Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 243: Kritische Kriminalpolitik

Kirchliches Arbeits­recht – Arbeit­neh­mende minderen Rechts

Das kirchliche Sonderarbeitsrecht gilt sowohl im Individual- als auch Kollektivarbeitsrecht und verbietet beispielsweise die Bildung von Gewerkschaften oder für die Kirche problematische Handlungen oder vermeintlich falsche Konfessionen in bestimmten Bereichen. Till Müller-Heidelberg fragt sich daher, ob Menschen, die bei Kirchen und kirchlichen Trägern angestellt sind, Arbeitnehmende minderen Rechts sind und kritisiert die Sonderregelungen der Kirchen im Arbeitsrecht, die einen diskriminierenden Charakter haben. Ihm zufolge gibt es keine ausreichende Rechtsgrundlage für die Diskriminierung von Bewerber*innen oder Arbeitnehmer*innen durch die Kirchen in Deutschland. Dazu rekonstruiert er die Rechtsprechung der vergangenen Jahre zum Kirchlichen Arbeitsrecht und ordnet dies verfassungspolitisch ein.

 

Arbeitsrecht ist im Kern immer Arbeitnehmerschutzrecht, denn im Verhältnis von Arbeitnehmenden und Arbeitgeber ist der*die Arbeitnehmer*in im Grundsatz immer die schwächere Partei, so dass das staatliche Arbeitsrecht Regeln setzt, die die Arbeitgebermacht eingrenzen. Dabei gibt es einen Bereich in Deutschland, wo das allgemeine Arbeitsrecht nicht uneingeschränkt gilt. Im Bereich der Kirchen haben wir es mit einem kirchlichen Sonderarbeitsrecht zu tun. Dies gilt sowohl im Individualarbeitsrecht wie im Kollektivarbeitsrecht. Zum Individualarbeitsrecht gehören die Regelungen im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmenden, wie die Einstellung, die Kündigung, die Vergütung, der Urlaub. Im Kollektivarbeitsrecht regeln Arbeitnehmerorganisationen für alle Arbeitnehmenden eines Betriebs oder einer Branche allgemein verbindlich Rechtsverhältnisse, das sind die Gewerkschaften zusammen mit Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden im Bereich der Tarifverträge und damit auch des Streikrechts, im Betriebs- und Unternehmensbereich die Betriebsräte und die Mitbestimmung im Unternehmen.

Dabei handelt es sich beim kirchlichen Sonderarbeitsrecht keineswegs etwa nur um eine Nische, weil die Haushaltshilfen von Pfarrer*innen, Putzkräfte in Gemeindehäusern oder Sekretär*innen in Pfarrgemeindeverwaltungen betroffen wären. Denn das kirchliche Sonderarbeitsrecht beansprucht Geltung auch im Bereich aller kirchlichen Unternehmen und Betriebe, insbesondere in den umfangreichen Tätigkeitsfeldern der katholischen Caritas oder der protestantischen Diakonie. Hierzu gehören die zahllosen Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Soziale Dienste, kirchliche Schulen und Kindertagesstätten (etwa 50 Prozent), Jugendhilfeeinrichtungen usw. Das kirchliche Sonderarbeitsrecht betrifft somit circa 1,8 Millionen Arbeitnehmende, davon etwa 400.000 im Bereich der sogenannten verfassten Kirche, also der eigentlichen kirchlichen Organisation und Verwaltung, und etwa 1,4 Millionen in den kulturellen und sozialen Bereichen. Damit sind die Kirchen nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland, noch vor der Autoindustrie. Was hier gilt oder geschieht, ist also nicht eine vernachlässigbare Größe. Dies umso mehr, als man nicht sagen kann, die dort tätigen Arbeitnehmenden hätten sich ja selbst entschieden, im Bereich der weit gefassten Kirche tätig zu werden und hätten mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrages sich freiwillig dem kirchlichen Sonderarbeitsrecht unterworfen. Das ist nicht der Fall. Denn in vielen Bereichen hat die Kirche als Arbeitgeber faktisch ein Monopol, Ärzt*innen und Pfleger*innen etwa oder auch Erzieher*innen haben häufig nicht die freie Wahl zwischen einem staatlichen oder kirchlichen Krankenhausträger, KiTa oder Altenheim, denn in manchen Bereichen Deutschlands gibt es oft genug nur einen kirchlichen Träger dieser sozialen Einrichtungen.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass all diese vielfältigen Organisationen keineswegs etwa von der Kirche finanziert werden, wie oft vermutet wird. Kirchensteuergelder fließen in all diese Institutionen nur entweder gering oder gar nicht. Kindertagesstätten etwa werden finanziert zu fünf bis zehn Prozent aus Kirchensteuergeldern, im Übrigen durch das Land und die Kommunen und gegebenenfalls Elternbeiträge, Krankenhäuser werden ausschließlich durch den Staat und die Sozialversicherung finanziert.

