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Rezensionen - Ein Mann seiner Klasse

Ein Mann seiner Klasse“. Hannoveraner Theaterstück beim Berliner Theatertreffen 2022 nach Christian Barons gleichnamigen Buch

Staatstheater Hannover

REGIE: Lukas Holzhausen

BÜHNE UND KOSTÜME: Katja Haß

MUSIK UND VIDEO: Robert Pawliczek

DRAMATURGIE: Annika Henrich

mit Nikolai Gemel, Stella Hilb u.v.a.m.

Das kann doch nicht wahr sein. Wirklich nicht: Da prügelt ein permanent besoffener Vater seine Frau, tritt ihr sogar in der Schwangerschaft in den Bauch, nachts hören die verängstigten Kinder das Wimmern der Mutter, oft genug sind auch sie Opfer dieses gewalttätigen Familienoberhaupts.

Dennoch hält einer der Söhne am Sterbebett dessen Hand und gibt ihm zu verstehen: „Ich verzeihe Dir. Ich hab Dich lieb.“ Und der andere Sohn sagt als Erwachsener nach einem Besuch am Grab des Vaters, er werde mit all seinem Zorn, Glück, Schmerz, Scham und Stolz, mit all seiner Angst und Liebe, mit all seiner Hoffnung und Zweifeln „kurz vor meinem Tod dieses eine Wort aussprechen, das mein Vater sein Leben lang nie von mir zu hören bekam: Papa.

Was geschehen ist zwischen dieser brutalen Kindheitserfahrung in den 1990er Jahren in Kaiserslautern und der zugleich liebevollen Zuwendung zu diesem Monster, das hat das Schauspiel Hannover im Oktober 2021 nach dem autobiographischen szenischen Roman von Christian Baron auf die Bühne gebracht. In der Bearbeitung von Lukas Holzhausen und Annika Henrich erregte das Stück die Aufmerksamkeit der Berliner und wurde unter den zehn Besten zum Theatertreffen im Mai 2022 nach Berlin eingeladen.

Im Programm gibt es eine sogenannte Triggerwarnung: „Die Inszenierung thematisiert häusliche Gewalt und Depressionen. Diese Inhalte können bei betroffenen Personen negative Reaktionen auslösen.“ Fürwahr, zumindest für ein zartbesaitetes bürgerliches Publikum. Was sich da in den 90er Jahren in einem der sozialen Brennpunkte Kaiserslauterns abspielt, bringt das Schauspiel Hannover in verstörender Weise auf die Bühne. Krasseste Armut und Gewalttätigkeit sind plötzlich Themen einer Inszenierung, die mit der großartigen Stella Hilb, die sowohl die Mutter als auch die Tante Juli in einer Doppelrolle spielt, und einem genialen Bühnenbild die autobiografische Buchvorlage gekonnt verdichtet. Mit dieser Inszenierung ist das Schauspiel Hannover zu Recht als eine der besten Theateraufführungen des Jahres 2021 ausgewählt worden.

Der Vater, ein ungelernter muskulöser Möbelpacker bei der Firma Schulz & Kuhnert, die für die zahlreichen US-Soldaten in und um Kaiserslautern die Umzüge erledigt, umbaut während der ganzen Aufführung, den Elektroschrauber in der Hand, mit Holzrahmen und Platten die Wohnung, Währenddessen erzählen die Mutter bzw. Tante und die beiden Söhne Christian und Benny ihre Leidensgeschichte. Nur ab und zu unterbricht der Vater (Michael „Minna“ Sebastian) aus dem Audio-Off. Nach und nach wird der Raum immer mehr zugebaut – Sinnbild für die Abgeschlossenheit, mit der die Familie unter allen Umständen versucht, ihre Armut vor den Mitmenschen zu verbergen.

Dramaturgisch beeindruckend ist es, dass die Rolle des eigentlich älteren Bruders Benny ein kleiner Junge spielt, dessen Fragilität uns die Prügeleien des Vaters in seinem verbrecherischen Ausmaß umso schrecklicher erkennen lässt. Christian ist auf der Bühne der schon junge Student.

Armuts­dar­stel­lungen in Film, Literatur und Theater

Wir kennen die von sozialem Überlebenskampf in England geprägten proletarischen und kleinbürgerlichen Geschichten aus den humanen Filmen von Ken Loach, den der Autor von „Ein Mann seiner Klasse“, Christian Baron, besonders schätzt. Und in der französischen und amerikanischen Literatur konnten wir in der Vergangenheit bereits Einblick in die Welten der Armut nehmen. So heisst es im Klappentext der „Hillbilly Elegie“ (2016): „J.D. Vance erzählt die Geschichte seiner Familie – eine Geschichte vom gescheiterten Aufstieg und der Resignation einer ganzen Bevölkerungsschicht. Sein Buch bewegte Millionen von Lesern in den USA und erklärt nicht zuletzt den Wahltriumph eines Donald Trump.

