Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 237/238: Diskriminierende Realitäten

Endstation Triage? Gefahren der Priori­sie­rung für die Menschen­rechte

„Endstation Triage – Gefahren der Priorisierung für die Menschenrechte“ lautet der Titel einer Veranstaltung der Humanistischen Union (HU) am 17. September 2022 in Marburg. Mit ihr wollte die Bürgerrechtsorganisation die Erfahrungen im Umgang mit begrenzten intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten während der Corona-Pandemie aus verschiedenen Perspektiven reflektieren. Zugleich sollten menschenrechtliche Kriterien für den zur Diskussion stehenden Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Triage-Gesetz formuliert werden.

Aus dieser Diskussion entstanden die folgenden, überarbeiteten Beiträge des Historikers, Publizisten und Behindertenaktivisten Florian Grams (Hannover); der Pflegefachkraft und Betriebsrätin des Universitätsklinikums Gießen/Marburg, Gisela Lind; des Journalisten und Bürgerrechtlers Franz-Josef Hanke (Marburg); des Facharztes für Neurologie, Intensivmedizin und Geriatrie am Dresdner Universitätsklinikum, Kai Löwenbrück; des Strafrechtswissenschaftlers und Forschungsgruppenleiters am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, Jörg Arnold; sowie der Professorin i.R. für öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Rosemarie Will.

Die Redebeiträge der Podiumsdiskussion dokumentiert die Webseite der Humanistischen Union Marburg unter: http://triage.soziale-buergerrechte.de/.

Die Geschichte der Triage – eine Geschichte notwendig falscher Entschei­dungen

Im Frühjahr 2020 – die Pandemie hatte gerade begonnen und die ersten Debatten über die Triage hatten in diesem Zusammenhang stattgefunden – fand sich in der Notaunahme eines Krankenhauses der freundliche Hinweis, dass man sich gedulden möge, da in diesem Hause triagiert werde. Freilich ging es an dieser Stelle nicht um die Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen, sondern um die Reihenfolge entsprechend der Dringlichkeit der Behandlung. In diesem Sinne wird Triage auch in einigen medizinischen Handbüchern definiert. Etwa wenn mit Blick auf die klinische Praxis formuliert wird: „Freitagabend, 17 Uhr. Eine voll belegte Notfallstation. Der Pförtner bringt die Akten zweier gleichzeitig eingetroffener Patienten herein. Auf den darauf befestigten Notizzetteln steht ‚Juckreiz‘ beziehungsweise ‚Schnittwunde‘. Sie müssen entscheiden, welcher Patient zuerst angesehen wird. Das ist Triage.i Und es ist sicherlich das Verständnis von Triage, wie es auch in der besagten Notaufnahme zum Ausdruck kam. Eine solche Definition ignoriert jedoch die Herkunft des Begriffs der Triage aus der Militärmedizin.

Als Begründer der Triage gilt Jean Dominique Larrey – der Leib- und Armeearzt Napoleon Bonapartes – der in den Kriegen des französischen Kaiserreichs bemerkte, dass viele Soldaten starben, weil sie nicht schnell genug behandelt werden konnten. Aus diesem Grunde schuf er so genannte „fliegende Ambulanzen“ und sortierte die Verwundeten nach der Schwere ihrer Verletzungen. Aus diesem Umstand entstand der Begriff, denn „Triage“ ist eine Substantivierung des französischen Wortes „trier“ – heißt also Sortierung.ii Auf diese Weise rettete Larrey vielen Soldaten das Leben. Auf der anderen Seite gehörte zu seinem System aber auch, dass die schwerstverletzten Soldaten nicht gerettet, sondern zurückgelassen wurden.iii Im Lichte dieser Geschichte ist Triage daher zutreffend zu definieren als „[…] ein Verfahren der priorisierten, also nach Vor- und Nachrang geordneten Verteilung knapper lebenserhaltender Ressourcen unter einer Anzahl von Patienten, deren akuter Bedarf in seiner Gesamtheit die verfügbaren Ressourcen übersteigt.iv Dabei wäre in jedem Fall zu fragen, auf der Grundlage welcher Kriterien diese Zuteilung erfolgt. In den meisten Fällen sind es keine medizinischen Gründe, die über Behandlung oder Nichtbehandlung entscheiden, sondern Anforderungen anderer Art – etwa die schnelle und effiziente Wiederherstellung der Kampffähigkeit der Soldaten. So ist etwa belegt, dass US-amerikanische Kommandeure im Zweiten Weltkrieg das knappe Penicilin an geschlechtskranke Soldaten ausgaben statt an Schwerverletzte.v

Dass nichtmedizinische Kriterien auch außerhalb der Militärmedizin bei Triage-Entscheidungen wirksam werden, zeigte sich, als in den 1950er Jahren in den USA zu wenig Dialyse-Geräte für die zu behandelnden Patient:innen zur Verfügung standen. Um die Zuteilungsentscheidungen zu treffen, wurde damals in Seattle ein Laienkomitee gegründet, das die vorhandenen Dialyse-Geräte in erster Linie an weiße christliche, in Vereinen engagierte Familienväter vergab.vi Einen anderen Weg ging bei der gleichen Entscheidung ein New Yorker Krankenhaus. Um rassistische Zuteilungen zu verhindern, verloste man dort die Dialyse-Plätze. Einer der beteiligten Ärzte bekannte jedoch auf Nachfrage, dass es ihn belastet habe, „[…] im Zweifel ‚deserving patients‘ abweisen und statt dessen solche behandeln zu müssen, ‚who are only being served for an unhappy or anti-social life‘.vii In beiden Fällen blieben also soziale Kategorien wirksam und schufen ein Einfallstor für Lebenswertdiskussionen. Gleiches galt für Triage-Debatten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, in denen mitunter alte Menschen und Menschen mit Behinderungen als weniger dringlich zu behandeln eingestuft werden sollten als junge und vermeintlich ansonsten gesunde Patient:innen.viii

Jede Überlegung über die Anwendung von Triage-Kriterien muss sich fragen lassen, wessen Interessen sie dient, denn keine Entscheidung über die Vorenthaltung notwendiger medizinischer Maßnahmen kann medizinisch begründet werden. Die Formulierung von Triage-Kriterien kann daher nur auf der gesellschaftlichen Makroebene entschieden werden.ix Es stellt sich notwendig die Frage, wie viele Intensivbetten, Beatmungsgeräte und wie viel gut ausgebildetes und entsprechend bezahltes Personal in der Versorgung und Pflege sich eine Gesellschaft leisten will. So geriet das als vorbildlich geltende deutsche Gesundheitssystem in der Corona-Pandemie nah an seine Grenzen, weil es seit langer Zeit auf Verschleiß gefahren wurde und daher für die Krisensituation nicht umfassend gerüstet war.x An dieser Stelle bedarf es des politischen Umdenkens und nicht des Appells an Verantwortung oder Gewissen. Dies gilt umso mehr, als dass jede Triage-Entscheidung eine notwendig falsche Entscheidung ist, weil sie immer eine Reaktion auf eine inhumane Situation darstellt.xi

Von daher sind auch alle Versuche, Triage-Entscheidungen diskriminierungsfrei zu gestalten, notwendig unbefriedigend. Die Randomisierung wirkt wie eine Flucht aus der unangenehmen Situation. Auf der anderen Seite begibt sich jedes Nachdenken über Entscheidungskriterien in die Gefahr, Menschenleben gegeneinander aufzurechnen. Am Ende bleibt – in der Tradition der Aufklärung – nur, auf dem Imperativ Kants zu beharren, so zu handeln dass „[…] du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.xii In der Konsequenz bedeutet dies, alles daran zu setzen, dass eine Triage nicht stattfinden muss, weil jeder Mensch – als Selbstzweck – die für ihn notwendige medizinische Behandlung erhalten kann. Es geht also um nicht weniger als um die menschliche Gestaltung des Gesundheitswesens und der Gesellschaft.

