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Rezensionen - Die Weltge­schichte beginnt, wenn alle Menschen an der Welt teilhaben können

Daniel Stosiek,

Die Aufhebung des Kapitals. Politische Ökonomie des Mensch-Natur-Zusammenhanges im Neo-Kolonialismus, LIT Verlag (Politikwissenschaft, Band 227), 1. Auflage 2022, 254 S., 24,90 €

Der Theologe Daniel Stosiek, der neben seiner Arbeit in der Entwicklungspolitik und der Menschenrechtsbegleitung indigener Völker in Südamerika vielfältig publiziert, legt ein Buch vor, das sich in der Tradition einer synthetischen Humanwissenschaft bewegt. Er setzt damit die wissenschaftliche Theorielinie fort, die von Wolfgang Jantzen in der Bremer Schule begründet wurde. Dazu verbindet Stosiek mit großem Erkenntnisgewinn für die Lesenden klassische marxistische Theorie mit der Philosophie Spinozas und den Denkmodellen des Zapatismus.

Stosiek entfernt sich von den weniger dialektischen Traditionen marxistischen Denkens, wenn er einen Naturbegriff entwickelt, der die Natur nicht mehr nur als ausbeutbaren Gegenstand betrachtet. Stattdessen hält er ein wissenschaftlich differenziert begründetes Plädoyer für eine politische Ökonomie eines Mensch-Natur-Zusammenhanges, der zu einem verantwortungsbewussten Dialog des Menschen mit der ihn umgebenden Natur führt. Stosiek geht von der Aufhebung der Vergegenständlichung der Natur aus. Damit revolutioniert er den Begriff von der Zellenform der Gesellschaft und begründet dies auch mit den Theoriemodellen von Selbstorganisationsprozessen. Er schafft somit eine Öffnung für eine neue politische Ökonomie. Menschen als Subjekte ihres Handelns werden in ihrem Dialog mit der Natur betrachtet, die zugleich selbst als Subjekt wahrgenommen werden muss. Daraus folgt eine Praxis, in der es notwendig wird, koloniale Verhältnisse zu überwinden und auf allen Ebenen menschlichen Lebens zu dialogischen Beziehungen der Menschen zueinander und der Menschen zur Natur zu gelangen. Dies beinhaltet zugleich die bedingungslose Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen Leben.

Um diesen Weg zu beschreiten, leistet der Autor eine Fleißarbeit. Er leitet seine Arbeit mit nichts Geringerem als dem Anspruch ein, mittels seines Arbeits- und Naturbegriffes ein neues Kapital, ja eine weitere Dimension zur Marxschen Theorie hinzuzufügen.

Das Buch gliedert er in zwei Teile. Der erste Teil bildet einen historischen Zugang zum Thema verbunden mit dem Anspruch, auch einen evolutionären und damit entwicklungslogischen Zugang herzustellen. Im zweiten Teil des Buches erfolgt ein systematischer Zugang, der die zuvor entwickelte historische Perspektive voraussetzt. Umfangreich befasst er sich darin mit dem Kolonialismus und dem Neokolonialismus, wie auch den mit ihnen verbundenen Ausbeutungsstrukturen besonders der Natur.

In seinem historisch-evolutionären Zugang beschreibt Stosiek die Verwobenheit von Historie, Selbstorganisation der Materie und den Menschen. Er betrachtet die Beziehung zwischen jedem einzelnen Organismus und der Umwelt als die kausale Kraft für das Leben. Die Komplexität der Materie, die Tätigkeit und Operationalität liegen nicht im System allein, sondern in dem Verhältnis zwischen System und Umwelt. Dieser Kontext wird naturwissenschaftlich sowie mittels philosophischer Kategorien nachgewiesen.

Umfangreich setzt sich der Autor mit der Arbeit des Menschen auseinander, die er in ihrer ursprünglichen Form als übergreifende Reproduktion des Lebens beschreibt, als ein Prinzip, in dem jeder Mensch nach seinen Fähigkeiten handelt und entsprechend seinen Bedürfnissen empfängt. Im Weiteren erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Vergegenständlichung durch menschliche Arbeit und den weiteren Entwicklungsprozessen der Arbeit bis zur heute bekannten Form. In einem Abschnitt des Buches beschreibt er die Geschenkkulturen indigener Völker und die damit verbundene Form der Arbeit, in der durch spezifische soziale Beziehungen eine notwendig dies widerspiegelnde Form des Verantwortungsbewusstseins gegenüber der Natur bestand. Dem schließt sich logisch die Darstellung kommerzieller versus subjektorientierte Ökonomien an. Mit vielfältigen Beispielen wird belegt, wie beim Übergang zur kommerziellen Münzwirtschaft die Währung nicht mehr menschliche Beziehungen, sondern den Kauf von Dingen regelte. Personale Beziehungen privilegierter Menschen werden sichtbar, aber die Beziehungen zu den Subjekten der Arbeit werden unsichtbar. Es sei die Geldwirtschaft gewesen, die den Anschein der Gleichheit unter den Menschen schuf, jedoch nur den Anschein. Die Subsumtion der Arbeit unter das Kapital wurde damit komplett unsichtbar. Sichtbar blieben das Kapital und die Arbeitskraft, nicht aber das damit in Verbindung stehende Subjekt. So werde auch der Wert der Arbeit nicht im Lebenszusammenhang der Menschen, die Menschen nicht in ihrer Subjekthaftigkeit gesehen. Auch sie werden zu Dingen. Die diesem Prozess innewohnende Unmenschlichkeit waltet wie eine unsichtbare Hand, wie Tentakel, die durch den Menschen hindurchgehen, Bestandteil seiner selbst werden. (S. 69) Zum Problem gerate, dass die Subjekte der produzierenden Arbeit, die Natur und die Menschen, unsichtbar werden. Die hergestellten Produkte, die dem Konsum in sozialer Beziehung dienen, werden nicht mehr als solche wahrgenommen. Dezidiert beschreibt Stosiek die mit diesem Prozess einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen im Verlauf der historischen Entwicklungen mit je konkreten Bezügen zur aktuellen Situation. Dies führt Stosiek logisch-historisch zu der Frage, wo genau die als Herrschaft realisierte Macht liegt. Diese Frage beantwortet er ebenso präzise mit den Verpflichtungen und dem interdependenten Wirken von Staat und Finanzen, allerdings ohne jemals auf einen der in diesem Zusammenhang üblichen Allgemeinplätze auszuweichen.

Im zweiten Teil des Werkes, dem systematischen Zugang, wendet sich Stosiek mit Spinoza dem Mensch-Naturzusammenhang zu. Das geschieht unter Einbeziehung umfangreicher Literatur kenntnisreich und kreativ. Er gelangt zu dem fatalen, aber zu bejahendem Schluss, dass der Mensch im Zuge der kapitalistischen Produktion die Reproduktion schon seines eigenen Daseins den Dingen unterordnet. Wenn dies geschieht, dann schwindet die unendliche Dimension des Sozialen aus den verschiedenen Bereichen der „Semiosphären und der Agapesphären“. (S. 131)

Schlüssig erscheint an dieser Stelle die Hinwendung zum Begriff der Arbeit. Dabei wird in einem ersten Schritt die Arbeit der Natur und die Arbeit des Menschen in einen Kontext gestellt. In der Tat arbeitet Stosiek die Arbeit der Natur heraus und erweitert damit den Begriff der Arbeit um ein Vielfaches. Gleichzeitig ermöglicht dieses Vorgehen das Entwickeln eines auf der Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur basierenden Begriffes von Arbeit. In dem Abschnitt über die gegenständliche und die dialogische Tätigkeit wird sodann auch die Natur als Subjekt berücksichtigt. Wenn der Autor zu dem Ergebnis gelangt, der Kern der Aufhebung des Kapitals sei die Aufhebung der Vergegenständlichung der Natur, ihre bloße Instrumentalisierung, dann arbeitet er hier einen der zentralen Aspekte seines Buches heraus.

Mittels der Forschungen zu Selbstorganisationsprozessen wird deutlich, in welchem Umfang das soziale Band zwischen den Menschen gestört ist, wenn Prozesse der Instrumentalisierungen in der Produktion und in der Reproduktion stattfinden, wie sehr sich diese dann auch in der psychischen Struktur von Menschen abbilden und ihre natürliche Mitwelt vergiften.