Rechtliche Grundlagen

Es gibt keinen Gesetzestext, der etwa vorschriebe, dass im kirchlichen Bereich ein anderes Arbeitsrecht gelte. Vielmehr hat sich nach 1949 das kirchliche Sonderarbeitsrecht entwickelt aus einer Bestimmung des Grundgesetzes, die einige Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 für weiterhin gültig erklärt. In Art. 140 des Grundgesetzes heißt es, dass die Art. 136ff. der Weimarer Reichsverfassung (WRV) Bestandteil des Grundgesetzes sind, und Art. 136 der WRV lautet: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt“. Und Art. 137 bestimmt in Abs. 1: „Es besteht keine Staatskirche:“ Dies ist durchaus von Bedeutung und nicht selbstverständlich, denn etwa in England oder in den skandinavischen Staaten besteht sehr wohl auch im 21. Jahrhundert noch eine Staatskirche, der englische Monarch ist gleichzeitig Oberhaupt der Anglikanischen Kirche. Aus dem Satz, dass in Deutschland keine Staatskirche besteht, sowie aus einer Mehrzahl von Bestimmungen im Grundgesetz, leitet das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ab, dass der deutsche Staat religionsneutral zu sein hat, also beispielsweise in Gerichten und staatlichen Schulen keine Kreuze zu hängen haben (was aber dennoch großenteils der Fall ist).

Für das Arbeitsrecht von Bedeutung ist aber sodann der dritte Absatz des Art. 137 WRV, wo es heißt: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Hieraus haben Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, im Laufe der Jahre ein angebliches Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Arbeitsleben abgeleitet. Sie selbst könnten bestimmen, wen sie einstellen und welche Kündigungsgründe sie für maßgeblich halten. Dies ist keineswegs so selbstverständlich, wie es manchem auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn schon Art. 3 Abs 3 GG zufolge darf niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“, und § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zufolge, welches auf dem Europarecht beruht, sind ebenfalls „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ im Arbeitsrecht verboten, was die Kirchen jedoch nicht daran hindert, als Einstellungsvoraussetzung die Kirchenmitgliedschaft zu fordern und bei Kirchenaustritt das Arbeitsverhältnis zu kündigen und ebenso bei einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft (dazu, dass dies in neuester Zeit eingeschränkt wird, komme ich später noch). All dies beruht darauf, dass Mitarbeiter*innen im kirchlichen Bereich bei Unterzeichnung des Arbeitsvertrages die Grundordnungen beziehungsweise Arbeitsvertragsrichtlinien der Katholischen oder Evangelischen Kirche anerkennen, in denen die Kirchen niedergelegt haben, welche Loyalitätspflichten in Anerkennung ihres eigenen Ethos sie von ihren Angestellten erwarten. Seit einer grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1985 (04.06.1985 – Az. 2 BVR 1703/83) bestimmen die Kirchen zudem selbst und für die staatlichen Gerichte verbindlich, was Inhalt ihres Ethos ist und woran sich ihre Arbeitnehmende zu halten haben. Ich komme weiter unten noch dazu, wie sich dies im Einzelnen auswirkt.

Dasselbe gilt im kollektiven Arbeitsrecht. Das Betriebsverfassungsrecht findet ausdrücklich nach seinem § 118 Abs. 2 „keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen“ (dasselbe gilt im Personalvertretungsrecht, § 112 BpersVG), und sowohl die Katholische Kirche wie auch die Evangelische Kirche (mit der Ausnahme der Nordelbischen Evangelischen Kirche) weigern sich, Tarifverhandlungen zu führen und schließen das Streikrecht der Gewerkschaften aus.