Aus Frankreich hat uns Didier Eribon mit „Rückkehr nach Reims“ (2009 in Frankreich erschienen als „Retour à Reims“) seine Armuts- und Aufstiegsgeschichte zum weithin bekannten Geisteswissenschaftler erzählt. Allerdings mit einem Unterschied zu Barons Kindheit: Deribon ist schwul. Das hat insofern Bedeutung, als man sich heutzutage in einer relativ liberalen Gesellschaft offen bekennen und auch einen sozialen bzw. emotionalen Kokon unter seinesgleichen finden kann. Anders verhält es sich mit der Armut. Die Scham, von ganz unten zu kommen, bleibt lebenslang und verwandelt sich vielleicht mit dem Outen der eigenen Herkunft, wie dies Didier Eribon getan hat.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 24. Juli 2022 spricht der Autor Baron darüber, weshalb die Armut in Deutschland auf den Theaterbühnen eher selten bis gar nicht vorkommt: Er vermutet, dass es mit der meist akademischen Herkunft der Theaterleute zu tun hat, die die Welt der Armut in diesem Land des „Wohlstands für Alle“ (Ludwig Erhard) einfach nicht kennen. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass die diskursive Herrschaft des Neoliberalismus der vergangenen Jahre den Klassenkonflikt in etwas umbog, das man meinte, sozialtechnologisch bewältigen zu können. Die realen Lebenswelten der unteren Schichten waren in der öffentlichen Diskussion eher marginal oder wurden – in bestimmten Medien – dem Gespött der Privilegierten preisgegeben, mit Hinweis auf die geschmacklose Kleidung, das Übergewicht oder auch die Ausdrucksweise dieser Leute.

Paral­lel­welt Kneipe

In der von Alkohol und Prügel bestimmten Kindheit des Autors Baron gibt es immer wieder Momente von Freude und Leichtigkeit. Der hart arbeitende Vater, dessen Chef, so wundert sich der kleine Christian, ihn einfach nicht genug verdienen lässt, um die Familie zu ernähren, lässt ab und an etwas mitgehen aus den Umzugskartons der amerikanischen Soldaten. Ein Nintendo Game Boy, der „vom Laster gefallen ist“, macht Vater und Söhne zu glücklichen Dauerzockern. Das sind Dinge, die sich die Familie niemals leisten konnte. „Es ist nicht recht, aber gerecht“, sagt der Vater. Als der Möbelpacker einen zweiten Videorekorder („vom Laster gefallen“) anschleppt, fragt Tante Juli: „Was willste denn domit, mir habbe doch schon eenen?“ Erklärung: Jetzt konnte die Familie von allen geliehenen Videofilmen Raubkopien machen. Christian: „Ich war im Himmel.

Nur einmal ist der Möbelpacker unvorsichtig, wird beim Klauen erwischt und fristlos gekündigt. Der arbeitslose Vater geht tagsüber nicht aus dem Haus, damit die Nachbarn nicht mitkriegen, was los ist, und streicht nachts um die Abfalleimer auf der Suche nach Essbarem. Er sei zu stolz gewesen, die ihm zustehende damals noch Sozialhilfe genannte staatliche Unterstützung zu beantragen. Zu stolz? Oder zu schwach, um diesen Weg zu gehen? Er ist gefangen in seiner Vorstellung, nur die „Kanaken“ schnorrten den Staat an, da will er sich nicht einreihen.

Auf der Bühne wird die Szene gezeigt, wie der jüngere Sohn Christian vor lauter Hunger, nachdem die letzte Ravioli-Dose leer ist, den Schimmel an der Kinderzimmerwand unterhalb des Fensters essen will, weil man doch Pilze essen kann. Sein grösserer Bruder schreit entsetzt: „Tus nich, davon kannste sterben.“ Nach einigen Wochen wird der Möbelpacker bei derselben Firma wieder angestellt.

Viel zu jung stirbt die Mutter an Krebs. Tante Juli nimmt die Kinder, die beiden Brüder und deren zwei Schwestern, zu sich. Der Alte lässt sich nicht mehr blicken. Wenn Sohn Christian durch Kaiserslautern geht, denkt er, irgendwo muss mein Vater doch hier rumlaufen. Der Vater soll da sein, das ist sein tiefer Wunsch: „Ich wollte immer, dass er bleibt.“ Christian hat als Asthmatiker einmal so viel Blut gespuckt, dass die Ärzte um sein Leben kämpfen mussten. Und der Vater ist da, küsst ihn gar auf die Stirn und rettet ihn davor, dass die „Gestalten in Weiß mich in den Himmel schickten“. Er sieht ihn dann im Gerichtssaal, wo die Richterin der Tante Juli das Sorgerecht für alle Kinder zuspricht und der Vater danach mit seiner neuen Freundin abzieht.