Breiten Raum nimmt sich der Autor für die Definition der Begriffe Wert und Gebrauchswert. Er belegt in diesem Zusammenhang die Verkehrung des Wertes in der kapitalistischen Ökonomie und beschreibt die Entstehung von Fetischen. In der Summe würden die sinnhaften Beziehungen der Menschen untereinander auf das Gegenständliche reduziert. Sinnentleerte und entfremdete Beziehungen der Menschen zueinander seien das Ergebnis. An ihre Stelle tritt der Fetisch. Das übergreifende Allgemeine existiere dann in der Welt der Dinge, der Waren!

Sodann erläutert Stosiek den Charakter des Geldes und definiert Geld als „soziale Währung“, die im Ergebnis die Verfügung über die Ware Arbeitskraft im Mensch-Natur-Zusammenhang wird. Das führt logisch zum Begriff des Kapitals und dem das Kapital generierenden Mehrwerts. Auf diese Weise gelangt der Autor organisch zur Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, wozu neben der Arbeit weißer Männer und Frauen im globalen Norden seit der Kolonialzeit die Arbeit der Sklaven, der Dienerinnen und Diener in den Kolonien käme, die heute die unterbezahlten Armeen der Armen im globalen Süden seien.

Im Abschnitt über die Subsumtion des Konsums und der Kultur wird beschrieben, wie und in welchem Umfang Bewusstsein manipuliert und Bedürfnisse einseitig auf Dinge geweckt werden. Die Warenwelt wird zum Fetisch. Beim Anpreisen von Waren geschehe das Gleiche wie bei religiösen Versprechungen: „Wert und Sinn auf eine Welt unbewegter Dinge zu projizieren“. (S. 189)

Die abschließende Befassung mit der Kolonialität der Macht, der Erläuterung dessen, was Macht und Kolonialität bedeutet und was das mit den Menschen macht, die logische Folge der Erörterung der Macht in Institutionen und in staatlichen Einrichtungen rundet die Arbeit trefflich ab. Logisch ist ebenso der kleine Exkurs mittels dessen die Kolonialität der Macht, die Verdinglichung der Arbeit und der Natur im Staatssozialismus erläutert wird. Daniel Stosiek schaut auf eine Biografie in der DDR zurück und wendet den Gedanken, dass die Verdinglichung der Natur, der Umgang mit Arbeit und der Fetischisierung der Waren hier ähnlichen Bedingungen unterworfen war. Staaten und die mit ihnen zusammenhängenden Institutionen blieben notwendig immer Zahnräder im Getriebe der Kolonialität der Macht.

Daniel Stosic legt ein wichtiges Buch vor. Seine Auseinandersetzung mit dem Naturbegriff ist viel mehr als dieses. Sein Buch ist ein feuriges Plädoyer für eine andere Welt: Stosiek plädiert für den Dialog, für einen Umgang mit der Natur, der von Verantwortungsbewusstsein ihr gegenüber geprägt ist, der geprägt ist von Verantwortung gegenüber dem Nächsten, gegenüber der Zukunft, gegenüber dem globalen Süden. Dabei geht Stosiek weit über eine Verantwortungsethik hinaus, wie sie zum Beispiel von Hans Jonas geprägt wurde. Stosiek unterlegt seine philosophisch begründeten ethischen Positionen mit umfangreichen Kenntnissen aus der Naturwissenschaft, indem er die Autopoiesis differenziert darlegt und mittels der Forschungen zu Selbstorganisationsprozessen belegt. Hier kommen ihm die Arbeiten der sowjetischen Psychologie – insbesondere durch Leontjew – gelegen. Seine Fähigkeit, nach dem offensichtlichen Studium der Werke Wolfgang Janßens auch die Philosophie Spinozas diesem Kontext zuzuordnen führt philosophisch zu einem durchaus groß zu nennenden Wurf. Zudem gelingt es Daniel Stosiek tatsächlich, dem Marxschen Theoriegebäude eine Facette hinzuzufügen.

Die vorliegende Arbeit ist sicher kein leicht zu konsumierender Stoff, seine Lektüre besitzt jedoch einen erheblichen Erkenntniswert.

Wolfram Grams

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