0 doch wohler! Aber was soll eine Prostituierte bei Nr. 44 („Zu welcher Abteilung gehört Ihr Arbeitsplatz?“) eintragen? „Sozialpflege“ oder „Kundenbetreuung“ oder „Auftragsbearbeitung“ oder „Instandhaltung“ oder einfach „Betrieb ist nicht in Abteilungen gegliedert“?

Nr. 46 – 50 befassen sich mit der wöchentlichen Arbeitszeit: Überraschend ist hier die unübliche!) Aufforderung, immer abzurunden (als Beispiel wird ausdrücklich genannt: „38,5 / 38“ – so kommen wir wenigstens hier der 35-Stunden-Woche näher! – oder will man grundsätzlich auf einen niedrigen Wert hinaus, wofür auch die angegebene Höchststundenzahl spricht?

Der letzte Fragenkomplex – wiederum mit detaillierten Erläuterungen – betrifft Unterhalt / Einkommen mit ziemlich genauen Angaben zum „Nettoeinkommen“ (unter 300 DM / 300 bis unter 450 DM / …“; allerdings interessieren hier nur die Einkommen unter 5000 DM (17 Unterteilungen); alle Spitzenverdiener fallen in den Topf „5 000 DM und mehr“). Dabei dürfte gerade das die Öffentlichkeit interessieren. Denn es ist doch ein kleiner Unterschied, ob einer 5000 oder Hunderttausende im Monat scheffelt!

Die allerletzte Frage wird ausdrücklich als freiwillig deklariert: die nach dem Jahr der (letzten) Eheschließung. Auch hier ist eine Statistikverfälschung vorprogrammiert: Es neigen eher jüngere Jahrgänge dazu, von ihrem Recht auf Nichtausfüllung Gebrauch zu machen. So besteht die Gefahr, daß eine mikrozensusgestützte Statistik eine noch geringere Heiratszahl der letzten Jahre „feststellt“. Oder ist diese Frage nicht ernstgemeint – wird also (und nur das wäre sinnvoll!) gar nicht ausgewertet – sondern dient nur als Schmankerl für den Ausfüllenden, ihm eine Entscheidungsfreiheit vorgaukelnd?

Ernst gemeint ist sicher die Frage 70 nach dem Verkehrsmittel auf dem Weg zum Arbeitsplatz; die Auswertung dieser Frage kann fast nur zum Mißbrauch dienen, da hier lediglich der Status Quo festgestellt und damit zementiert wird. Es gibt genug Gemeinden in der BRD, die vom öffentlichen Verkehr stiefmütterlich behandelt werden. (Der Stiefmutter-Vergleich hinkt, da sich auf diesem Gebiet die BRD grundsätzlich nicht mütterlich/menschlich verhält). Den Bürger solcher Gemeinden, die viel lieber mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit führen, bleibt gar nichts anderes übrig, als den PKW zu benutzen (immerhin ist positiv zu vermerken, daß der Fragebogen die Möglichkeit des Mitfahrens extra aufführt) und hier anzugeben. Mit dem Ergebnis, daß noch mehr Straßen gebaut und der öffentliche Verkehr noch mehr vernachlässigt wird.

Viel wichtiger als jede Volkszählung, als jede Stichprobenerhebung, die ja nur den Ist-Zustand (mehr oder weniger gut) feststellt, wäre es, die Bedürfnisse der Bürger zu erkunden und diese zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen!

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