Bei dieser Entwicklung des kirchlichen Sonderarbeitsrechts, fußend auf Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV, ist der Verfassungstext schnell vergessen worden. Heißt es doch in Art. 140 GG, dass die Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung Bestandteil des Grundgesetzes sind und somit weiter gelten. In der Weimarer Reichsverfassung galt aber selbstverständlich das Betriebsrätegesetz, Vorgänger unseres heutigen Betriebsverfassungsgesetzes, auch im kirchlichen Bereich. Ebenso selbstverständlich war auch im kirchlichen Bereich das Streikrecht der Gewerkschaften anerkannt. Genauso gab es im Individualarbeitsrecht keine Besonderheiten im kirchlichen Bereich. Diese werden heute auf das angebliche Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aus Art. 137 Abs. 3 WRV gestützt, dort jedoch findet sich nichts über ein Selbstbestimmungsrecht. Dort heißt es lediglich, dass die Kirchen ihre Angelegenheiten selbständig verwalten, und dies „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Das Grundgesetz mit seinem Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 und seinen weiteren Grundrechtsverbürgungen ist doch zweifellos ein allgemein geltendes Gesetz und ebenso das Kündigungsschutzgesetz, das Tarifvertragsgesetz sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Nur im Rahmen dieser allgemein geltenden Gesetze können die Kirchen nach Art. 137 Abs. 3 WRV ihre Angelegenheiten selbst verwalten. Von einer Selbstbestimmung der Kirchen, wen sie einstellen oder kündigen oder ob sie das aus Art. 9 GG folgende Streikrecht der Gewerkschaften akzeptieren, ist im Verfassungstext nicht die Rede.

Nichtsdestoweniger haben Rechtsprechung und herrschende Lehre hiervon abweichend das kirchliche Sonderarbeitsrecht im Laufe der Jahre geschaffen. Hier zeigt sich, welche Gestaltungsmacht die Sprache hat, wie mit Begriffen Politik, in unserem Falle Rechtspolitik betrieben wird, wie man mit der Erfindung des angeblichen Selbstbestimmungsrechts der Kirchen einen ganzen eigenständigen Rechtsbereich geschaffen hat.

Beispielfälle

Bei Abschluss des Arbeitsvertrages unterschreiben die Arbeitnehmenden, dass sie die kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien, die Grundordnung und das Selbstverständnis der Kirche anerkennen und sich verpflichten, diese Grundregeln einzuhalten und für sie einzutreten, auch in ihrem Privatleben.

Wieso darf nach Art. 3 Abs. 3 GG niemand wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt und bevorzugt werden und ebenso dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zufolge – bei einem Kirchenaustritt jedoch halten die Gerichte die Kündigung des Arbeitsvertrages für berechtigt. Die Kündigung eines Sozialarbeiters, der wegen der Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche aus dieser austrat, wurde vom BAG im Jahre 2013 bestätigt (BAG vom 25.04.2013, Az. 2 AZR 579/12) und dies, obwohl doch die Religionsfreiheit in Art. 4 GG „das Recht umfasst, an eine Heilslehre zu glauben oder auch nicht. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist nicht weniger geschützt als das Fernbleiben, der Kircheneintritt nicht weniger als der Kirchenaustritt“, so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling (2007: 82ff.). Staatliche Gerichte haben es geschafft, diese Grundgesetzwidrigkeit noch zu toppen: Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz entschied im Jahr 2006, dass das Arbeitsamt zu Recht einem Arbeitnehmer, der wegen Kirchenaustritt von seinem Arbeitgeber gekündigt worden war, eine Sperrzeit von drei Monaten auferlegte, wo er kein Arbeitslosengeld erhielt, denn er sei ja selber schuld an seiner Arbeitslosigkeit; er hätte wissen müssen, dass bei einem Kirchenaustritt sein kirchlicher Arbeitgeber ihn kündigen würde!

