Das Grundgesetz auf seinen antirassistischen Begriff bringen Anmerkungen zur verfassungspolitischen Debatte um den „Rasse“-Begriff
In den letzten 15 Jahren ist die Verwendung des Begriffs „Rasse“ in den Diskriminierungsverboten des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 3) und einigen Landesverfassungen wiederholt diskutiert worden. Den Blick auf die problematische Verwendung dieser Begrifflichkeit in Bundes- und Landesverfassungen gelenkt zu haben, ist nicht zuletzt das Verdienst des Deutschen Instituts für Menschenrechte (Cremer 2009 und 2010). Während einzelne Bundesländer (Brandenburg, Sachsen-Anhalt) den „Rasse“-Begriff in ihren Landesverfassungen bereits ersetzt haben, rückte diese Debatte auf Bundesebene erst in den letzten zwei Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit, nachdem die Bundestagsfraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENi und DIE LINKEii unter dem Eindruck der rassistischen und antisemitischen Anschläge von Hanau und Halle sowie den weltweiten Protesten gegen rassistische Polizeigewalt in Andenken an den Schwarzeniii George Floyd. Ziel der parlamentarischen Vorstöße war die Ersetzung des Begriffs „Rasse“ im Grundgesetz durch eine Formulierung, die die antirassistische Funktion des Diskriminierungsverbots unmissverständlich zum Ausdruck bringen soll. Zwischenzeitlich sah es zwar so aus, als würde die damalige große Koalition dem Anliegen (im Wesentlichen) beitreten, allerdings distanzierte sich die Unionsfraktion dann doch von einem auf Regierungsebene bereits gefundenen Kompromiss, weil sie bei einer Umstellung des Diskriminierungsverbots von „Rasse“ auf rassistisch eine unabsehbare und ausufernde Auslegung fürchtete (ausführlich hierzu und zum Weiteren Tabbara 2021).
Keine bloße Sprachkosmetik, sondern notwendiger Perspektivenwechsel
Die derzeitige Koalition auf Bundesebene will laut ihrem Koalitionsvertrag das Thema allerdings erneut angehen und den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz ersetzen.iv Dem bisherigen Verlauf und Stand der verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Debatte zum „Rasse“-Begriff nachzugehen, ist aber nicht nur wegen dieser Ankündigung der Koalitionäre von Bedeutung. Gerade die Debatte der vergangen zwei Jahre hat gezeigt, dass es sich beim Diskriminierungsverbot „wegen seiner […] Rasse“ um eine eher dunkle Ecke des Grundgesetzes handelt, die der weiteren Aufklärung harrt. Entgegen den Einwänden einiger arrivierter Grundgesetz-Kommentatoren geht es bei der Ersetzung des „Rasse“-Begriffs keineswegs um „irgendwelche Sprachkosmetik“ (so aber Sachs 2020). Vielmehr geht es darum, dass die Rechts- und Verfassungsordnung überhaupt erst einmal zur Kenntnis nimmt, dass hier ein erhebliches Problem auch als Folge einer dysfunktionalen rechtlichen Bearbeitung besteht.
Paradoxie des rechtswissenschaftlichen „Rasse“-Begriffs
Das juristische Problem an der Verwendung des Begriffs „Rasse“ in Diskriminierungsverboten liegt auf der Hand: Bei unbefangener Lesart bestätigt der Verfassungstext, entgegen aller naturwissenschaftlichen aber auch normativen Erkenntnis, die Existenz unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ (Tabbara 2020). Problematischer noch, er zwingt die Rechtsanwendung an sich, diesen Begriff nach allen Regeln der juristischen Auslegungskunst abstrakt zu bestimmen und in konkreten Fällen auf die Betroffenen zu subsumieren. Es kommt damit zu der Paradoxie, dass das Verfassungsrecht mit der „Rasse“, und damit mit dem Zentralbegriff des Rassismus, Rassismus juristisch begegnen soll. Soweit sich die Rechtswissenschaft überhaupt mit dieser Paradoxie auseinandergesetzt hat, ist sie bis in jüngster Zeit zu wenig überzeugenden Lösungen gekommen. Der Vorschlag Günter Dürigs, den dieser einflussreiche Grundgesetz-Kommentator 1973 in der ersten eingehenden Kommentierung zum „Rasse“-Begriff des Grundgesetzes gemacht hatte, „Rasse“ als „polemischen Begriff“ zu verstehen, findet zwar noch heute vereinzelte Anhänger*innen (Langenfeld 2015, Rn. 45), ist aber so nie in der Rechtswirklichkeit angekommen. Angesichts des Stands der Rechtsprechung ist es auch äußerst zweifelhaft, dass sich gerade in diesem hoch sensiblen Feld erstmals im Recht eine Dogmatik der Polemik entwickeln können soll (eingehend kritisch zu Dürig: Liebscher 2021, S. 394-403). Ein jüngerer Ansatz, wonach der Begriff der „Rasse“ „im Lichte seiner missbräuchlichen Verwendung im Nationalsozialismus bewusst zu Abgrenzung hiervon herangezogen“ (Krieger 2021, Rn. 82) worden sein soll, verstrickt sich, ganz abgesehen von der verfehlten Suggestion eines im Gegensatz zum Missbrauch sinnvollen Gebrauchs des „Rasse“-Begriffs, doch eher selbst noch weiter in eine Paradoxie, als dass er der Rechtsanwendung einen praktikablen Ausweg aus ihr weist.