Musik spielt eine lebenswichtige Rolle in der Familie. Vater hatte einen echt guten Musikgeschmack, heißt es. Er liebt Freddy Mercury von Queen und hat einen ähnlich roten Schnäuzer wie dieser. Es kommt zu Szenen, wo die ganze Familie ausgelassen tanzt – für Christian Oasen des Glücks. Die Geschichten der oft coolen Typen in den Songtexten sind ihm Vorbilder.

Die Kneipe „Schnorres“ ist die Parallelwelt zur Familie, in der sich der Möbelpacker voll laufen lässt und der König ist. Sohn Christian wird manchmal mitgenommen und erlebt, dass sein Vater dort eine große Nummer ist. Als der Junge sein erstes Bier trinken soll, stellt ihm die Wirtin eine Sinalco hin und die Welt ist in diesem Augenblick an der Seite des Vaters für den Kleinen in Ordnung.

Was sonst unter Sozialkitsch laufen würde, ist für Christian überlebenswichtig. Als Tante Juli den brutalsten Satz sagt, den Christian je gehört hat – „Eure Mutter ist tot“ –, kann er absolut nichts sagen, wortlos verstockt kann er nur singen. Und er singt „unser Lied“, Heintjes: „Aber Heidschi bumbeidschi, schlaf lange./ Und ist auch Dein‘ Mutter gegangen./ Und ist die gegangen und kehrt nicht mehr heim./ Und lässt ihr klein’s Bübchen so ganz allein./ Aber Heidschi bumbeidschi bum, bum./ Aber Heidschi bumbeidschi bum, bum.

Impulse für den Aufstieg gibt das Umfeld

Auch nach dem frühen Krebstod der Mutter, die Gedichte geschrieben hat und deren Liebe er bei all ihren Depressionen spüren konnte, sind es vor allem Frauen, die Christian die Impulse geben, ohne die er niemals aus diesem Milieu rausgekommen wäre, wie er später sagt. Viel zu spät, aber doch noch findet eine Lehrerin zu Christian nach Hause und verhilft, schockiert vom Blick hinter die Kulissen der Familie, durch eine Gymnasiumsempfehlung Christian zum Bildungsaufstieg. Allerdings musste Tante Juli wie eine Löwin beim Jugendamt gegen erhebliche Widerstände kämpfen, damit der Junge in die integrierte Gesamtschule aufgenommen wird.

Die bürgerlich lebende andere Tante, die Christian mit in die Oper und zu Autorenlesungen nimmt und wo er die andere Lebenswelt das erste Mal mitbekommt, meint, er könne bestimmt mal ein guter Journalist werden, weil er sich selber Spielberichte des FC Kaiserslautern ausgedacht und aufgeschrieben hat. Als Tante Juli, bei der die Kinder leben, das erfährt, greift sie sich das Impressum der Rheinpfalz, ruft den Sportchef an und erklärt ihm, was für ein begnadeter Sportreporter ihr Sohn sei. Das Lachen am Ende der Leitung konnte Christian mithören. Tante Juli lässt nicht locker und meint, er könne dem Jungen doch mal einen Auftrag für eine Reportage geben. Und schiebt nach: „Oder sind Sie zu feige, dem jungen Mann eine Chance zu geben?“. Der Junge bekommt den Auftrag und hat damit seinen Einstieg in eine Journalismus- und Schriftstellerkarriere geschafft.

Anekdoten zeigen Strukturen

Ebenso wie in der Autobiographie reflektiert auch das Theaterstück nicht explizit die strukturellen Faktoren, die ein Leben in Armut bestimmen. Vielmehr kann man sie sich durch die erzählten Anekdoten erschließen. Nur im Schauspiel wird es konkreter, wenn am Schluss ein Ausschnitt aus einem TV-Beitrag die verheerenden Folgen von Hartz IV mit Niedriglohnsektor und Konkurrenz der ohnehin schon Benachteiligten anklagt. Baron nennt sich Sozialist. Mit Blick auf das geplante und bessere Bürgergeld anstelle von Hartz IV meint er, es gehe nicht darum, die Armen besser zu behandeln, sondern darum, die Armut in diesem reichen Land abzuschaffen.

Der Titel von Theaterstück und Buch „Ein Mann seiner Klasse“ zielt auf den Vater, lässt aber auch an den Sohn denken, der trotz akademisch-intellektueller Karriere den (Scham-)Gefühlen seiner Herkunft verhaftet bleibt. Dass Armut von Generation zu Generation perpetuiert werden kann, zeigt Baron in seinem jüngst erschienenen Roman „Schön ist die Nacht“. Darin schildert er die Proletariergeschichte der Freundschaft zwischen den Grossvätern von Christian. Beide leben in sogenannten prekären Verhältnissen. Während Willy versucht, anständig durchs Leben zu kommen, sucht Horst, der Vater des Möbelpackers, als gewalttätiger Tricksermit allen Mitteln seinen Vorteil. Und so umreißt Christian Baron die Vor- und Leidensgeschichte seiner Familie: „Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war. Das entschuldigt nichts, aber es erklärt alles.

Werner Koep-Kerstin

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