Art. 2 GG sichert das Recht eines jeden auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und nach §§ 1, 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sind Benachteiligungen unter anderem wegen der sexuellen Identität im Arbeitsrecht unzulässig, Bestimmungen, die dagegen verstoßen, sind nach § 7 unwirksam. Nichtsdestoweniger soll eine Verpartnerung im kirchlichen Sonderarbeitsrecht unzulässig sein. Es wurde einer lesbischen Mutter 2012 von einer katholischen Kita gekündigt, und dies sogar noch in der Elternzeit, wo eine Kündigung gesetzlich ausgeschlossen ist (vgl. Matthäus-Maier 2019: 313/317).

Nach Art. 6 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Eine Krankenpflegerin, die nach einer langjährigen Beziehung mit einem früheren Priester, aus der mehrere Kinder hervorgegangen waren, diese nun durch staatliche Eheschließung „legalisierte“, wurde mit dem Segen der staatlichen Gerichte dennoch gekündigt (BAG vom 08.09.2011, Az. 2 AZR 543/10). Ebenso war zumindest bis vor kurzem im Bereich der Katholischen Kirche die Eheschließung bei geschiedenen Personen ein Kündigungsgrund, weil nach der katholischen Lehre eine Ehe unauflöslich ist, nicht geschieden werden kann, bei Wiederverheiratung einer geschiedenen Person diese also in Bigamie lebt. So zuletzt noch im Jahre 2009 die Kündigung des Chefarztes an einem katholischen Krankenhaus in Düsseldorf, bestätigt vom Bundesverfassungsgericht mit Entscheidung vom 22. Oktober 2014 (Az. 2 BVR 661/12). Allerdings führte unter anderem dieser Fall zur teilweisen Zertrümmerung des kirchlichen Sonderarbeitsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, worauf ich später noch zurückkommen werde (vgl. auch Fey et al. 2021).

Die freie Meinungsäußerung ist in Art. 5 GG geschützt. Wer jedoch als Ärzt*in in einem katholischen Krankenhaus sich für den gesetzlich vorgesehenen Schwangerschaftsabbruch ausspricht, muss mit Kündigung rechnen.

Noch im Jahr 2013 weigerten sich Ärztinnen an zwei katholischen Krankenhäusern in Köln, eine vergewaltigte Frau gynäkologisch zu untersuchen, weil damit ein Beratungsgespräch über eine mögliche Schwangerschaft und deren Abbruch sowie das Verschreiben der Pille Danach verbunden gewesen wäre. Ärzt*innen, die sich dieser Regelung widersetzten, müssten mit einer fristlosen Kündigung rechnen (Matthäus-Maier 2019: 313/316).

Das kirchliche Sonder­a­r­beits­recht bröckelt

Im 21. Jahrhundert beginnt langsam eine Rückbesinnung darauf, dass die Verfassung und insbesondere die Grundrechte auch für die Kirchen gelten, unbeschadet eines angeblichen Selbstbestimmungsrechts. Dies beginnt mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. August 2002 (Az. 2 BVR 453/01) außerhalb des Arbeitsrechts, und zwar im Steuerrecht. Bereits 1977 hatten sich fünf Evangelisch-Lutherische Kirchen zur Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (NEK) zusammengeschlossen, die das Gebiet von Hamburg und Schleswig-Holstein abdeckt. Und da in Hamburg vorher ein Kirchensteuersatz von acht Prozent galt, in Schleswig-Holstein von neun Prozent, sah das Kirchensteuergesetz der NEK weiterhin unterschiedliche Kirchensteuersätze vor. Ein Kirchenmitglied aus Schleswig-Holstein sah nicht ein, dass es mehr Kirchensteuer zahlen sollte als seine Brüder und Schwestern in Hamburg und klagte, verlor vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht und gewann vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht. Dagegen zog die NEK vor das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung, dass sie nach Art. 137 WRV das Recht habe, ihre Angelegenheit selbst zu regeln, und folglich nicht an den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG gebunden sei. Das Durchschnittseinkommen der Kirchenmitglieder in Hamburg sei höher als in Schleswig-Holstein und deshalb dort ein niedrigerer Kirchensteuersatz zur Finanzierung der kirchlichen Aufgaben ausreichend. Diese Argumentation geriet nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „in Konflikt mit Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz, der im Steuerrecht eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen gebietet“, und es somit nicht erlaubt, weniger verdienende Mitbürger*innen mit einer höheren Steuerbelastung zu bestrafen. Obwohl doch die Besteuerung ihrer Mitglieder sicherlich eine eigene Verwaltungsangelegenheit der Kirche ist, half dies der NEK nichts. Wenn sie öffentlich-rechtliche Körperschaft sein wolle, gelten für sie eben auch die Grundrechte.