Biologistischer „Rasse“-Begriff
Auch wenn es in jüngerer Zeit verschiedene Stimmen gibt, die darauf verweisen, dass „Rasse“ als soziale (gesellschaftliche) Konstruktion gelesen werden muss, die sich also nicht auf eine vorfindliche, gar biologische Realität bezieht (z.B. Baer/Markard 2018, Rn. 471), findet sich in der juristischen Literatur noch immer recht verbreitet eine Auffassung, die „Rasse“ als Menschengruppe mit bestimmten wirklich oder vermeintlich vererbbaren Eigenschaften bestimmt (Kischel 2020, S. 230). Diese Formulierung ist nur scheinbar offen für das rassismuskritische Verständnis von „Rassen“ als soziale Konstruktion. Denn der Schwerpunkt liegt hier auf dem biologistischen Teil der Definition („vererbbar“) (Tabbara 2021, S. 584-587). Dass dieses Begriffsverständnis keinen Anschluss an die sozialwissenschaftliche Rassismusforschung hat, zeigt sich nicht nur darin, dass der in dem Begriff enthaltene Biologismus nicht kritisch reflektiert wird, es lässt sich auch daran ablesen, dass in gängigen Grundgesetzkommentaren und Verfassungsrechtslehrbüchern bis heute unkommentiert und allenfalls in Anführungszeichen gesetzt (in diesem Kontext) rassistische Begriffe wie „Farbige“, „Mischlinge“, „Zigeuner“ oder „Juden“ verwendet werden, wenn es um die Bestimmung des Schutzbereichs des Diskriminierungsverbots geht (Kutting/Amin 2020, S. 614).
Ein solcher biologistischer „Rasse“-Begriff blendet zeitgenössische Formen des Rassismus, die an „Ethnie“, „Kulturkreis“ oder – wie antimuslimischer Rassismus – an „Religion“ anknüpfen, aus seinem Blickfeld und führt durch seine Essentialisierung zu einer konzeptionell problematischen Ausrichtung des Diskriminierungsverbots.v Das lässt sich am Beispiel eines aktuellen renommierten Polizeirechtslehrbuchs (Schenke 2021, Rn. 111) ablesen, in dem zwar begrüßenswerter Weise das Racial Profiling angesprochen wird, dies aber in problematischer Konzeption. Denn dort heißt es, dass Art. 3 Abs. 3 GG es der Polizei verbiete, der „Rassezugehörigkeit“ Bedeutung beizumessen. Nicht nur geht der nicht weiter erläuterte Begriff „Rassezugehörigkeit“ offenbar vom Vorhandensein von „Rassen“ aus, es wird auch von einer objektiven Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ ausgegangen. Entgegen dem Verständnis der Rassismusforschung von „Rasse“ als einer rassistischen Zuschreibung wird Rasse weiterhin essentialisiert. Schon damit stellt sich die Frage, inwieweit solche Ausführungen für die Ausbildung z.B. von angehenden Polizist*innen Anwendung finden sollten. Statt den Blick auf die „Zugehörigkeit“ zu einer „Rasse“ zu richten, wäre die Rechtsanwendung auf die Mechanismen der rassistischen Zuschreibung zu orientieren und damit darauf, dass Fälle rassistischer Diskriminierung auf strukturelle gesellschaftliche (Macht-) Verhältnisse aufsetzen, die es meist erst bewusst freizulegen gilt, da sie sich dem normalisierenden weißenvi Blick nicht ohne Weiteres offenbaren (El-Mafaalani 2021).
Mangelware Rechtsprechung
Die konzeptionellen Defizite des nach wie vor verbreiteten biologistischen „Rasse“-Begriffs setzen sich bisher auch überwiegend in der Rechtsprechung fort. Wobei bei der Rechtsprechung zum „Rasse“-Diskriminierungsverbot zunächst deren weitgehende Abwesenheit auffällt. Nicht eine einzige bedeutende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts findet sich auch 73 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes. Im Grunde gibt es nur zwei Entscheidungen aus Karlsruhe, die speziell auf das „Rasse“-Diskriminierungsverbot eingehen, ohne dass es allerdings Diskriminierungsfälle im engeren Sinne wären.vii Eine gewisse Anwendung hat die Vorschrift im Zusammenhang mit dem polizeilichen Racial Profiling in jüngerer Zeit in der Rechtsprechung von Verwaltungsgerichten immerhin erfahren. Allerdings handelt es sich dabei bislang allenfalls um eine Handvoll Verfahren (Liebscher 2021, S. 429-449).
Will man das Fehlen einschlägiger Rechtsprechung nicht wie der Autor eines verbreiteten Grundgesetzkommentars als Ausdruck dafür werten, dass es eben in Deutschland keine Probleme mit rassistischer Diskriminierung gäbe (Kischel 2021b, S. 145), so liegt doch die Annahme wesentlich näher, dass das Diskriminierungsverbot in seiner jetzigen Fassung nicht in der Lage ist, bestehende gesellschaftliche Probleme zu erfassen und einer sinnvollen Bearbeitung zuzuführen. Dass es hier eine gravierende Diskrepanz von gesellschaftlicher Wahrnehmung und Verfassungsrealität gibt, belegt eindrücklich der im Auftrag des Deutschen Bundestags erstellte Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor, der im Frühjahr 2022 veröffentlichte wurde, und bei dem in einer repräsentativen Befragung von rund 5.000 Personen 22 Prozent angaben, selbst schon einmal Rassismus erfahren zu haben und 45 Prozent schon einmal einen rassistischen Vorfall beobachtet zu haben. Von den Befragten waren zudem 65 Prozent der Meinung, dass es in deutschen Behörden rassistische Diskriminierung gibt (DeZIM 2022).
Defizite in der Rechtsprechung und erste Ansätze zur Neuausrichtung
Auch dort, wo die Rechtsprechung das „Rasse“-Diskriminierungsverbot überhaupt anwendet, zeigt sich, dass die Gerichte sich schwer mit dem paradox formulierten Diskriminierungsverbot tun. Sofern sie nicht versuchen, die Anwendung gänzlich zu vermeiden und zu einer Entscheidung aus anderen (formaleren) Gründen zu kommen, wird die Rechtsprechung, die sonst jeden Gesetzesbegriff ausführlich dogmatisch auswalzt, geradezu erstaunlich schmallippig. Ohne jegliche Erläuterung wird in Racial Profiling-Fällen „Hautfarbe“ nicht etwa als Anknüpfungspunkt für Rassismus markiert,viii sondern schlicht mit „Rasse“ gleichgesetzt. Auf diesem Weg wird den nicht-weißen Betroffenen, die sich gegen rassistische Kontrollen vor Gericht wehren, reichlich verstörend, vom Gericht die Zugehörigkeit zu einer „Rasse“ bescheinigt. Nicht frei von Irritationen war auch die Bezugnahme auf das „Rasse“-Diskriminierungsverbot durch das Bundesverfassungsgericht in dem zweiten Verfahren zum Verbot der NPD. Es betont, dass nach dem Grundgesetz, anders als nach der Programmatik der NPD, die Menschenwürde allen Menschen gleichermaßen zukommt, formuliert dies aber durchaus zwiespältig: Der Schutz Menschenwürde sei „ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung“ begründet – fährt dann aber fort, dass dies „unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht“ sei. Hier scheint, entsprechend dem biologistischen „Rasse“-Begriff der Rechtswissenschaft, zumindest die problematische Vorstellung einer menschlichen Gattung auf, die sich in – wenn auch gleichberechtigte – „Rassen“ aufgliedert.
Dagegen bemüht sich eine Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. November 2020 ganz offensichtlich darum, den antirassistischen Gehalt des „Rasse“-Diskriminierungsverbots herauszuarbeiten (Payandeh 2021, S. 1831 ff.). Der Entscheidung lag eine arbeitsrechtliche Kündigung wegen einer vom Arbeitgeber als rassistisch eingestuften Äußerung zu Grunde. Es liest sich fast schon wie ein Kommentar zur Debatte um die Ersetzung des „Rasse“-Begriffs im Grundgesetz, wenn die Kammer, ohne sich mit einer Auslegung des „Rasse“-Begriffs überhaupt aufzuhalten, erklärt, dass sich die Vorschrift „gegen rassistische Diskriminierung wendet“.ix
So begrüßenswert klar dieser Kammerbeschluss auch ist, sollte er nicht zu der Annahme verleiten, dass Karlsruhe damit das „Rasse“-Paradox bereits aufgelöst hat. Und das nicht nur, weil dieses im Text der Verfassung bestehen bliebe. Es ist auch schon generell längst nicht so, dass eine Entscheidung aus Karlsruhe, gar von einer Kammer, die eigentlich nur zu in der Senatsrechtsprechung geklärten Fragen entscheiden kann, genügt, um die Rechtsprechung der Instanzgerichte auf eine einheitliche Linie zu bringen. Das dürfte insbesondere hier gelten, wo der Wortlaut der Vorschrift ein konzeptionell völlig verfehltes Verständnis als Gleichbehandlung von „Rassen“ jedenfalls nahelegt und ohnehin bei der Bekämpfung von rassistischer Diskriminierung mit erheblichen Beharrungskräften auch in der Justiz zu rechnen ist (Bartel/Liebscher/Remus 2017).
Rückschläge in der aktuellen Rechtsprechung
Diese Vorbehalte werden auch durch die ersten beiden Entscheidungen zum „Rasse“-Diskriminierungsverbot bestätigt, die nach dem erwähnten Kammerbeschluss ergangen sind. Beide Entscheidungen betrafen erneut Racial Profiling durch die Polizei.
Racial Profiling vor dem Verwaltungsgericht Dresden
Das Verwaltungsgericht Dresden kam zwar bei der Überprüfung einer Personenkontrolle in einem Bahnhofsgebäude zu dem Schluss, dass die Kontrolle des Schwarzen Klägers durch die Polizei wegen möglicherweise unerlaubter Einreise (§ 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz) den rechtlichen Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht genügt habe, da die Hautfarbe des Klägers zumindest mitursächlich für die Kontrolle gewesen sei.x Problematisch ist die Entscheidung aus antirassistischer Sicht aber durch die dogmatische Einordnung, die ganz im biologistischen „Rasse“-Begriff verhaftet bleibt. Ohne die antirassistische Zielrichtung des BVerfG-Kammerbeschlusses auch nur zu erwähnen, ordnet das Gericht (erneut) „die Hautfarbe – als etwaiges Merkmal einer Rasse i.S.v. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG“ ein. Hier wird „Hautfarbe“ nicht nur in den Schutzbereich einbezogen, sondern es wird offenbar von einem essentialistischen „Rasse“-Begriff ausgegangen, denn „Hautfarbe“ soll nur ein „Merkmal“ der „Rasse“ sein. Ein solcher gerichtlicher Erfolg hat mindestens einen bitteren Nachgeschmack für die Betroffenen und zeigt die fortbestehenden konzeptionellen Probleme im Umgang dem „Rasse“-Begriff.
(Kein) Racial Profiling vor dem Oberverwaltungsgericht Hamburg?
Sogar schon fast lehrbuchhaft führt eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Hamburg die gegenwärtige Problematik des gerichtlichen Umgangs mit rassistischer Diskriminierung vor Augen.xi Das Verfahren, dass auch einige mediale Aufmerksamkeit erfahren hatte, war von einem Schwarzen Kläger angestrengt worden, der sich gegen mehrere polizeiliche Kontrollen im Umfeld seines Wohnortes gewandt hatte, die er als unzulässiges Racial Profiling ansah. Die Kontrollen fanden in Hamburger Stadtteil St. Pauli an einem sogenannten „gefährlichen Ort“ (in anderen Bundesländern auch „kriminalitätsbelasteter“ oder „verrufener“ Ort genannt) statt. Hierbei handelt es sich um Orte, bei den die Polizeigesetze aufgrund von Erkenntnissen über vermehrte Straftaten – hier v.a. Drogendelikte – der Polizei im Grunde die Befugnis zu anlasslosen Identitätsfeststellungen verleiht (Aden 2017; Tomerius 2017). Allerdings hat die Rechtsprechung hier aus Verfassungs- oder Verhältnismäßigkeitsgründen gewisse Einschränkungen entwickelt und verlangt im Ergebnis, dass nur kontrolliert werden darf, wer durch sein Verhalten zumindest einen Bezug zu den Straftaten erkennen lässt, weswegen der Ort als „gefährlicher Ort“ eingestuft wird. Diese Schwelle bleibt allerdings deutlich unterhalb der einer konkreten Gefahr, die – trotz aller inzwischen erfolgten Aufweichungen – die klassische Eingriffsschwelle für polizeiliche Maßnahmen bildet. Bei der Befugnis zu anlasslosen Kontrollen drängt sich förmlich auf, dass hier die Gefahr besteht, dass Personen aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes kontrolliert werden.
Auch die von der Rechtsprechung vorgenommene Einschränkung löst diese Problematik nicht wirklich auf. Wie auch in dem Hamburger Verfahren stehen die Gerichte regelmäßig vor dem Problem, alltägliche Verhaltensweisen, die nach „polizeilicher Erfahrung“ einen Hinweis auf einen Bezug zu Straftaten des „gefährlichen Ortes“ aufweisen, als Grundlage für einen polizeilichen Eingriff zuzulassen. Konkret ging es in einem Fall darum, dass der Kläger vom Sport und Einkaufen kommend eng neben seinem Freund und Nachbarn lief. Umstritten war ferner noch, ob es zu „Bewegungen an den Sporttaschen“ kam und sich beide dabei umschauten. Nach der Beweiswürdigung stand für das OVG, anders als noch für die Vorinstanz,xii fest, dass hierbei ein „szenetypisches“, „arbeitsteiliges, abgeschirmtes Verhalten“ vorlag, wie es – allerdings nur ähnlich – in einer Dienstanweisung der Polizei zur Identitätsfeststellung an „gefährlichen Orten“ enthalten ist. Aufgrund dieser Beweiswürdigung kam das OVG dann auch zu dem Schluss, dass kein Racial Profiling und mithin auch kein Verstoß gegen das „Rasse“-Diskriminierungsverbot vorlag.
Mangelnde Sensibilität für Rassismus
Dass eine Beweiswürdigung solcher möglicherweise doppeldeutigen Alltagshandlungen nicht alle Zweifel ausräumen kann, ist an sich wenig verwunderlich. Nach der Lektüre der schriftlichen Gründe des OVG bleibt aber ein besonderes Unbehagen: und das, obwohl oder weil das Gericht den erwähnten Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts und dessen Herausstellung, dass sich Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG „gegen rassistische Diskriminierung wendet“, zitiert. Sogar auf die Diskussion zur Ersetzung des Rassebegriffs geht das Gericht ein. Das ist aber deshalb besonders irritierend, weil den Entscheidungsgründen überhaupt nicht zu entnehmen ist, dass das Gericht aus dieser Refokussierung auf rassistische Diskriminierung irgendwelche Schlüsse zieht. Im Gegenteil, in der Entscheidung finden sich eine ganze Reihe von Aspekten, die zum typischen Repertoire von Gerichten in Deutschland gehören, wenn dort über die Einstufung von Handlungen als rassistisch gestritten wird (Bartel/Liebscher/Remus 2017). Anstatt sensibel gegenüber den zumeist verdeckten, aber wirkmächtigen, tradierten gesellschaftlichen Strukturen, die im Einzelfall rassistische Handlungen ermöglichen oder begünstigen, zu sein, neigen Gerichte, wie Beobachtungen in strafrechtlichen und zivilrechtlichen Antidiskriminierungsverfahren zeigen, dazu, die von Diskriminierung Betroffenen als zur Überempfindlichkeit neigend wahrzunehmen, wohingegen es zu einer mehr oder weniger offenen Solidarisierung zwischen weißem Gericht und den weißen Personen, deren Handlungen als rassistisch im Streit stehen, kommt.
Dies soll hier nur an wenigen Aspekten der Entscheidung des OVG aufgezeigt werden: Den Hinweis des Klägers, dass er innerhalb von etwa fünf Jahren vier bis fünf Mal kontrolliert wurde und dass das ein Hinweis auf Racial Profling sei, begegnete das Gericht mit der Feststellung, dass dies dafür, dass der Kläger an einem „gefährlichen Ort“ wohne, nicht unverhältnismäßig häufig sei. In einem Verfahren, in dem es zentral darum geht, ob eine rassistische Diskriminierung vorlag, aber nicht einmal die Frage aufzuwerfen, ob das auch für weiße Bewohner*innen der Gegend zutrifft, erscheint als eine problematische Ausblendung des Wissens um die Strukturen von Rassismus. Das gilt umso mehr, als das Gericht entgegen der Auffassung des Klägers die Einholung eines kriminologischen Sachverständigengutachtens zur weiteren Aufklärung, ob es an dem gefährlichen Ort zu vermehrten Kontrolle nach der „Hautfarbe“ komme, für nicht erforderlich hielt.
Hypersensible Betroffene?
In der Beweiswürdigung der Aussagen des Klägers vor Gericht wird dem Kläger letztlich sogar in einer Art Täter-Opfer-Umkehrung sein Anliegen – die Feststellung, dass die Kontrollen rassistisch waren – entgegengehalten. Eingekleidet darin, dass das Gericht sogar Verständnis für die mit dessen Anliegen einhergehende Emotionalität habe, werden seine Aussagen durch das Gericht damit in Zweifel gezogen und praktisch entwertet, dass der Kläger „bei seiner Schilderung von Tatsachen nicht zwischen Fakten- und Gefühlsebene [hätte] unterscheiden“ können. Statt einer ernsthaft empathischen Haltung gegenüber den psychischen und gesundheitlichen Folgen, die mit rassistischer Diskriminierung regelmäßig einhergehen (Kauff/Wölffer/Hewestone 2017), wird dem Kläger hier sein Anliegen zum Nachteil ausgelegt und seine Aussagen in für Rassismusfälle bekannter Form als hypersensibel abgetan. Dass das Gericht dabei durchaus zu Einfühlungsvermögen bei der Beweiswürdigung in der Lage war, zeigt sich dagegen bei der Würdigung der Aussage des Polizeibeamten, der die Kontrolle angeordnet hatte. Dessen zögerliches und ausweichendes Antwortverhalten auf Fragen des Rechtsanwalts des Klägers, die auf den Umgang mit phänotypischen Charakterisierungen abzielte („Was meinten Sie mit Schwarzafrikanern aus gewissen Regionen?“ etc.), erklärt das Gericht damit, dass der Beamte die offensichtliche Antwort („An der Hautfarbe“) nicht geben wollte, um nicht „coram publico in der mündlichen Verhandlung als nach rassistischen Motiven urteilender Polizist dargestellt zu werden.“ Wenig getrübt von der Kenntnis rassistischer Mechanismen ist es auch, wenn das Gericht allen Ernstes argumentiert, dass die Hautfarbe des Klägers in einem der Fälle nicht ursächlich für die Kontrolle gewesen sein könne, weil auch sein hellhäutiger Begleiter kontrolliert worden sei.
Konzeptioneller Neustart durch Verfassungsänderung
So wichtig die Klarstellungen sind, die die Kammer des Bundesverfassungsgerichts zur Zielrichtung des „Rasse“-Diskriminierungsverbots vorgenommen hat, mögen diese Beobachtungen belegen, dass es zur Entfaltung eines effektiven verfassungsrechtlichen Schutzes vor rassistischer Diskriminierung noch weiterer starker Impulse bedarf. Eine Verfassungsänderung, die den notorisch problematischen „Rasse“-Begriff durch das Verbot „rassistischer“ Diskriminierung ersetzen würde, wäre sicher ein solch starker Impuls für einen konzeptionellen Neustart. Auch wenn selbstverständlich nicht davon auszugehen ist, dass eine Veränderung des Verfassungswortlauts alle Probleme lösen würde, so könnte eine solche Änderung die Probleme, die die paradoxe „Rasse“-Formulierung mit sich bringt, hinter sich lassen. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung kämen dann nicht mehr umhin, Rassismus als Problem der Verfassungsordnung zu verstehen.
Zu den Argumenten für eine Beibehaltung der „Rasse“ in der Verfassung
Es gab in den vergangenen zwei Jahren verschiedene Einwände gegen eine Ersetzung des „Rasse“-Begriffs. Diese kamen aus z.T. sehr unterschiedlichen Richtungen, liefen aber – letztlich nicht überzeugend – auf das gleiche Ergebnis hinaus: die Beibehaltung des konzeptionell und praktisch unbefriedigenden Status quo.
Keine Geschichtsvergessenheit
So wird befürchtet, dass mit einer Ersetzung des „Rasse“-Begriffs eine wichtige Verbindung zu dem historischen „Nie wieder!“ des Grundgesetzes gekappt würde (z.B. Griesbeck 2021, S. 400). Allerdings findet sich in den Archiven zu den Beratungen des Grundgesetzes an keiner Stelle eine Formulierung, die dieses antifaschistische Bekenntnis in Bezug auf das Verbot der „Rassen“-Diskriminierung formuliert hätte. Im Gegenteil, es finden sich einige Aussagen zu Schwarzen und Sinti*ezze und Romn*ja, die zumindest aus heutiger Sicht als rassistisch gelten müssen (Liebscher 2021, S. 338-362). Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum etwas von dem historischen Geist des Grundgesetzes – so wie er heute rückblickend(!) verstanden wird – verloren gehen sollte, wenn das Grundgesetz auf seinen antirassistischen Begriff gebracht würde.
Kein deutscher Alleingang
Auch der Einwand, dass Deutschland sich international isolieren würde (z.B. Boysen 2020, Rn. 179 f.), wenn es den „Rasse“-Begriff ersetzen würde, trägt nicht. Der Begriff wird zwar in der Tat in völkerrechtlichen und europarechtlichen Dokumenten verwandt, war aber immer umstritten. Eine Reihe von Staaten – u.a. Schweden, Finnland und Österreich – haben ihn den letzten Jahren auf die eine oder andere Art ersetzt (Tabbara 2021, S. 602 f.). Das hat zwar auf internationaler Ebene zu Diskussionen geführt. Bedenken konnten aber ausgeräumt werden, da klargestellt werden konnte, dass damit keine Einschränkung des Schutzes verbunden ist.
Keine Schutzlücke
In der Diskussion wurde mitunter auch die Sorge geäußert, dass eine Schutzlücke entstehen könnte (Barskanmaz 2020, S. 19f.; Samour/Barskanmaz 2020; ähnlich Hong 2020). Diese Bedenken ließen meist unerwähnt, dass von niemandem politisch ernsthaft eine ersatzlose Streichung der „Rasse“ vorgesehen ist. Im Übrigen wird bei dieser Kritik auch regelmäßig ganz abstrakt argumentiert und außer Acht gelassen, dass das „Rasse“-Diskriminierungsverbot in seiner jetzigen Fassung fast keine Anwendung findet, so dass gegenüber dem Status quo jedenfalls kaum eine „Schutzlücke“ entstehen könnte (Payandeh 2020; Liebscher 2021, S. 458f.).
Nachvollziehbar sind allerdings die Bedenken, soweit sie sich gegen eine bestimmte Formulierung richten, die auch in dem am Ende der letzten Wahlperiode vorgelegten Vorschlag des Bundesministeriums der Justiz enthalten war:xiii den Begriff der „rassistischen Gründe“. Auch wenn nach der Begründung nicht beabsichtigt, so könnte diese Formulierung doch so verstanden werden, dass sie ein – so bisher nicht vorgesehenes – Element von Vorsatz oder Fahrlässigkeit etablieren könnte. Schon weil dies mit erheblichen Beweisschwierigkeiten verbunden wäre und es im Antidiskriminierungsrecht generell nur auf den diskriminierenden Effekt ankommt, wäre das in der Tat eine bedenkliche Formulierung (DIMR 2021, S. 3).
Keine uferlose Rechtsprechung zum Antirassismus
In umgekehrte Richtung, allerdings erstaunlicher Weise mit gleichem Ergebnis, argumentiert insbesondere Uwe Kischel, u.a. Kommentator zu Art. 3 GG des in der gerichtlichen Praxis verbreiteten Beck-Online Kommentars. Eindringlich, und nicht ohne Wirkung in der Politik, warnte er via FAZ (Kischel 2021) und im angesehenen Archiv des öffentliches Recht (Kischel 2020): Die Ersetzung von „Rasse“ durch „rassistisch“ sei ein verkapptes „politisch-ideologisches Projekt“ einer linksradikalen Anti-Rassismus-Bewegung mit einem „völlig uferlosen Rassismusbegriff“. Stein des Anstoßes ist insbesondere die Erweiterung des Rassismusbegriffs auf nicht-biologische, kulturalistische Rassismen – wie anti-muslimischen Rassismus. Es fragt sich ohnehin, worin der rechtswissenschaftliche Realitätsgehalt der Warnung vor einer uferlosen Ausweitung des Diskriminierungstatbestands besteht, angesichts der gegenwärtigen nur sehr eingeschränkten Praxis und dem Wissen, dass die Durchsetzung von Antidiskriminierungsrecht weltweit von einem zähen und mühevollen Ringen begleitet ist (für die USA: Mangold 2021, S. 97-179). Es ist hierbei auch bemerkenswert, dass Kischel, der seine biologistische Engführung des Rassismusbegriffs als Ausdruck des „gesunden Menschenverstands“ verstanden wissen will („Rasse als soziales Konstrukt anzusehen, wird dem unbefangenen Leser […] seltsam vorkommen. Denn schließlich existiert ja beispielsweise Hautfarbe nun einmal und damit sind – jenseits von allfälligen Übergängen – auch Schwarze und Weiße für jedermann real erkennbar.“), sich mehrfach auf Alain de Benoist, einen der Vordenker der Neuen Rechten/Identitären Bewegung in Frankreich, beruft, der für einen differentialistischen (Anti-)Rassismus steht, der zwar (scheinbar) die Gleichheit der „Rassen“/Ethnien anerkennt, aber vor deren „Vermischung“ warnt (Böhm 2007; Tabbara 2021, S. 586 f.).
Übertragbarkeit der Critical Race Theory auf Deutschland?
Auf einer ganz anderen Ebene, wenn auch im Ergebnis ironischer Weise gleichlaufend, liegen Einwände, die sich an der vornehmlich aus den USA stammenden Criticial Race Theory (CRT) orientieren (Crenshaw 1995). Wesentlicher Ansatz der CRT ist es, den Racial Bias des Rechts, das nur vermeintlich colorblind (neutral) erscheint, herauszuarbeiten. Dies ist ein auch für die Rechtswissenschaft in Deutschland grundsätzlich fruchtbarer Ansatz (Tabbara 2003, S. 305 f.). Zentrales Analyseinstrumentarium der CRT ist allerdings die unterschiedliche Auswirkung rechtlicher Regelungen auf Angehörige einer nicht-weißen race. Die Befürchtung der deutschen Spielart der CRT ist im Kern, dass durch eine Ersetzung des „Rasse“-Begriffs die zentrale Analysekategorie für den Nachweis rassistischer Diskriminierungen verloren ginge (Samour/Barskanmaz 2020; Kaneza 2021). Statt den „Rasse“-Begriff weiter zu tabuisieren, sollte dieser (wie in den USA) in rechtlichen Zusammenhängen als soziale Konstruktion verstanden und verwendet werden.
Demgegenüber ist aber darauf hinzuweisen, dass sich race nicht einfach mit „Rasse“ übersetzen lässt (Liebscher 2021, S. 35 f., 475). Hier haben sich unterschiedliche Verwendungsweisen in unterschiedlichen historischen Kontexten mit unterschiedlichen Konnotationen herausgebildet. Anders als in den USA ist „Rasse“ in Deutschland nicht mit Kämpfen gegen Rassismus verbunden und auch die Selbstidentifikation als „Rasse“ spielt in Deutschland entsprechend den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen keine Rolle. Die direkte Übertragung des Ansatzes der CRT auf Deutschland könnte daher im Ergebnis zu einer problematischen Art Neo-Essentialisierung des „Rasse“-Begriffs führen.
Letztlich geht es aber bei der Diskussion im Verhältnis zu denjenigen, die sich aus antirassistischen Motiven für eine Ersetzung des „Rasse“-Begriffs stark machen, vor allem um die Frage, welches in Deutschland die effektivere rechtliche Strategie für die Bekämpfung von Rassismus im Recht ist. Und hier spricht viel dafür, dass nach über 70 Jahren Erfahrung mit „Rasse“ als Verfassungs- und Rechtsbegriff dieser der Entfaltung eines wirksamen Schutzes gegen Rassismus eher im Wege stand, als dass er sie befördert hat. Dagegen besteht umgekehrt die begründete Erwartung, dass durch die ausdrückliche Benennung der eigentlichen Problematik – Rassismus und nicht etwa „Rasse“ – auf Ebene der Verfassung die strukturelle Dimension der Problematik, die Staat, Recht und Gesellschaft betrifft, in den Fokus der rechtlichen und rechtspolitischen Aufmerksamkeit rückt. Denn bei allen Differenzen im Detail ist im Begriff Rassismus notwendig enthalten, dass es nicht nur um individuelle Benachteiligungen geht, sondern diese auf der Grundlage historisch sedimentierter Strukturen in Staat, Recht und Gesellschaft im Sinne eines strukturellen bzw. institutionellen Rassismus erfolgen (Graevskaia/Menke/Rumpel 2022).
Schlussbemerkungen
Auch wenn es in der letzten Wahlperiode dann doch nicht zur Ersetzung des „Rasse“-Begriffs kam und auch noch nicht sicher ist, dass es der jetzigen Koalition gelingen wird, das Projekt umzusetzen, ist die Debatte um die Ersetzung des „Rasse“-Begriffs durch die ausdrückliche Benennung des Rassismus in der Verfassung aus antirassistischer Perspektive ein Erfolg. Noch nie wurde in einer breiteren Öffentlichkeit so ausführlich über Rassismus im Recht diskutiert. Und noch nie hat die Rechtswissenschaft dieser Thematik so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Es gehören keine seherischen Fähigkeiten dazu, um vorherzusagen, dass die nächsten Auflagen der Kommentare zu Art. 3 Abs. 3 GG sich wesentlich von den z.T. seit Jahrzehnten nahezu unveränderten Auflagen mit ihrer eher dürftig-problematischen Befassung mit dem Begriff „Rasse“ deutlich unterscheiden werden. Wenn auch sicher nicht alle eine antirassistische Konzeption aufnehmen, so werden sie doch kaum umhinkommen, diese wenigstens zur Kenntnis zu nehmen.
Dass es bei dem Anliegen, den „Rasse“-Begriff des Grundgesetzes zu ersetzen, nicht nur um „Sprachkosmetik“ geht, hat unlängst auch der bereits erwähnte Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor nochmals vor Augen geführt (DeZIM 2022): Danach gab fast die Hälfte (49 Prozent) der Befragten an, dass sie an die Existenz von menschlichen „Rassen“ glauben. Allerdings unterstreicht dieses Ergebnis erneut, dass für eine effektive Bekämpfung von Rassismus mehr erforderlich ist als die begriffliche Klarstellung von Anti-Diskriminierungsvorschriften. Dies bildet zwar eine zentrale Weichenstellung; sie sollte aber unbedingt flankiert werden durch einen verfassungsrechtlichen Gewährleistungs- und Förderauftrag zur Durchsetzung von gleichberechtigter Teilhabe, wie er, in unterschiedlichen Formulierungen, in den eingangs angesprochenen Gesetzesentwürfen der Opposition in der letzten Legislaturperiode vorgesehen war (eigener Formulierungsvorschlag Tabbara 2021, S. 605).
Hierdurch würden, ähnlich wie zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG), positive Maßnahmen, die dem Abbau struktureller Diskriminierungen wie z.B. im Bildungswesen oder im öffentlichen Dienst dienen, verfassungsrechtlich legitimiert werden. Wie die Auseinandersetzungen um Maßnahmen zur Gleichberechtigung von Frauen (Quoten, Parität etc.) zeigen, führt auch die Aufnahme eines ausdrücklichen Gewährleistungs- und Förderauftrags in der Verfassung nicht ohne weiteres zur Durchsetzung entsprechender effektiver Maßnahmen. Ohne eine solche ausdrückliche Verfassungsbestimmung wären positive Maßnahmen zum Abbau von Diskriminierungen, und auf die kommt es in rechtlicher Perspektive entscheidend an, wie die in Berlin diskutierte Einführung einer Migrationsquote, jedenfalls politisch einem geradezu abschreckenden Legitimationsdruck ausgesetzt (vgl. Groß 2021). Dem Koalitionsvertrag der „Ampel“ ist zum Gewährleistungs- und Förderauftrag ebenso wenig eine Aussage zu entnehmen wie eine konkrete Formulierung zur Ersetzung des Begriffs „Rasse“. Gründe genug, die rechtswissenschaftlichen und rechtspolitische Auseinandersetzung um Rassismus im Recht und Recht gegen Rassismus (Liebscher 2021) weiterzuführen.
Prof. Dr. Tarik Tabbara LL.M. (McGill) ist seit 2018 Professor für öffentliches Recht, insbesondere deutsches und europäisches Sicherheitsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Er ist Mitglied des Forschungsinstituts für öffentliche und private Sicherheit. Letzte Veröffentlichungen: Helmut Ridders Konzeption der öffentlichen Meinungsfreiheit und ihr Verhältnis zur Selbstregierung, in: Isabel Feichtner/Tim Wihl (Hrsg.), Gesamtverfassung. Das Verfassungsdenken Helmut Ridders, 2022, S. 163-182; Von der Gleichbehandlung der „Rassen“ zum Verbot rassistischer Diskriminierung, Der Staat 60 (2021), S. 577-607; Die „Staatsangehörigkeitsrechtsreform 2000“ in der Migrationsgesellschaft. Ein Blick zurück und nach vorn – Thesen, in: Im Dialog, 4|2021, S. 115-129.
Literatur
Aden, Hartmut (2017): Anlasslose Personenkontrollen als grund- und menschenrechtliches Problem. In: Zeitschrift für Menschenrechte – Journal for Human Rights 11 (2), S. 54-65.
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Tabbara, Tarik (2003): Kommunikations- und Medienfreiheit in den USA. Zwischen demokratischen Aspirationen und kommerzieller Mobilisierung. Nomos
Anmerkungen:
iBT-Drs. 19/24434.
iiBT-Drs. 19/20628.
iiiDie Großschreibung wird hier gewählt, um zu signalisieren, dass es um die emanzipative Selbstbeschreibung geht.
ivKoalitionsvertrag zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, 2021, Zeile 4050 f., unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1.
vZum Diskussionsstand siehe: Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit, Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten, 2021, S. 61, unter: https://www.fachkommission-integrationsfaehigkeit.de/fk-int/dokumente.
viDer Begriff weiß wird hier im Sinne einer politischen Ordnungskategorie verwendet und steht für rassistisch strukturell privilegierte Positionen. Vgl. Bartel/Liebscher/Remus 2017, S. 367 Fn. 7.
viiZu umstrittenen Detailfragen der Einordnung einzelner Entscheidungen Kutting/Amin 2020, S. 613; Tabbara 2021, S. 590.
viiiHierbei findet nicht einmal Art. 1 Abs. 1 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1966) Erwähnung, nach dessen Legaldefinition auch jede auf der „Hautfarbe […] beruhende Unterscheidung“ etc. unter den Begriff der „Rassendiskriminierung“ in dem Übereinkommen erfasst sein soll.
ixBVerfG, Beschluss v. 2.11.2020 – 1 BvR 2727/19.
xVG Dresden, Urteil v. 18.1.2022 – 6 K 438/19.
xiOVG Hamburg, Urt. v. 31.1.2022 – 4 Bf 10/21.
xiiVG Hamburg, Urteil v. 10.11.2020 – 20 K 1515/17.
xiii(Diskussions-)Entwurf eines Gesetzes zur Ersetzung des Begriffs „Rasse“ in Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes vom 3.2.2021, unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Ersetzung_Begriff_Rasse.html.