Florian Grams

„Im Krankenhaus wurde schon immer triagiert!“

Mein Name ist Gisela Lind. Ich war ca. 30 Jahre als Fachkrankenschwester im Bereich Anästhesie und Intensivmedizin tätig. Ich habe meinen Beruf sehr gerne ausgeübt, war mit Leib und Seele Intensivschwester, bis vor 12 Jahren mich meine eigenen gesundheitlichen Probleme dazu zwangen, mich schweren Herzens von dem Dasein der Intensivschwester zu trennen. Seitdem bin ich Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrätin, wo mein Fokus auf der SBV liegt. Somit konnte ich meine Fürsorge auf meine Kollegen übertragen, nur ohne meine geliebten Maschinen. Sie merken sicher, ich konnte mich nie wirklich trennen. Ich sage das, um deutlich zu machen, wie wichtig mir Patienten und meine Kollegen sind.

Kommen wir nun zum Thema: Im Krankenhaus wurde schon immer triagiert! Diese Triage fand und findet immer dann statt, wenn kein Bett mehr frei war. Das kam vor und kommt immer häufiger vor. Leider müssen immer häufiger Patienten verlegt werden, die noch nicht stabil genug sind. Doch unsere Krankenhausfinanzierung ermöglicht nichts anderes. Unsere praktizierte Triage sah jedoch immer so aus: Wer am gesündesten von den kranken Patienten war, der musste gehen. Das heißt: Patienten, die eigentlich noch unserer Therapie und Pflege bedurften, wurden vorzeitig verlegt, um Platz zu schaffen, für Patienten, denen es schlechter ging. Diese Triage bezog sich aber immer auf das akute Krankheitsgeschehen. Ärzte und Pflege berieten sich, wer denn als erstes verlegbar sei, wenn denn ein Notfall kommt. Und es kamen viele Notfälle.

Selbst, wenn uns klar war, dass die Patienten die Verlegung wahrscheinlich nicht gut „verkraften“ würden und wir ahnten, dass diese Menschen wieder zurückkommen würden, weil es ihnen wieder schlechter ging, so mussten sie doch verlegt werden, um Platz und Ressourcen zu schaffen für Menschen, die diese Hilfe dringender brauchten.

Die zunehmende Reduzierung von Intensivbetten in deutschen Kliniken und der massive Pflegepersonalmangel fördern leider eine solche Triage! Eine Triage, die nicht gewollt, nicht sinnvoll, aber notwendig ist. Studien ergaben, dass Patienten, die zu früh verlegt wurden, eine deutlich höhere Mortalitätsrate aufwiesen oder am Ende zumindest einen deutlich längeren Krankenhausaufenthalt verzeichneten.

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es genügend Pflegepersonal gibt! 75 Prozent aller ausgestiegenen Pflegekräfte würden zurückkommen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Dies ergaben mehrere Studien und Umfragen. Pflegekräfte steigen durchschnittlich nach drei Jahren Berufspraxis aus, weil sie nicht das machen durften, weshalb sie diesen Beruf erlernt hatten. Die Motivation, diesen Beruf auszuüben, wird bereits kurz nach dem Examen zerstört – durch die Rahmenbedingungen, unter denen dieser Beruf auszuüben ist. Dazu gehören nicht nur die deutlich verbesserungsbedürftige Bezahlung, sondern vor allem die Arbeitsbedingungen. Pflegende möchten das machen, was sie gelernt haben! Sie möchten sich ganzheitlich um ihre Patienten kümmern. Sie wollen die nötige Zeit für ihre Patienten haben, um sie bestmöglich versorgen zu können. Aber sie müssen auch ihre Mieten bezahlen können und manchmal auch für ihre Familien da sein.

Die Politik, aber auch die Gesellschaft sind hier im Besonderen gefragt. Das Finanzierungssystem muss neu überdacht werden. Es muss möglich sein, sich vollumfänglich um Patienten zu kümmern, ohne ständig Zeit und Geld im Nacken zu haben. Es braucht nicht nur Geräte, damit ein Patient so schnell als möglich wieder nach Hause kann. Jeder von uns möchte, dass Ärzte und Pflege nicht nur Fachkompetenz besitzen, sondern auch Empathie und Zeit für den Menschen haben, denn jeder von uns ist ganz individuell und es bedarf individueller Maßnahmen, um die Gesundheit zu stärken und damit die Krankheitsphasen zu reduzieren.

Gisela Lind

Weiter­füh­rende Gedanken zum Thema „Prio­ri­sie­rung“ im Gesund­heits­system

Triage wird grundsätzlich immer im Fall einer Verknappung medizinischer Ressourcen nötig. Darum muss das erste Ziel einer demokratischen und menschenwürdigen Gesellschaft sein, ausreichende Ressourcen zur Versorgung aller Menschen mit den notwendigen medizinischen Hilfen bereitzustellen. Das beinhaltet auch, dass die medizinische Daseinsvorsorge nicht dem Diktat wirtschaftlicher Gewinnmaximierung unterworfen werden darf. Dennoch wird es auch bei enormen Anstrengungen der Verantwortlichen keine grenzenlosen Versorgungskapazitäten geben können. Darum ist es unerlässlich, dass sich die gesamte Gesellschaft gründlich auf mögliche Fälle von Triage vorbereitet.

Eine Priorisierung findet im Gesundheitssystem ohnehin tagtäglich statt. Deutlichstes Beispiel einer ungerechten Ressourcenverteilung ist die Aufspaltung der Gesundheitsversorgung in die gesetzliche und die private Krankenversicherungen. Ihr steht das Modell einer „Bürgerversicherung“ als wesentlich tragfähigere Finanzierungsstruktur gegenüber, die auch die Vermögenden entsprechend ihrer Wirtschaftskraft in die Finanzierung der allgemeinen Krankenversorgung angemessen einbezieht.

Daneben müssen Ressourcen auch regional gerechter verteilt werden. Der „ländliche Raum“ darf nicht ausbluten, weil dort keine Krankenhäuser mehr existieren und zu lange Rettungswege die Überlebenschancen nach Unfällen oder anderen Ereignissen verringern. Auch wenn sich Therapien aufgrund der geringen Zahl möglicher Betroffener nicht wirtschaftlich rechnen, müssen sie trotzdem angeboten werden.

Neben all dem geht es vor Allem aber auch um Krisen wie eine Pandemie, einen Krieg oder die Folgen des Klimawandels und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Dafür muss der Staat vorausschauend Vorsorge treffen. Deswegen muss es in einem klugen Gesundheitssystem immer Überkapazitäten für Notfälle geben.
Da die Mittel jedoch immer begrenzt bleiben werden, müssen sich Ärztinnen und Ärzte trotzdem auf die mögliche Situation einer Triage vorbereiten. Angesichts ihres vermutlich eher kurzfristigen Auftretens ist eine frühzeitige Vorbereitung durch Übungen und Leitfäden notwendig. In diese Vorbereitung muss die Medizin auch mögliche Betroffene aus „vulnerablen Gruppen“ einbeziehen, um auf ihre besonderen Bedürfnisse vorbereitet zu sein.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Benachteiligung von Menschen aufgrund einer Behinderung oder ihres Alters auch im Fall einer Triage ausdrücklich untersagt. Doch entsprechend der Erkenntnis, dass auch die Androhung von Folter bereits Folter ist, ist auch die drohende Ausgrenzung im Fall einer Triage für mögliche Betroffene bereits eine massive Ausgrenzung. Sie knüpft an alltäglichen Benachteiligungserfahrungen an und mündet in die Sorge um das eigene Überleben im Katastrophenfall. Die Stigmatisierung von Menschen mit Beeinträchtigungen muss darum bereits im Vorfeld aufgehoben werden. Bei den Debatten über Triage ist ihre Stimme deshalb von allerhöchstem Gewicht. Diskussionen ohne Betroffene nehmen ihre Ausgrenzung im Ernstfall bereits vorweg.

Letztlich spielt in der gesellschaftlichen Debatte die Tatsache kaum eine Rolle, dass die Mehrheit der Menschen in höherem Alter behindert sein wird. Bereits im Durchschnitt der Bevölkerung liegt der Anteil der Menschen mit Behinderung bei mehr als 10 Prozent. Als mehrfachbehinderter Blinder würde ich dabei statistisch jedoch nur einmal gezählt. Mehrfachbehinderte wie ich wären bei einer Triage wahrscheinlich die ersten Opfer. Eine meiner drei Behinderungen galt im sogenannten „Euthanasieprogramm“ der nationalsozialistischen Mordmaschinerie als Tötungsgrund. Eine zweite wurde durch Sterilisation „bekämpft“. Gerade auch diese Erfahrungen von Behinderten mit faschistischer Ideologie, die spätestens seit 1933 und bis heute noch in vielen Köpfen – auch von Ärztinnen und Ärzten oder Pflegenden – herumspukt, mahnt zu einer bewussten und vorsichtigen Auseinandersetzung mit dem Thema „Triage“. Selbst wenn Behinderte sich in den vergangenen Jahrzehnten viele Freiräume erobert haben, ist Inklusion immer noch ein unerreichtes Ziel. Ausgrenzung hingegen ist in vielen Lebensbereichen nach wie vor Alltag.

Wenn Menschen mit Behinderungen eine Randomisierung der Entscheidung über die Verteilung medizinischer Ressourcen fordern, geschieht das aus der begründeten Sorge darüber, dass alle denkbaren medizinischen Kriterien indirekt immer wieder die Beeinträchtigung aufgreifen: Das gilt für Kriterien wie die „Komorbidität“ ebenso wie für die Überlebenswahrscheinlichkeit. Andererseits sträubt sich alles in mir dagegen, ein Losverfahren über Leben und Tod entscheiden zu lassen. Allerdings sind auch Begründungen wie Familienstand und Kinderzahl durchaus fragwürdig. Bereits in seinem Luftsicherheitsurteil von 2006 hatte das BVerfG die größere Zahl an bedrohten Menschenleben nicht als Grund gelten lassen, eine geringere Zahl an Personen in einem Flugzeug dafür zu opfern.

Darum steht am Ende die Erkenntnis, dass es keine gerechte Triage geben kann. Eine möglichst wenig ungerechte Triage wäre aber wohl besser als eine gänzlich ungerechte. Welche Kriterien dabei zugrunde gelegt werden können, vermag ich aber nicht abschließend zu sagen.

Franz-Josef Hanke

Das Triage-­Ge­setz aus Sicht der Praxis

Ich möchte das mittlerweile verabschiedete „Triage-Gesetz“ aus Sicht des medizinischen Anwendungskontexts kommentieren; also bezogen darauf, inwieweit das Gesetz der durch das Bundesverfassungsgericht festgestellten „Schutzpflicht“ des Gesetzgebers, Menschen in Triage-Situationen „wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung“ zu bewahren, gerecht wird.xiii Wichtig erscheint dabei, dass diese „Schutzpflicht“ keinen absoluten Charakter hat, sondern dass „…dem Gesetzgeber ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum…“ zusteht, das heißt, dass ein Ermessensspielraum besteht, in dem die wirksame Umsetzung der Schutzpflicht mit anderen Gütern abgewogen werden kann.

Extreme Beschrän­kung des Anwen­dungs­be­reichs

Was ist ein sinnvolles anwendungsbezogenes Beispiel, um das Triagegesetz bezogen auf seine Güte zu bewerten? Das Triage-Gesetz regelt den Fall, dass aufgrund einer Infektionskrankheit intensivmedizinische Ressourcen so knapp sind, dass in der Zuteilung zwischen verschiedenen Patient:innen abgewogen werden muss. Anders gesprochen: Hätte eine Pandemie nicht zu Knappheit geführt, würden beide Patient:innen intensivmedizinisch behandelt.

Um das Gesetz zu bewerten, ist es nicht sinnvoll, von dem oft geschilderten Extrembeispiel auszugehen: Es gibt nur noch ein Beatmungsgerät, und ein:e Patient:in muss ersticken. Ein aus praktischer Sicht realistischeres Beispiel wäre das folgende:

Nur eine:r von zwei Patient:innen mit einer Blutvergiftung kann intensivmedizinisch behandelt werden; der oder die andere Patient:in wird auch weiterbehandelt, aber mit weniger intensiven (und damit weniger sicheren) Behandlungsoptionen. Dadurch hat diese:r Patient:in ein erhöhtes Risiko für ein schlechteres Behandlungsergebnis.

Bei der Triage handelt es sich regelmäßig nicht um eine Frage von Leben und Tod, sondern eher um die Frage eines durch intensivmedizinische Ressourcenknappheit hervorgerufenen erhöhten Behandlungsrisikos für eine:n Patient:in. Das „letzte Beatmungsgerät“ ist nur das Extrembeispiel einer Maximalrisikozuteilung, was (glücklicherweise) in Deutschland nicht anwendungsrelevant und somit auch wenig geeignet ist, die Gesetzesgüte zu beurteilen.

Indem das Gesetz die „Triage“ auf die Zuteilung von intensivmedizinischen Maßnahmen in einer pandemie-induzierten Knappheit beschränkt, impliziert es zugleich, dass prognoserelevante Ressourcenallokationsentscheidungen und eine daraus resultierende etwaige Diskriminierung nur durch Pandemien bedingt wären. Dies entspricht jedoch nicht der Behandlungsrealität: Ein relativer Mangel war schon vor der Pandemie regulärer Alltag in deutschen Krankenhäusern, verbunden mit risikobehafteten Abwägungsentscheidungen.xiv Verschobene Tumoroperationen gefährden das Überleben von Tumorpatient:innen, genauso wie der eklatante Mangel an psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten die Suizidgefahr von Menschen mit Depressionen erhöht. Insofern ist das Gesetz unverständlich, weil es davon ausgeht, dass ein Schutz vor Diskriminierung nur bei pandemiebedingter Knappheit relevant wäre.

Ein Maß dafür, ob ein Gesundheitswesen alle Möglichkeiten ausschöpft, um vor Krankheit und Tod zu schützen, sind durch Gesundheitsversorgung „vermeidbare“ Erkrankung und Sterblichkeit (quantifiziert im sog. Health Access and Quality Index, HAQI).xv Naturgemäß ist dies ein schwierig zu erreichendes Ideal, und das deutsche Gesundheitswesen nimmt derzeit immerhin den 20. Platz weltweit ein. Gerecht oder fair wäre nun, wenn sich vermeidbare Erkrankung und Sterblichkeit gleichmäßig über alle Krankheitsbilder verteilen würden. Das ist aber nicht der Fall, sondern die durch das Gesundheitswesen vermeidbare Sterblichkeit ist höchst unterschiedlich verteilt. So erreicht Deutschland für einzelne Krankheitsbilder einen perfekten HAQ-Index von 100 (etwa bei Masern, für die es wirksame Impfprogramme gibt). Demgegenüber werden bei Hodenkrebs nur 66% der vermeidbaren Erkrankungen/Sterblichkeit erreicht. Darüber hinaus sind vulnerable Gruppen überdurchschnittlich stark von durch das Gesundheitswesen vermeidbarer Erkrankung/Sterblichkeit betroffen, mit zunehmender Ungleichverteilung: Während 1980 Menschen mit niedrigem Bildungsgrad noch 50% stärker betroffen waren als Menschen mit hohem Bildungsgrad, waren sie 2010 doppelt so stark betroffen.xvi

Durch Gesundheitsversorgung vermeidbare Erkrankung/Sterblichkeit sind somit sehr ungleichmäßig zwischen Erkrankungen und unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verteilt und – in Zahlen gesehen – eine wesentlich bedeutsamere Quelle von potentiell ungerechtfertigter Benachteiligung als eine pandemiebedingte Knappheit von intensivmedizinischen Kapazitäten. Die Spanische Grippe als letzte Vor-Covid-Pandemie ist fast 100 Jahre her. Es ist unverständlich, warum sich das Triage-Gesetz auf ein so seltenes Ereignis beschränkt und darauf verzichtet, die wesentlich häufigeren Quellen von vermeidbare Krankheit/Sterblichkeit zu regeln. Natürlich kann ein Triage-Gesetz nicht alle Formen von Ungleichbehandlung adressieren, jedoch ist diese sehr enge Beschränkung auf ein Jahrhundertereignis nicht nachvollziehbar und wird dem Schutzauftrag des Gesetzgebers nicht gerecht.

Ist das Gesetz wider­spruchs­frei?

In der Begründung des Gesetzes wird darauf eingegangen, dass aufgrund der hohen Relevanz das Gesetz nicht nur das „wie“ regeln soll (formale Kriterien), sondern auch das „was“ (Entscheidungskriterien, sog. „materielle Kriterien“). Dazu gehört, dass Behinderung und/oder Alter nicht berücksichtigt werden dürfen bei Zuteilungsentscheidungen, gleichzeitig aber die Überlebenswahrscheinlichkeit der intensivmedizinischen Therapie das Hauptkriterium sein soll, abgeschätzt unter Berücksichtigung von relevanten Begleiterkrankungen. Begleiterkrankungen sind aber nur dann relevant, wenn sie eine funktionell bedeutsame Einschränkung einer Organfunktion hervorrufen – und damit in der Regel eine Behinderung. Tatsächlich waren 24,7% der Menschen über 65 Jahre in Deutschland 2021 schwerbehindert.xvii Es ist davon auszugehen, dass Begleiterkrankungen, die gleichzeitig eine Behinderung hervorrufen und für die Überlebenswahrscheinlichkeit relevant sind, eher die Regel als eine Ausnahme darstellen. Somit kann man dem Gesetz vorwerfen, dass es trotz der starken Überlappung zwischen Begleiterkrankung und Behinderung das eine als Positiv- und das andere als Negativkriterium definiert und damit widersprüchlich ist.

Ist das Gesetz prakti­ka­bel?

Das Gesetz gibt keinerlei Anleitung, wie der inhaltliche Konflikt zwischen Begleiterkrankungen und Behinderungen aufzulösen ist. Ein Beispiel wäre eine eingeschränkte Lungenfunktion, welche die Überlebenswahrscheinlichkeit reduziert. Soll diese nur berücksichtigt werden, wenn der:die Patient:in dadurch keinen anerkannten Grad der Behinderung hat? Wie soll zu rechtfertigen sein, Patient:innen mit „nicht behindernden“ relevanten Begleiterkrankungen (insoweit es das überhaupt gibt) zu benachteiligen, solche mit „behindernden“ aber nicht?

Weiterhin verlangt das Gesetz, das bei jeder Entscheidung über einen Menschen mit Behinderung ein:e „Expert:in“ für Behinderungen beteiligt sein muss, ohne zu definieren, was jemanden überhaupt zu einem:r Expert:in macht. Die Häufigkeit von Behinderung bedeutet, dass in der Realität für fast jede Triage-Entscheidung ein:e solche:r Expert:in benötigt würde.

Sowohl der unaufgelöste Widerspruch in der (Nicht-)Berücksichtigung von Begleiterkrankungen und Behinderungen wie auch die verlangte 24/7-Verfügbarkeit nicht näher definierter Expert:innen und die nicht nachvollziehbare Beschränkung auf pandemische Situationen schränken die Praktikabilität des Gesetzes stark ein.

Ist das Gesetz angemessen?

Die „Angemessenheit“ ist eine Frage der Abwägung und damit auch von gesellschaftlichen Wertevorstellungen. Das Triage-Gesetz schränkt die zulässigen Entscheidungskriterien stark ein (nur Kurzzeitüberlebenswahrscheinlichkeit, nur Berücksichtigung von relevanten Begleiterkrankungen). Der Gesetzgeber rechtfertigt dies damit, dass weiterreichende Kriterien (z.B. Berücksichtigung der potentiellen Lebensqualität nach der Intensivtherapie) nicht vereinbar wären mit dem Grundsatz der Lebenswertindifferenz – dass das Leben eines:r Einzelnen gleich viel wert ist und nicht für ein anderes geopfert werden darf. Diese enge Beschränkung steht jedoch in eklatantem Widerspruch zum Anspruch einer „menschlichen“, „personenzentrierten“ Medizin, die Menschen eben nicht auf mechanistische Einzelkriterien reduzieren, sondern durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise der individuellen Lebenssituation und Gesundheit ein medizinisches Behandlungskonzept umzusetzen, dass persönlichen Besonderheiten möglichst gerecht will.xviii Es ist äußerst fraglich, ob die mechanistische Beschränkung auf Einzelkriterien den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung und ihren komplexen individuellen Lebenssituationen Rechnung trägt.

In einer pluralistischen Gesellschaft sollte der Gesetzgeber bei der Auslegung seines oben erwähnten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums auch das öffentliche Verständnis von Angemessenheit und Gerechtigkeit berücksichtigen. Bezogen auf Triage zeigen nationale und internationale Studien, dass Menschen, unabhängig von Gesellschaftsform und Kulturkreis, keine rein „egalitären“ lebenswertindifferenten Entscheidungskriterien heranziehen wollen, sondern auch komplexere Kriterien, die die individuelle Lebenssituation mit einbeziehen;xix darunter immer wieder auch solche Kriterien, die als „utilitaristisch“ verstanden werden können – beispielsweise die Bevorzugung von Jüngeren oder von Personen mit weiteren abhängigen Personen (z.B. Kindern). Dazu kommt, dass nicht alle utilitaristischen Kriterien im Widerspruch mit der Lebenswertindifferenz stehen: So kann die Bevorzugung von Jüngeren auch damit gerechtfertigt werden, dass Jüngere weniger Lebenszeit und Lebensabschnitte selbstbestimmt haben gestalten können als Ältere (Fair-Innings-Theorie). Die Nicht-Berücksichtigung des Alters (wie derzeit im Gesetz vorgeschrieben) kann nach der Fair-Innings-Theorie auch als eine Benachteiligung von Jüngeren verstanden werden.

Wenig verständlich ist auch das Verbot der Ex-Post-Triage: Die Annahme, dass jemand, der einmal eine Ressource zugeteilt bekommen hat, mehr Anrecht auf diese hat als jemand, der später kommt und sie ebenfalls benötigt, ist mit dem Ansatz der Lebenswertindifferenz nicht vereinbar. Letztlich bedeutet der Ausschluss der Ex-Post-Triage nämlich nichts weiter als: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Leider ist es aber nicht zufällig, wer zuerst ins Krankenhaus kommt. Wiederholt wurde gezeigt, das vulnerable Gruppen verspäteten und erschwerten Zugang haben und dies ein Grund für die höhere und damit vermeidbare Erkrankung/Sterblichkeit sein kann.xx Ausschluss der Ex-Post-Triage bedeutet also nichts anderes als denen, die aufgrund ihres privilegierten sozialen Status früher Zugang zu einer knappen Ressource gefunden haben, Priorität einzuräumen. Die Interessen von Menschen mit Behinderung werden hierdurch ganz sicher nicht geschützt. Zudem erschwert es angemessene Abwägungsentscheidungen: Wenn nur zwischen verhältnismäßig wenigen Patient:innen entschieden werden kann, die gerade in der Notaufnahme auf eine intensivmedizinische Kapazität warten (Ex-Ante-Triage), dann ist eine weniger fein abgestimmte und damit weniger faire Entscheidung möglich, als wenn alle Patient:innen einbezogen werden, die gerade Bedarf an der Ressource haben.

Zusammenfassend erscheint das Gesetz weder verständlich, widerspruchsfrei, praktikabel noch angemessen. Gerade die Beschränkung auf ein Jahrhundertereignis einer Pandemie lässt den Eindruck entstehen, dass es überhaupt nicht zur Anwendung kommen soll. Der Gesetzgeber flüchtet damit vor der Verantwortung, sich um die gesellschaftlich relevante Frage zu kümmern, wie eine Benachteiligung bei der Ressourcenallokation im Gesundheitswesen vermieden werden kann – nicht nur in der Intensiv- und Notfallmedizin, sondern auch in anderen medizinischen Versorgungsbereichen. Das Gesetz regelt eine absolute Ausnahme, während der Alltag außen vor bleibt.

Kai Loewenbrück

Endstation „Triage“?xxi

Der vom Bundeskabinett am 26.8.2022 vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes will nach seiner Begründung die Vorgaben des BVerfG vom 16.12.2021 zum Schutz behinderter Menschen vor Benachteiligungen bei der Zuteilung überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungsressourcen umsetzen. An diesem Gesetzentwurf wird zu Recht erhebliche Kritik geäußert. Diese bezieht sich u.a. darauf, dass die Ex-post-Triage gesetzlich ausgeschlossen werden soll.

Das geht zurück auf regen öffentlichen Widerstand, insbesondere durch Behinderten- und Sozialverbände. Das Deutsche Institut für Menschenrechte stufte die Ex-post-Triage als menschenrechtswidrig ein. Dagegen wiederum wenden Ärzteverbände und Stimmen aus der Rechtswissenschaft ein, dass das Verbot einer Ex-post-Triage mehr Menschenleben kosten werde, gerade von Menschen mit Behinderung. Ihre Sorge ist, dass künftig einmal eingeleitete Intensivtherapien nicht mehr beendet würden – auch dann nicht, wenn eine Weiterbehandlung medizinisch-ethisch nicht mehr geboten sei. Zwar werde im Triage-Gesetz der Abbruch einer begonnenen intensivmedizinischen Behandlung im Pandemiefall untersagt; realistisch sei aber, dass das indirekt zur Grundregel werde, weil es jede Einzelfallentscheidung für einen Therapieabbruch auf Intensivstationen juristisch angreifbar mache.xxii Ferner wird als Kritikpunkt an dem Ausschluss der Ex-post-Triage darauf hingewiesen, dass in Extremphasen einer Pandemie die Gefahr bestehe, dass Menschen nach einem Herzinfarkt oder einem schweren Unfall nicht mehr auf eine Intensivstation aufgenommen würden.xxiii

Demgegenüber wird mit dem Prinzip der Lebenswertindifferenz argumentiert. Dieses Prinzip folge aus einem strikten verfassungsrechtlichen Egalitarismusxxiv und bewirke, dass selbst im Falle, der zuerst intensivmedizinisch behandelte Patient würde dies „höchstwahrscheinlich nicht überleben“, gleichwohl aber medizinische Indikation fortbestehen würde, eine Ex-post-Triage nicht zulässig wäre.xxv

Jene Stimmen hingegen, die sich für die Zulassung der Ex-post-Triage aussprechen, stehen wohl überwiegend auf dem Boden des Utilitarismus, gegen den nicht zuletzt schwerbehinderte Menschen nachvollziehbare grundlegende Vorbehalte haben.

Fest steht, dass für den Fall, die Ex-post-Triage würde gesetzlich zugelassen, große Unsicherheit darüber bestünde, ob dann auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für Ärzte (etwa durch Totschlag) vorläge. Für diesen Fall geben Stimmen aus der Strafrechtswissenschaft zu bedenken, dass gesetzlich geregelt werden müsste, was strafbar ist und was nicht, weil nur so die Rechtsunsicherheit für die Ärztinnen und Ärzte beseitigt werden könne.xxvi

Weitere kritische Fragen beziehen sich auf die Ex-ante-Triage, also darauf, wie bei der Aufnahme von Patientinnen und Patienten zu entscheiden ist, die alle intensivmedizinischer Behandlung bedürfen, für die aber die intensivmedizinischen Apparate oder die Bettenkapazität der Klinik nicht ausreichen. In dieser Konstellation geht es darum, nach welchen Kriterien die Zuteilungsentscheidungen erfolgen, welche Menschen in die Klinik aufgenommen werden und welche Menschen nicht. Hierfür wäre nach dem Gesetzentwurf das materielle Kriterium „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ maßgebend.

Dagegen wird u.a. eingewandt, dass nicht hinreichende Klarheit bestehe, wie dieses Kriterium auszulegen ist. Die Begründung des Gesetzesentwurfs rückt dieses Kriterium in die Nähe der „klinischen Erfolgsaussichten“. Damit seien Diskriminierungen gerade nicht ausgeschlossen. Das Kriterium wurde bereits im Vorfeld der BVerfG-Entscheidung heftig kritisiert, weil es in einem relativ weiten Sinne interpretiert werden kann. Deshalb sprachen sich Kritiker dafür aus, das Kriterium allein unter dem Aspekt der Dringlichkeit auszulegen.xxvii

Der „Runde Tisch Triage“ plädiert dafür, die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ ausschließlich im Sinne einer Behandlungsindikation zu verstehen. Bei der Ex-ante-Triage sprach er sich für ein Randomisierungsverfahren aus. Die einzige Möglichkeit, eine Diskriminierung von älteren Menschen und Behinderten sicher auszuschließen, sei die Anwendung von Zufallsprinzipien. Im Fall knapper Ressourcen solle das Losverfahren oder die Reihenfolge der Einlieferung in der Klinik darüber entscheiden, wer zuerst intensivmedizinisch behandelt wird

Es überrascht allerdings, dass in diesem Zusammenhang nicht beachtet wurde, dass behinderte Menschen es aufgrund ihrer Handicaps unter Umständen schwerer haben, ins Krankenhaus transportiert zu werden, beispielsweise wenn sie auf den Rollstuhl angewiesen sind.xxviii Behinderte Menschen haben es unter Umständen schwerer als nichtbehinderte Menschen, den Transport ins Krankenhaus zu organisieren bzw. sich gegenüber dem Krankenhaus bzw. dem telefonischen Notdienst zu verständigen.xxix Diese Erschwernis- und Zeitfaktoren sollten im Hinblick auf Zufallsentscheidungen nach dem Losverfahren bzw. dem Prinzip „wer zuerst kommt“ berücksichtigt werden.

Ein eigenes Problem bei der Ex-ante-Triage betrifft die straflose Diskriminierung, die auch nach dem Gesetzentwurf straflos bleiben soll. Dabei bezieht sich die Gesetzesbegründung auf die Konstellation einer sogenannten „rechtfertigenden Pflichtenkollision“, die dann vorliegt, wenn eine Person zwei gleichwertige Handlungspflichten (= Rettungspflichten) treffen, sie aber nur eine erfüllen kann (etwa von zwei bedrohten Menschenleben nur eines retten kann).xxx

Nach der in der Strafrechtswissenschaft überwiegend vertretenen Auffassung handelt der Arzt auch dann gerechtfertigt, wenn er sich bei der Entscheidung zwischen gleichwertigen Lebensrettungspflichten von diskriminierenden Motiven leiten lässt. Das ergibt sich nach dieser Auffassung daraus, dass man das Diskriminierungsunrecht bzw. das moralisch zu missbilligende Motiv des Arztes in einer Situation echter Pflichtenkollision nicht als Tötungsdelikt erfassen könne, solange der Arzt seine Behandlungskapazität ausschöpft. Einer Verurteilung des Arztes wegen Tötung des Patienten A durch Unterlassen würde implizieren, dass der Arzt rechtlich verpflichtet gewesen sei, genau diesen Patienten und nicht den Patienten B zu retten, welchen er tatsächlich rettete.xxxi

Man könnte nun aufgrund der Regelung im Gesetzentwurf, wonach niemand bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten benachteiligt werden darf – insbesondere nicht wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung –, zu der Auffassung gelangen, dass dies eine straflose Diskriminierung ausschließe. Die Begründung des Gesetzentwurfs zeigt allerdings, dass das nicht gewollt ist. Auf diese Weise wird der eigene Anspruch des Gesetzentwurfs konterkariert.

In der Entscheidung des BVerfG wird auch die sog. „Vor-Triage erwähnt, als Zitat aus der Stellungnahme des Bundesverbandes Caritas Behindertenhilfe zur Beschwerde. Der Bundesverband berichtete in seiner Stellungnahme, dass 2020 in Regionen mit extremen Infektionslagen Menschen mit Behinderung trotz schwerer Infektion mit COVID-19 nicht in ein Krankenhaus aufgenommen wurden, obwohl sie in ihren Einrichtungen nicht hinreichend versorgt werden konnten. Eine Einrichtung des Verbandes habe daher eigene Beatmungsgeräte angeschafft. Das zeige exemplarisch, dass eine „Triage vor der Triage“ stattfinde, was aber derzeit nicht mit validen Daten zu belegen sei. Der „Runde Tisch Triage“ definierte in seinem Kommentar die „Triage vor der Triage“ als eine Selektion im Vorfeld, die eine Verweigerung der intensivmedizinischen Behandlung darstelle.xxxii

Thematisiert wird auch das Problem einer „stillen Triage“. Diese liege dann vor, wenn beispielsweise Krebspatienten kein Bett bekommen und nicht operiert werden können, weil Personal aus den Operationssälen zur Coronaversorgung auf Intensivstationen verschoben werden, weshalb die Krebseingriffe dann ausfielen.xxxiii Kritisiert wird hier vor allem die Politik, denn diese habe in Hochzeiten der Pandemie empfohlen, auf planbare Operationen zu verzichten.xxxiv

Gesprochen wird schließlich auch noch von der „grauen Triage“. Dabei handele es sich um vorgelagerte Priorisierungsentscheidungen zum Beispiel beim Zugang zur Intensivstation, die intransparent und dadurch missbrauchsanfällig sind.xxxv

In strafrechtlicher Hinsicht wurde bisher allein die Frage angesprochen, ob und in welchem Umfang Ärzte die (strafbewehrte) Pflicht haben, für eine ausreichende Kapazitätserweiterung zu sorgen, bevor eine Triage-Situation entsteht.xxxvi Diese Fragestellung korrespondiert wohl mit allen Formen der „Vor-Triage“, soweit sie damit in Zusammenhang stehende Pflichtverletzungen von Ärztinnen und Ärzten betrifft. Aber auch in Fällen, in denen die Aufnahme von behinderten sowie alten Menschen in Krankenhäuser verhindert wird, sei es durch das nicht-medizinische wie medizinische Personal, kann sich Strafbarkeit ergeben.

Insoweit die „Vor-Triage“ aber auch von anderen Berufsgruppen mit einer Garantenstellung vorgenommen wird, etwa durch das Pflegepersonal, steht auch hier die Fragestellung nach deren Strafbarkeit, wenn sie entweder in der ambulanten oder der Heimpflege bewusst verhindern, dass behinderte oder alte Menschen, die an COVID-19 erkrankt sind, in ein Krankenhaus eingewiesen oder dorthin verlegt werden. Sollte diese Selektion zum Tod der den Pflegerinnen und Pflegern anvertrauten Menschen führen, käme je nach Fallkonstellation auch hier durch Unterlassen begangener Totschlag in Betracht. Da es aber bis heute keine verifizierbaren genaueren Erkenntnisse über die Praxis der verschiedenen Formen der „Vor-Triage“ gibt, befindet sich das Strafrecht hier eher in einer symbolischen Existenz.

Sofern das pandemische Geschehen aber wieder zunimmt, wird auch die „Vor-Triage“ wieder stärker zum Thema werden. Deshalb sollte dieses Phänomen, dass eben kein Phantom ist, dringend untersucht werden. Aus den daraus gewonnenen Ergebnissen, sollten diese belastbar sein, können konkrete politische und rechtliche Konsequenzen gezogen werden. Dass solche Untersuchungen bisher nicht erfolgt sind, verdeutlicht, wie wenig ernst dies von der Politik bisher genommen wurde.

Es müsste auch alles getan werden, um so etwas wie eine „Vor-Triage-Atmosphäre“ zu verhindern, die u.a. darin zum Ausdruck kommt, dass Landesärztekammern vereinfachte Patientenverfügungen verteilt haben sollen, in denen Menschen oder deren gesetzliche Betreuer motiviert wurden, lebensverlängernde Maßnahmen durch eine intensivmedizinische Behandlung abzulehnen.

Abschließend bleibt festzustellen: Über den vorgelegten Gesetzentwurf der Regierung zu Zulassungsentscheidungen bei knappen Ressourcen, also zur „Triage“, ist eine grundlegende Parlamentsdebatte wünschenswert. Dabei sollte auch erörtert werden, worin die politischen und ökonomischen Ursachen für die Ressourcenknappheit zu suchen und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, damit das Gesundheitswesen aus der Klammer eines an zunehmender Privatisierung, Ökonomisierung und Profitabilität ausgerichteten Systems mit einem knapper werdenden Personal in den Kliniken befreit werden kann. Erst wenn sozusagen die Axt an die tieferen Wurzeln gelegt worden ist, lassen sich dilemmatische „Triage“-Entscheidungen in Pandemien wirklich vermeiden. Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare nennt das „die Atemnot des Kapitalismus“xxxvii, und verweist auf europäische Länder wie Italien, aber auch auf die USA, wo nachweislich nach dem Kriterium der „höheren Lebenserwartung“ triagiert worden sei.xxxviii Damit seien „die verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus auf das öffentliche Gesundheitsweisen zutage“ getreten.xxxix Ob den politischen Entscheidungsträgern allerdings daran gelegen ist, hier etwas grundlegend zu verändern, muss bezweifelt werden. Deshalb sollten jene gesellschaftlichen Stimmen noch hörbarer werden, die diesen Auswirkungen auf das Gesundheitswesen entgegentreten.

Jörg Arnold

Grundrechte in der Triage

Bei der Veranstaltung der Humanistischen Union (HU) Marburg war ich ersatzweise für Oliver Tolmein, der die Verfassungsbeschwerde von Behinderten anwaltlich in Karlsruhe erfolgreich vertreten hatte, eingeladen. Durchaus im Unterschied zu O. Tolmein als anwaltlichem Vertreter von Behinderten, ging es mir als Verfassungsrechtlerin und langjährigem HU-Mitglied in der Podiumsdiskussion um zweierlei: Zum einen um eine allgemeine Verständigung zu bürgerrechtlich vertretbaren Kriterien in Triage-Situationen und zum anderen um die Einflussmöglichkeiten der HU auf den damals noch laufenden Gesetzgebungsprozess zur Triage-Regelung. Der HU-Ortsverband Marburg hatte die Verfassungsbeschwerde von Behinderten aktiv unterstützt. Dabei ging es ihr wie den Beschwerdeführern darum, eine mögliche Diskriminierung Behinderter in Triage-Situationen zu verhindern. Eine offene Verständigung über allgemeine grundrechtliche Maßstäbe unvermeidlicher Triage-Entscheidungen war in der HU aber nicht wirklich geführt worden.

In der deutschen Öffentlichkeit entbrannte diese Debatte, nachdem 2020 in italienischen Kliniken keine ausreichenden intensivmedizinischen Ressourcen für Covid-19-Erkrankte vorhandenen waren. Sowohl Wolfram Grams als stellvertretender Vorsitzender der HU als auch Jörg Arnold als Strafrechtler gingen von folgender Fragestellung aus: Sollten die Auswahlkriterien utilitaristisch gestaltet werden, sodass möglichst viele Menschenleben gerettet werden könnten? Oder sollte von der Lebenswertindifferenz ausgegangen werden und eine Auswahl der zu Rettenden verboten sein? Ein solches Verbot würde die Lebensrettung dem Zufall oder dem Los überlassen. In dieser Frontstellung neigten beide einer Position der Lebenswertdifferenz zu, während sie mich auf der utilitaristischen Seite vermuteten, ohne dass dies klar ausgesprochen wurde und auch ohne, dass ich mich als Utilitaristin bekannte hätte. Die beteiligten Ärzte und Pfleger haben dankenswerter Weise offen über ihren tatsächlichen Umgang mit der Triage berichtet. Daraus war viel zu lernen.

Warum ist Triage ein bürger­recht­li­ches Thema?

Florian Grams geht in seinem Beitrag auf den militärmedizinischen Ursprung der Triage ein: Durch die Triage-Regeln sollten möglichst viele Verwundete für das Schlachtfeld gerettet werden. Die Methode des Triagierens verbreitete sich danach in alle Notsituationen hinein, bei denen es um die Rettung von Menschenleben geht. Alle Berufsgruppen, die zur Menschenrettung verpflichtet sind, lernen deshalb heute mit Situationen umzugehen, bei denen die Rettungsmittel nicht ausreichen und eine Reihenfolge der Rettung festgelegt werden muss. Bei der „Ex-Ante-Triage“ wird zwischen mehreren Rettungsbedürftigen ausgewählt um zu entscheiden, wer die nicht für alle verfügbaren Rettungsmittel erhält. Bei der „Ex-Post-Triage“ kann A nur dadurch gerettet werden, dass die bereits begonnene Rettung von B beendet wird, um das Rettungsmittel A zur Verfügung zu stellen.

Eine demokratisch verfasste Gesellschaft braucht für diese existentiellen Entscheidungen nicht nur medizinische Kriterien, sondern auch ethische und vor allem menschenrechtliche Gerechtigkeitsmaßstäbe. Woran sich Gerechtigkeit dabei konkret bemisst, ist umstritten; bürgerrechtlich geht es insbesondere um die Diskriminierungsfreiheit solcher Entscheidungen. Jede Regelung, die nicht nur das Verfahren der Zuteilungsentscheidung ordnet, sondern auch inhaltliche Vorgaben macht, muss daraufhin geprüft werden, ob sie verfassungsrechtlich in verbotener Weise privilegiert bzw. benachteiligt. Solche Situationen nicht zu regeln oder beschweigen verhindert dagegen, tatsächlich getroffene Triage-Entscheidungen transparent zu machen und Verantwortlichkeiten festzustellen; ebenso vereitelt das die justizielle Kontrolle und die demokratische Debatte.

Die Entschei­dung des BVerfG und das Triage Gesetz

In seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2021 (Az. 1 BvR 1541/20) verlangte das Bundesverfassungsgericht, dass der Gesetzgeber Auswahlkriterien festlegt, die den Grundrechten der behinderten Beschwerdeführer*innen genügen. Zum Zeitpunkt der Marburger Podiumsdiskussion lag ein Regierungsentwurf vor. Inzwischen hat der Gesetzgeber in § 5c Infektionsschutzgesetz (IfSG) erstmals gesetzliche Vorgaben für die Triage geregelt, die am 14. Dezember 2022 in Kraft traten. Bis dahin galten die Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften wie der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die als Triage-Kriterium u.a. die „Erfolgsaussicht der Behandlung“ vorsahen.

Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen das gesetzgeberische Unterlassen, Menschen mit Behinderungen im Falle notwendiger Triage-Entscheidungen vor Benachteiligungen zu schützen. Das verstoße gegen das verfassungsmäßige Diskriminierungsverbot aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG. Die DIVI-Kriterien sahen als Indikatoren für geringere Erfolgsaussichten einer Behandlung u.a. Komorbiditäten (zusätzliche Erkrankungen) und „Gebrechlichkeit“ vor. Das BVerfG entschied, dass der Gesetzgeber Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG verletzte, weil er nicht selbst geregelt hatte, dass bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Das Gericht hielt es nicht für ausgeschlossen, dass die Anwendung der DIVI-Richtlinien bei einer Behinderung, die mit Komorbiditäten oder mit schlechten Genesungsaussichten verbunden sein kann, zu einer Gefährdung des von Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG geschützten Rechts auf Leben führe. Der Gesetzgeber sollte die Triage so regeln, dass Benachteiligungen wegen einer Behinderung verhindert werden.

Der neue § 5c IfSG normiert dazu in Absatz 1 Satz 1 ein generelles Diskriminierungsverbot und definiert in Satz 2 das Vorliegen einer Triage-Situation. Insbesondere ist danach eine Benachteiligung wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung verboten. Eine Triage-Situation liegt nach dem Gesetz vor, wenn intensivmedizinische Behandlungskapazitäten nicht ausreichend vorhanden sind und eine anderweitige intensivmedizinische Behandlung, insbesondere eine Verlegung, nicht in Betracht kommt.xl

Absatz 2 regelt ein inhaltliches Zuteilungskriterium und schließt die Ex-Post-Triage aus. Bei der Zuteilung soll nicht die „Erfolgsaussicht der Behandlung“ entscheiden, sondern die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“. Komorbiditäten dürfen nur berücksichtigt werden, soweit sie die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern. Es verbietet die Berücksichtigung von Kriterien, die keine Auswirkung auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Dazu gehören insbesondere eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, der Grad der Gebrechlichkeit und die Lebensqualität. In den Absätzen 3 bis 7 wird das Verfahren beim Triagieren geregelt, vom Vier-Augen-Prinzip über Dokumentationspflichten bis hin zur Evaluation.

§ 5c IfSG lässt Wertungen und Abwägungen zu

Mit der neuen Triage-Regelung sind sowohl Utilitaristen als auch Verfechterinnen der Lebenswertindifferenz unzufrieden. Die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit zeichnet laut ersteren keine sinnvolle Abwägung vor, für letztere ist es nicht mit dem menschen- und verfassungsrechtlichen Grundsatz der Lebenswertindifferenz zu vereinbaren. Dass eine Zuteilungsentscheidung nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit getroffen wird, lasse nach wie vor zu, dass Komorbiditäten berücksichtigt und Behinderte sowie Alte diskriminiert werden.

Das wurde auch schon in unser Marburger Podiumsdiskussion deutlich, in der ich darauf hinwies, dass die Entscheidung des BVerfG weiterhin ein inhaltliches Kriterium der Auswahl zulässt und dies von den anderen als fortwährende Möglichkeit der Diskriminierung Behinderter angesehen wurde.

Allerdings wurden auch die Vorschläge eines Randomisierungsverfahrens, den der „Runde Tisch Triage“ ins Spiel gebracht hatte, oder einer Vergabe nach der Reihenfolge der Einlieferung in der Klinik – die einzigen dann noch verbleibenden Möglichkeiten, Diskriminierung auszuschließen – ziemlich einhellig von den Verfechtern der Lebenswertdifferenz abgelehnt. Den Vorschlägen wurde entgegengehalten, dass sie den Einfluss von Macht und Reichtum übersehen bzw. die Nutzung der Rettungsmittel dem Zufall überlassen. Wer wie schnell zur Aufnahme in die Intensivstation gelangt, entscheidet sich meistens nach sozialen Lagen, und jede Losentscheidung ist blind gegenüber der Wirklichkeit.

Zudem wurde in der Diskussion deutlich, dass sich das Problem mit der Zulässigkeit der Ex-Post-Triage zuspitzen würde. Im nun geltenden Gesetz ist sie ausgeschlossen. Aus utilitaristischer Sicht ist dieser Ausschluss nicht hinnehmbar: Er koste Leben, auch das Leben von Menschen mit Behinderung.

Die Bürger­rechts­be­we­gung muss tradierte Front­stel­lungen überwinden

Verfassungsrechtlich und bürgerrechtlich wird es darauf ankommen, die mit den Urteilen des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch entstandene Gleichsetzung des Rechtes auf Leben und des Rechts auf Schutz der Menschenwürde zu überwinden. Das Recht auf Leben in Artikel 2 Absatz 2 enthält einen Gesetzesvorbehalt, der Abwägungen zulässt, ohne zugleich die Menschenwürde zu verletzen. Solche Abwägungen durchgängig als verbotene Verletzungen der Menschenwürde zu klassifizieren, oder sie sogar in die Nähe der staatlichen Euthanasieverbrechen des NS-Staates zu rücken, arbeitet mit diffamierenden Unterstellungen und blockiert demokratische Diskussionen über eine Lösung des Konflikts. Bei der bürgerrechtlichen Verteidigung und Entwicklung der Menschenrechte gilt es, dies konsequent zu vermeiden. Für das Finden von anerkannten Kriterien zu Triage-Entscheidungen, die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und die Stärkung der Selbstbestimmung am Lebensende ist dies gleichermaßen wichtig. In der Marburger Diskussion schien das nur auf, die Debatte verharrte aber in der bisherigen Frontstellung.xli

Rosemarie Will

Anmerkungen:

iGrossmann, Florian; Bingisser, Roland: Triage. In: Eiff, Wilfried v.; Dodt, Christoph; Brachmann, Matthias u.a. (Hg.): Management der Notaufnahme – Patientenorientierung und optimale Ressourcennutzung als strategischer Erfolgsfaktor. Stuttgart 2016, S. 279.

iiVgl. Mannino, Adriano: Wen rette ich – und wenn ja, wie viele? Über Triage und Verteilungsgerechtigkeit. Stuttgart 2021, S. 11.

iiiVgl. Larrey, Jean Dominique: J. D. Larrey’s Medicinisch-chirurgische Denkwürdigkeiten aus seinen Feldzügen. 2: Enthaltend die Feldzüge von 1812 bis 1814. Leipzig 1819, S. 338.

ivMerkel, Reinhard; Augsberg, Steffen: Die Tragik der Triage – straf- und verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen. In: JuristenZeitung 14/2020, S. 704.

vVgl. Rößler, Hans Otto: Tödliche Ethik. In: Junge Welt vom 06.01.2021, S. 13.

viVgl. Schmidt, Volker H.: Veralltäglichung der Triage. In: Zeitschrift für Soziologie 6/1996, S. 426.

viiEbenda.

viiiVgl. Coordinating Group of the COVID-19 DRM (Hg.): Disability rights during the pandemic – A global report on findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor. o.O. 2020, S. 41.

ixVgl. Schmidt, Volker H.: Veralltäglichung der Triage. In: Zeitschrift für Soziologie 6/1996, S. 424.

xVgl. Baureithel, Ulrike: Triage: Leben oder sterben. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2020, S. 37.

xiVgl. Rößler, Hans Otto: Absichtlich unklar. In: Junge Welt v. 07.01.2021, S. 12.

xiiKant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart 2012, S. 65.

xiiiBundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes v. 10.10.2022, BT-Drs. 20/3877, S. 1.

xivS. dazu auch das Statement von Gisela Lind in dieser Diskussion.

xvCatalá López, F. and R. Tabarés Seisdedos, Healthcare Access and Quality Index based on mortality from causes amenable to personal health care in 195 countries and territories, 1990-2015: a novel analysis from the Global Burden of Disease Study 2015. Lancet, 2017, 2017.

xviMackenbach, J.P., et al., Trends in inequalities in mortality amenable to health care in 17 European countries. Health Affairs, 2017. 36(6): p. 1110-1118.

xviiStatistisches Bundesamt [23.01.2023], Behinderte Menschen; Available from: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html.

xviiiBuetow, S., Person-centred health care: balancing the welfare of clinicians and patients. 2016: Routledge.

xixJin, L., et al., Who gets the ventilator? Moral decision making regarding medical resource allocation in a pandemic. Journal of the Association for Consumer Research, 2021. 6(1): p. 159-167; Sprengholz, P., et al., A lay perspective on prioritization for intensive care in pandemic times: Vaccination status matters. Clinical Ethics, 2021: p. 14777509221094474; Fallucchi, F., M. Faravelli, and S. Quercia, Fair allocation of scarce medical resources in the time of COVID-19: what do people think? Journal of Medical Ethics, 2021. 47(1): p. 3-6; Dowling, A., H. Lane, and T. Haines, Community preferences for the allocation of scarce healthcare resources during the Covid-19 pandemic: a review of the literature. Public Health, 2022; Knotz, C.M., et al., Public attitudes toward pandemic triage: Evidence from conjoint survey experiments in Switzerland. Soc Sci Med, 2021. 285: p. 114238; Wilkinson, D., et al., Which factors should be included in triage? An online survey of the attitudes of the UK general public to pandemic triage dilemmas. BMJ open, 2020. 10(12): p. e045593; Gijsbers, M., et al., Public preferences in priority setting when admitting patients to the ICU during the COVID-19 crisis: a pilot study. The Patient-Patient-Centered Outcomes Research, 2021. 14(3): p. 331-338; Buckwalter, W. and A. Peterson, Public attitudes toward allocating scarce resources in the COVID-19 pandemic. PLoS One, 2020. 15(11): p. e0240651.

xxJansen, L., et al., Socioeconomic deprivation and cancer survival in Germany: an ecological analysis in 200 districts in Germany. International journal of cancer, 2014. 134(12): p. 2951-2960; Turner, A.J., et al., Socioeconomic inequality in access to timely and appropriate care in emergency departments. Journal of Health Economics, 2022. 85: p. 102668; Weissman, J.S., et al., Delayed access to health care: risk factors, reasons, and consequences. 1991, American College of Physicians.

xxiEine erweiterte Fassung dieses Beitrags ist erschienen als: Endstation „Triage“ bei Menschen mit Behinderungen? Zeitschrift für Disability Studies 1/2023, abrufbar unter https://zds-online.org/wp-content/uploads/2023/02/ZDS_2023_1_6_Arnold.pdf

xxiiiHörnle/Hoven/Huster/Weigend, Wer darf weiterleben? FAZ v. 28.7.2022, S. 6.

xxivS. dazu Arnold, „Triage“ und Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen, in: Hilgendorf/Hoven/Rostalski (Hrsg.), Triage in der (Strafrechts-)Wissenschaft, 2021, S. 33-76 (63).

xxvGutmann/Fateh-Moghadam, Geplante Regelung der Triage Grundrechtsschutz als Farce, ZRP 2022, S. 130-135 (131 f.).

xxviHörnle/Hoven/Huster/Weigend, Wer darf weiterleben? FAZ v. 28.7.2022, S. 6.

xxviiGutmann/Fateh-Moghadam, ZRP 2022, 130 (131 f.).

xxixNäher Arnold (Anm. 24), S. 54 ff.

xxxBegründung des Gesetzesentwurfs, S. 20.

xxxiArnold (Anm. 24), S. 60.

xxxviiDi Cesare, Souveränes Virus? Die Atemnot des Kapitalismus, 2020; vgl. auch Interview mit der französischen Philosophin Cynthia Fleury, Süddeutsche Zeitung v. 2.12.2021, S. 9.

xxxviiiDi Cesare, a.a.O. (Anm. 37), S. 93.

xxxixEbd.

xlZu den damit verbundenen Einschränkungen des Anwendungsbereichs des Gesetzes vgl. den Beitrag von Loewenbrück.

xliWeiterführende Literatur zu grundrechtlichen Aspekten: Gutmann/Fateh-Moghadam (Anm. 25); Jörg Arnold in Hilgendorf/Hoven/Rostalski (Anm. 24); Hörnle, T.; Huster, S.; Poscher, R. (Hrsg.) (2021), Triage in der Pandemie. Mohr Siebeck; Merkel, R., Die Triage-Entscheidung hilft Behinderten nicht, https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/reinhard-merkel-kritisiert-triage-entscheidung-unpraezise-kriterien-17728156.html (zuletzt aufgerufen: 6.10.2022).

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