Im individuellen Arbeitsrecht kam, während die deutschen Gerichte – einschließlich des Bundesverfassungsgerichts – noch fest am Selbstbestimmungsrecht der Kirchen festhielten, der erste Stoß von der europäischen Ebene: Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR), der über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates wacht, erklärte im Gegensatz zu den vorangehenden deutschen Gerichten die Kündigung eines kirchlichen Organisten und Chorleiters wegen Ehebruchs für unzulässig (EGMR 23.09.2010, Az. 1620/03).

Die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit wagte den ersten Vorstoß im kollektiven Arbeitsrecht: Vor den Landesarbeitsgerichten Hamm (13.01.2011, Az. 8 Sa 788/10) und Hamburg (23.03.2011, Az. 2 Sa 83/10) wollte die Evangelische Kirche den Gewerkschaften (verdi und Marburger Bund) verbieten, mit Streiks tarifvertragliche Regelungen zu erzwingen. Ein Streik im kirchlichen Dienst verstoße gegen kirchliche Grundsätze: Die „christliche Dienstgemeinschaft“ würde durch einen Arbeitskampf gesprengt. Anders als bei „normalen“ Arbeitgebern, bei denen das Arbeitsverhältnis durch den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital geprägt sei, handele es sich bei der Arbeit in kirchlichen Institutionen wie Krankenhäusern, Kindergärten, Altenheimen usw. um „Arbeit im Weinberg des Herrn“. Ein Arbeitskampf verhindere den christlichen „Dienst am Nächsten“ und verstoße daher gegen das Recht der Kirchen, nach Art. 137 Abs. 3 WRV ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln. Insoweit werde die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch den Arbeitskampf beinhaltet, durch das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen beschränkt – das war die herrschende Lehre in der Juristerei, von der in diesen Fällen von den beiden LAG und BAG abgewichen wurde.

Die Klage der Evangelischen Kirche blieb vor beiden Landesarbeitsgerichten erfolglos. Das LAG Hamm fand in seiner Entscheidung einen Mittelweg zwischen den Interessen der Kirche und der Gewerkschaft und beschränkte das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen wegen ihrer religiösen Begründung auf Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, erklärte aber in der Verwaltung, der Küche, der Reinigung, der Abrechnung mit Kassen usw. einen Streik für zulässig. Das LAG Hamburg ging konsequent weiter. Das Recht der Religionsgesellschaften, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, gelte nach Art. 137 Abs. 3 WRV nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Das Koalitionsrecht nach Art. 9 Abs. 3 GG, welches das Arbeitskampfrecht umfasst, ist ein solches allgemeines Gesetz und gilt folglich auch im kirchlichen Bereich. Beide Verfahren wurden zum Bundesarbeitsgericht fortgeführt, mit demselben Ergebnis, allerdings einer anderen Begründung, die die Grundsatzfrage eines Streiks im kirchlichen Bereich weiterhin ungeklärt lässt. Die stringente logische Begründung des LAG Hamburg, die sich auf den klaren Wortlaut unserer Verfassung beruft, dass auch für die Kirchen die allgemeinen Gesetze gelten und folglich selbstverständlich auch das Streikrecht nach Art. 9 Abs. 3 GG, wurde nicht übernommen. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts muss eine Abwägung vorgenommen werden zwischen dem Selbstverständnis der Kirchen, dass ein Streik in ihrem Bereich ausgeschlossen ist, und dem Streikrecht der Gewerkschaften, welches ebenso in Art. 9 Abs. 3 GG verankert ist wie das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen in Artikel 137 WRV. Deshalb könne die Kirche sich auf den Ausschluss des Streikrechts nur dann berufen, wenn sie den Gewerkschaften in der kirchlichen Arbeitsrechtssetzung und bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen ein Mitwirkungsrecht einräume, die Gewerkschaften also in den paritätisch besetzten arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen eigene Sitze erhalten (der Umfang blieb in der Entscheidung des BAG offen).

Der große Durchbruch erfolgte sodann im Jahre 2018 durch zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs der europäischen Gemeinschaften in den berühmten Fällen Egenberger und Chefarzt. „Ein deutscher Sonderweg endet vor dem EuGH“ schrieb der Arbeitsrechtsprofessor Abbo Junker (2018: 1850), der „EuGH sorgt für Zeitenwende im kirchlichen Arbeitsrecht“ habe ich einen Beitrag betitelt (Müller-Heidelberg 2019: 333ff.).

Das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung hatte eine befristete Referentenstelle ausgeschrieben für die Erstellung eines Parallelberichts zum internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung von rassistischer Diskriminierung. Die Mitgliedschaft in einer Evangelischen Kirche wurde der Stellenausschreibung zufolge vorausgesetzt. Frau Egenberger, die keiner Konfession angehörte, bewarb sich erfolglos auf die ausgeschriebene Stelle und verlangte, als sie nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde, nach § 15 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz eine Entschädigung wegen verbotener Diskriminierung aus religiösen Gründen. Der kirchliche Arbeitgeber berief sich auf § 9 des AGG, wonach eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung zulässig ist, „wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung ihres Selbstverständnisses“ eine solche berufliche Anforderung stellt. Da das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auf einer Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Gemeinschaften beruht, legte das Bundesarbeitsgericht diesen Fall dem EuGH vor. Dasselbe tat es in dem von mir früher schon angesprochenen Chefarztfall, dessen Kündigung wegen Neuverheiratung das Bundesverfassungsgericht für rechtmäßig erklärt und den Fall an das BAG zurückverwiesen hatte. Der EuGH, der in diesen Fällen eine europarechtlich verbotene Diskriminierung aus Gründen der Religion sah, erkannte die Brisanz des Falles, weil damit die bisher geltende herrschende Lehre und Rechtsprechung in Deutschland einschließlich des Bundesverfassungsgerichts umgestürzt werden würde, und entschied daher (vorsichtshalber) mit der Großen Kammer mit allen 15 Richtern des EuGH, was normalerweise bei Vorlagefragen nicht der Fall ist. Er kam zu dem Ergebnis, dass eine unterschiedliche Behandlung aus religiösen Gründen nur dann zulässig ist, „wenn die Religion oder Weltanschauung nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt“ und zwar dies aus objektiver Sicht. Es wies ausdrücklich die bisher in der deutschen Rechtsprechung vorherrschende Auffassung zurück, dass es auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft ankomme, wie dies auch in § 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz niedergelegt ist. Es kommt nicht auf die Sicht der Kirchen an, sondern die staatlichen Gerichte haben zu überprüfen, ob objektiv für die ins Auge gefasste Stelle oder Tätigkeit diese Bindung an religiöse Überzeugungen erforderlich ist, andernfalls läge ein Verstoß auch gegen Art. 47 der Grundrechtecharta vor, wonach jede Person das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat, was nicht der Fall ist, wenn das Gericht an das Selbstverständnis der religiösen Gemeinschaft gebunden ist und nicht selbständig entscheiden kann. Im Übrigen ist dies eine Regelung, wie sie auch in Art. 19 Abs. 4 GG vorhanden ist, ohne dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum kirchlichen Arbeitsrecht dies berücksichtigt hätte (Vgl. auch Fey et al. 2021).

Hatte das Bundesverfassungsgericht noch in seiner Grundsatzentscheidung von 1985 (04.06.1985, Az. 2 BVR 1703/83) betont, dass „die Arbeitsgerichte die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher Loyalitätspflichten zugrunde zu legen haben […] es bleibe grundsätzlich den verfassten Kirchen überlassen, verbindlich zu bestimmen, was die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der die Mitarbeiter beschäftigt sind, erfordert, welches die zu beachtenden Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre sind und welche Loyalitätsverstöße aus kirchenspezifischen Gründen als schwerwiegend anzusehen sind“ (amtlicher Leitsatz Ziffer 3 und Randziffer 21 des Urteils), so kommt nunmehr der EuGH zu der gegenteiligen Aussage:

„Zwar müssen die Mitgliedstaaten und ihre Behörden, insbesondere ihre Gerichte […] davon Abstand nehmen, die Legitimität des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation als solche zu beurteilen; gleichwohl haben sie darüber zu wachen, dass das Recht der Arbeitnehmer, u. a. wegen der Religion oder der Weltanschauung keine Diskriminierung zu erfahren, nicht verletzt wird […]. Die Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung nach Maßgabe dieser Vorschrift hängt also vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit ab. Ein solcher Zusammenhang kann sich entweder aus der Art dieser Tätigkeit ergeben – z. B. wenn sie mit […] einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden ist – oder aus den Umständen ihrer Ausübung, z. B. der Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen“.

Von jemandem, der im Bereich der Verkündigung der Religion oder Weltanschauung tätig ist, oder von jemandem, der die kirchliche Organisation nach außen vertritt und repräsentiert – wie der Caritasdirektor –, darf folglich weiterhin etwa die Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft gefordert werden oder die Beachtung ihrer religiösen Grundsätze, nicht aber von den Mitarbeiter*innen in der Verwaltung, von Fachkräften, wie Ärzt*innen oder Pfleger*innen, von Religionslehrer*innen sehr wohl, von Mathematiklehrer*innen nicht. Damit wird die im religiösen Bereich zulässige Differenzierung zurückgeführt auf das, was nach deutschem Arbeitsrecht auch sonst in sogenannten Tendenzbetrieben der Fall ist, etwa bei den Parteien, bei den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, in der Presse.

Der Passus in § 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, demzufolge auch nach dem bloßen Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft differenziert werden darf (Abs. 1 Satz 1, erste Alternative), wurde vom EuGH ausdrücklich für unanwendbar erklärt.

Das Bundesarbeitsgericht hat daraufhin in seinen beiden Folgeentscheidungen Frau Egenberger eine Entschädigung wegen religiös begründeter Benachteiligung zugesprochen (25.10.2018, 8 AZR 501/14) und die Kündigung des Chefarztes wegen Neuverheiratung für unwirksam erklärt (20.02.2019, Az. 2 AZR 746/14).

Wie geht es weiter?

Im kollektiven Arbeitsrecht gilt weiter § 118 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz, wonach dieses Gesetz keine Anwendung findet im Bereich der Kirchen, diese vielmehr weiter mit eigenen Mitarbeitervertretungsgesetzen agieren können. Eine Änderung von der europarechtlichen Ebene ist nicht zu erwarten, da den Europäischen Gemeinschaften hierfür die Zuständigkeit fehlt. Hier könnte lediglich der deutsche Gesetzgeber durch Streichung des § 118 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz für eine Änderung sorgen – politisch höchst unwahrscheinlich, da die deutschen politischen Gremien als kirchenhörig bezeichnet werden müssen, je höher, desto mehr.

Die Situation im Hinblick auf das Streikrecht im kirchlichen Bereich ist weiterhin ungeklärt. Da eine gesetzgeberische Änderung ebenfalls politisch ausgeschlossen erscheint, wird es hier darauf ankommen, inwieweit die Gewerkschaften bereit sind (und von den Kirchen zugelassen werden), nach Maßgabe der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts in den arbeitsrechtlichen Kommissionen mitzuwirken und damit das Streikrecht nach der bisher herrschenden Lehre auszuschließen, oder ob sie einen neuen Anlauf unternehmen werden, mit der Androhung eines Streiks Tarifverträge zu erkämpfen. Wenn auch der Marburger Bund in der arbeitsrechtlichen Kommission des deutschen Caritasverbands mitwirkt – nach eigener Einschätzung ohne nennenswerten Einfluss bei drei Sitzen von insgesamt 60 (Gembus et al. 2021: 39ff.) –, so behalten sich doch sowohl verdi wie Marburger Bund das Recht vor, Tarifverträge zu erstreiten – zur Not mit Streik.

Im Individualarbeitsrecht hat das Bundesarbeitsgericht die Rechtsprechung des EuGH in vollem Umfang übernommen, insoweit ist eine breite Bresche in das Sonderarbeitsrecht geschlagen worden. Man konnte erwarten, dass es sich in Zukunft auf die verkündigungsnahen Positionen und auf die Repräsentant*innen kirchlicher Betriebe beschränkt. Beide großen Kirchen haben auch ihre Grundordnungen und Richtlinien überarbeitet, aber von einem endgültigen Abschied vom kirchlichen Sonderarbeitsrecht kann doch nicht die Rede sein. Die EKD ist grundsätzlich nicht bereit, diese neue Rechtsprechung zu akzeptieren. Sie hat gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, über die immer noch nicht entschieden ist.

Die Rechtsprechung scheint überwiegend ebenfalls die neue Rechtslage zu akzeptieren, aber nicht durchgehend. Der langjährige Braunschweiger Domkantor Gerd-Peter Münden ist mit einem Mann verheiratet (was die Evangelische Kirche immerhin schon seit langem akzeptiert). Er teilte seinem Landesbischof mit, dass er mit seinem Ehepartner erwäge, ihren Kinderwunsch im Wege der Leihmutterschaft zu erfüllen durch Samenspenden durch ihn und seinen Ehemann und eine Austragung der Kinder durch zwei Leihmütter in Kolumbien. Da die Kirche meinte, dies nicht billigen zu können, kündigte sie ihm; das Arbeitsgericht Braunschweig und das Landesarbeitsgericht Niedersachsen erklärten die Kündigung für unwirksam (LAG Niedersachsen 27.06.2023, Az. 10 Sa 762/22).

Die Evangelische Kirche in Baden-Württemberg schrieb eine Sekretariatsstelle aus im Büro der geschäftsleitenden Oberkirchenrätin und forderte in den Bewerbungsunterlagen die Angabe der Konfession. Die Bewerberin, eine ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte und Rechtsfachwirtin, gab an, konfessionslos zu sein und klagte, als sie nicht eingestellt wurde, auf Entschädigung wegen religiöser Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Das Arbeitsgericht Karlsruhe und das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg gaben ihr Recht (13.04.2021, Az. 19 Sa 76/20).

Ein Koch war in einer evangelischen Kindertagesstätte beschäftigt. Als er aus der Kirche austrat, wurde ihm gekündigt. Die Kündigung wurde vom Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg für unwirksam erklärt (10.02.2021, Az. 4 Sa 27/20).

Auf der anderen Seite: Die EKD in Hannover hatte eine Referentenstelle im Bereich Recht ausgeschrieben. Der*die Stelleninhaber*in sollte sich mit Fragen der Grundrechte, des Staatskirchenrechts und des Europarechts befassen. Gleichzeitig sollte die Person ihre Religionsangehörigkeit mitteilen. Ein Bewerber erfüllte offensichtlich alle fachlichen Voraussetzungen, da er jahrelang in den gewünschten Bereichen für den Hauptausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen gearbeitet hatte. Er gab allerdings an, vor vielen Jahren aus der Katholischen Kirche ausgetreten zu sein, da er nicht an die jungfräuliche Empfängnis Mariä glauben könne. Er sei aber gläubig und Fördermitglied einer protestantischen Kirche in Köln. Als er nicht zum Bewerbungsgespräch gebeten wurde, klagte er eine Entschädigung wegen religiöser Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz ein, hatte allerdings damit weder vor dem Arbeitsgericht Hannover noch vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen Erfolg (12.01.2022, Az. 8 Sa 599/19), da die Kirchenmitgliedschaft eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung für diese Stelle sei.

Ein dem Caritasverband angeschlossenes Krankenhaus in Dortmund besetzte die Stelle einer Hebamme im Frühjahr 2019 mit einer Mitarbeiterin, die früher schon einmal bei ihr als Hebamme beschäftigt gewesen, 2014 sich selbständig gemacht hatte und die im Herbst 2014 aus der katholischen Kirche ausgetreten war. Als das Krankenhaus dies nach der Arbeitsaufnahme im Jahre 2019 erfuhr, kündigte es den bereits abgeschlossenen Arbeitsvertrag, wogegen die Hebamme Klage einreichte. Vor dem Arbeitsgericht hatte sie Erfolg, vor dem Landesarbeitsgericht Hamm jedoch wurde ihre Klage abgewiesen, da der Kirchenaustritt nach katholischem Kirchenrecht eine schwere Verfehlung sei (24.09.2020, