Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 237/238: Diskriminierende Realitäten

Editorial

Als kürzlich in Berlin für eine Mietwohnung Nachmieter gesucht wurden, fanden sich mehrere Interessent*innen, unter denen die Hausverwaltung auswählen konnte. Ihre Vornamen waren: Andrew, Gayatrii, Khalil, Maksym, Natalia und Sebastian. Dreimal dürfen Sie raten, wer diese Wohnung angeboten bekam? Was auf den ersten Blick banal klingt, weil die Entscheidung zufällig oder willkürlich sein könnte, wird zum gesellschaftlichen Problem, weil es sich nicht um eine einmalige Erfahrung handelt, sondern sich für die Betroffenen an vielen Stellen ihres Alltags wiederholt – in der Schule, bei der Arbeit, in Clubs, bei Behörden … Daraus ergeben sich ungleiche Lebenschancen und Lebensrealitäten in unserer Gesellschaft, sprich: Diskriminierungserfahrungen, mit denen wir uns in dieser Schwerpunktausgabe der vorgänge befassen.

Diskriminierung und Ungleichbehandlung – das Thema wurde in der bundesdeutschen Gesellschaft wie in der Rechtswissenschaft über Jahrzehnte mit Blick auf das Verhältnis von Mann und Frau diskutiert, bevor überhaupt andere Formen der Diskriminierung in den Blick gerieten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Antidiskriminierungsrecht maßgeblich durch feministische Rechtswissenschaftlerinnen geprägt wurde. Mit zwei führenden Vertreterinnen, Susanne Baer und Ute Sacksofsky, eröffnen wir unseren Themenschwerpunkt. Baer und Sacksofsky haben sich in ihren Veröffentlichungen intensiv mit den verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Fragen der Gleichbehandlung und möglicher Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung befasst. Mit ihnen sprechen wir über die dogmatischen Wurzeln des Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsrechts, dessen Wandel seit der Einführung des Grundgesetzes und aktuelle Entwicklungstrends.

Während Baer und Sacksofsky – aus dem rechtshistorischen Blick heraus – eher die Errungenschaften in der Entwicklung des Antidiskriminierungsrechts sehen, schätzt Ulrike Lembke dies deutlich kritischer ein. Für sie zählen weniger antidiskriminierungsrechtliche Normen und Urteile, deren steigende Anzahl über die zahlreichen Lücken und Defizite im Diskriminierungsschutz hinwegtäusche. Zentraler Maßstab für das Antidiskriminierungsrecht sei dessen transformativer Charakter – also die Frage, ob und wie weit es zur Veränderung von gesellschaftlicher Ungleichheit bzw. zugrundeliegender Machtverhältnisse beitrage. In dieser Hinsicht erweist sich nach Lembkes Einschätzung etwa die bekannte antidiskriminierungsrechtliche Formel, dass nur Gleiches gleich, aber Ungleiches ungleich zu behandeln sei, für sich genommen als wenig wirksam. In ihrem Beitrag skizziert sie Anforderungen an ein Antidiskriminierungsrecht, das auf die Überwindung struktureller Ungleichbehandlung ausgerichtet ist, als auch die gesellschaftlichen Barrieren, die ein solches Recht überwinden muss.

Zu den neueren Antidiskriminierungs-Debatten, die im Verfassungsrecht geführt werden, zählt zweifelsohne die Auseinandersetzung um den Begriff der Rasse. In den letzten Jahren wurde intensiv darüber gestritten, ob mit der Bezugnahme auf „Rassen“ im Verfassungstext (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz) nicht die Existenz biologischer Rassen anerkannt und damit letztlich jenem Denken Vorschub geleistet werde, vor dessen Auswirkungen das Grundrecht eigentlich schützen will. Mit der daraus erwachsenen Forderung, den „Rasse“-Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen, setzt sich der Beitrag von Tarik Tabbara auseinander. Er geht darauf ein, warum der Bezug auf „Rassen“ im Grundgesetz so lange unerkannt bzw. unproblematisiert blieb und wie eine alternative Formulierung aussehen könnte, die deutlicher die strukturellen Dimensionen von Rassismus adressiert und nicht nur vor individuellem Rassismus schützt.

Das Dilemma, dass sich Antidiskriminierungsrecht auf problematische Begriffe bzw. Zuschreibungen bezieht, ist keineswegs auf die Rasse-Diskussion beschränkt. Auch die feministische Wissenschaft sieht sich seit langem mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie auf bestimmte Vorstellungen etwa von Frauen oder von emanzipiertem Verhalten zurückgreife, in denen sich eben nicht alle Betroffenen wiederfinden und die einem essentialistischen Verständnis von Frauen bzw. fortschrittlichem Verhalten Vorschub leisten können. Dieses „Benennungsdilemma“ sowie mögliche poststrukturalistische Auswege daraus schildert Sarah Elsuni in ihrem Beitrag.

Nach diesen eher theoretisch ausgerichteten Beiträgen widmen sich die folgenden beiden Texte konkreten Formen der Diskriminierung von Frauen: Tanja Altunjan befasst sich mit der strafrechtlichen Verfolgung der Partnerschaftsgewalt gegen Frauen. Auch wenn das Strafrecht allein diese Gewalt nicht verhindern kann, „spiegeln Strafverfahren in besonderer Weise den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt gegen Frauen wider“, so Altunjan. Sie verdeutlicht dies an verschiedenen Seiten der strafrechtlichen Behandlung: angefangen von der Frage, wie viel Widerstand nötig ist, um den Tatbestand des gewaltsamen bzw. sexuellen Übergriffs zu erfüllen; über die strafrechtliche Bewertung eines Mordes im Zusammenhang einer Trennung; bis zur milderen Strafzumessung bei einer vorherigen Intimbeziehung zwischen Täter und Opfer. Mit ihrem Beitrag zeigt Altunjan Möglichkeiten einer geschlechtssensiblen Anwendung des bestehenden Strafrechts auf, um Partnerschaftsgewalt effektiver zu bekämpfen.

Cara Röhner setzt sich mit den Bemühungen um eine gleichwertige Bezahlung von Frauen und Männern auseinander. Trotz steigender Erwerbsbeteiligung der Frauen haben diese am Monatsende statistisch gesehen rund 39 Prozent weniger Einkommen als Männer zur Verfügung. Diese Differenz, deutlich über dem Gender Pay Gap, entsteht vor allem durch niedrigere Bruttolöhne (in den gleichen Berufen), durch die unterschiedliche Entlohnung von „Frauen-“ und „Männerberufen“ sowie den höheren Care- und damit Teilzeitarbeitsanteil der Frauen. Daran hat auch das 2017 in Kraft getretene Entgelttransparenzgesetz nicht viel geändert, mit dem ein Auskunftsanspruch auf die in einem Unternehmen gezahlten Gehälter eingeführt wurde. Anhand aktueller Fälle stellt Röhner die Schwierigkeiten in der Anwendung dieses neuen Rechtsanspruchs dar und zeigt die Grenzen des Gesetzes auf.

Mit den Fragen von Armut und Diskriminierung beschäftigt sich auch der folgende Beitrag von Hannah-Maria Eberle und Jana Kavermann – jedoch aus einer gänzlich anderen Blickrichtung. Sie setzen sich mit dem in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft verbreiteten „Argwohn gegen ‚die Armen‘“ auseinander und schauen dazu auf Strategien der alltäglichen Armutsbewältigung. Ihr Beitrag ist ein Plädoyer dafür, die soziale Distanz und das Misstrauen gegenüber dem alltäglichen Denken und Verhalten armer Menschen abzubauen, um deren Eigensinn und Eigenlogik anzuerkennen, die im distanzierenden Blick der Mehrheitsgesellschaft (wie auch vieler Sozialwissen­schaftler*innen) ignoriert werden.

Bei der Frage nach den gesellschaftlichen Mechanismen, über die Armut und Diskriminierung von Generation zu Generation vererbt werden, fällt der Blick als erstes auf das Bildungssystem: Nicht zuletzt die international vergleichenden PISA-Studien haben gezeigt, dass die Leistungen und damit der Bildungserfolg im deutschen Bildungssystem vergleichsweise stark vom sozioökonomischen Status der Eltern abhängig sind.i Die strukturellen Ursachen dafür – etwa die frühe Aufteilung der Schüler* innen auf verschiedene Schularten – sind bekannt. Dennoch ändert sich am grundsätzlichen Problem: nichts. Wie das zu verstehen ist, darüber streiten der Bildungsökonom und langjährige Schulkritiker Freerk Huisken sowie der frühere Schulleiter Wolfram Grams.

Wie es um die Akzeptanz und Teilhabe von behinderten Menschen hierzulande bestellt ist, skizziert der Beitrag von Udo Sierck, einem führenden Vertreter der emanzipatorischen Behindertenbewegung in Deutschland. Er erinnert an die Geschichte der Vernichtung „unwerten Lebens“ zu Zeiten des Nationalsozialismus und deren langfristige Nachwirkungen, die sich bis heute als „verdrängte Wahrheiten“ in einem abwertenden gesellschaftlichen Blick auf Behinderungen sowie in höheren Risiken für Gewalterfahrungen, Missbrauch und Ausgrenzung Behinderter äußern.

Mit der Wahrnehmung von Behinderungen befasst sich auch die Dokumentation „Zum Teufel mit den Barrieren!“ des Filmemachers Jürgen Köster. In dem inklusiv angelegten Film sprechen Menschen mit verschiedensten Behinderungen über die gesellschaftlichen Barrieren, die ihnen im Alltag ein selbstbestimmtes Leben verwehren. Wie sich die alltäglichen Diskriminierungserfahrungen Behinderter aus dieser Perspektive der Betroffenen darstellen, schildert Köster im Gespräch mit Wolfram Grams.

Nach diesen Beiträgen, die sich mit Diskriminierungen im Bereich der sozialen Grund- und Menschenrechte befassen, greift der Artikel des jüngst verstorbenen Martin Kutscha ein Beispiel für politische Ausgrenzungen auf: die Berufsverbote. Sie gehen auf den sogenannten „Radikalenerlass“ der Ministerpräsidentenkonferenz vom 28. Januar 1972 zurück, auf dessen Grundlage in den 1970er/80er Jahren rund 3,5 Millionen Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes hinsichtlich ihrer „Gewähr der Verfassungstreue“ überprüft, etwa 1.300 Personen der Berufszugang verwehrt und ca. 250 Beamt*innen „aus dem Dienst entfernt“ wurden. Kutscha zeichnet die juristischen Auseinandersetzungen um diese Überprüfungen durch den Verfassungsschutz nach und zeigt auf, dass die Idee politisch motivierter Berufsverbote auch heute noch verfolgt wird – etwa im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung, die damit rechtsradikale Verfassungsfeinde aus dem Öffentlichen Dienst fernhalten will.

Mit einem speziellen Bereich des Öffentlichen Dienstes, in dem Diskriminierung in den letzten Jahren verstärkt diskutiert wird, beschäftigen sich auch die letzten drei Beiträge unseres Schwerpunkts: mit der Polizei. Daniela Hunold legt dabei den Fokus auf die Benachteiligung und Unterrepräsentanz von Frauen und Migrant*innen in der Polizei. Sie zeigt, welche Erfahrungen beide Gruppen in der Polizei teilen und welche Probleme sich aus der vergleichsweise späten Öffnung der Behörde heute noch ergeben. Cengiz Barskanmaz nimmt eine neue Entscheidung des EMRK über einen mutmaßlichen Fall von Racial Profiling zum Anlass, um die menschenrechtlichen Anforderungen an die polizeiliche Kontrollpraxis vorzustellen. Derartige Kontrollen sind nach einem Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes der häufigste Anlass für Beschwerden wegen mutmaßlich rassistischer Diskriminierungen durch die Polizei. Gerade deshalb seien die von internationalen Gerichten immer wieder eingeforderte unabhängigen Untersuchungen und wirksame Kontrollmechanismen gegen solche Vorwürfe absolut berechtigt. Mit einem Beispiel solcher Kontrollansätze – den unabhängigen Polizeibeauftragten – beschäftigt sich schließlich der Beitrag von Hartmut Aden und Alexander Bosch. Sie werten die Erfahrungen mit den mittlerweile in fünf Bundesländern existierenden Beauftragten aus. Ihr Fazit, inwiefern diese Stellen jenseits von Einzelfällen auch die strukturelle Diskriminierungsanfälligkeit bestimmter polizeilicher Praktiken in den Blick nehmen oder die Betroffenen vor polizeilicher Diskriminierung schützen können, fällt jedoch eher nüchtern aus. Damit endet dieser Themenschwerpunkt.

Daneben bietet auch diese Ausgabe der vorgänge wieder Beiträge, die sich mit aktuellen Themen befassen: So dokumentieren wir eine Diskussion über menschenrechtliche Probleme der Triage intensivmedizinischer Behandlungsressourcen. Diese fand im vergangenen Jahr anlässlich des geplanten Gesetzgebungsverfahrens statt. Daneben unterzieht Jörg Arnold die Argumentation der deutschen Bundesregierung für ihre Entscheidung, Waffen an die Ukraine zu liefern, einer kritischen Prüfung, indem er mit Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ nach möglichen Auswegen aus der derzeitigen Kriegslogik sucht. Mit dem Krieg in der Ukraine wird sich auch die folgende Ausgabe der vorgänge befassen, die in Kürze erscheint. Ich wünsche Ihnen im Namen der Redaktion eine anregende Lektüre mit dem vorliegenden Heft.

Sven Lüders

Anmerkungen:

iDeutschland weist eine stärkere Konzentration leistungsschwacher und leistungsstarker Schüler an bestimmten Schulen auf, als dies im OECD-Durchschnitt der Fall ist. Grund dafür ist die frühe Aufteilung auf verschiedene Schultypen nach Leistungskriterien.“ (OECD 2019: PISA 2018 – Länder­information Deutschland, S. 6)

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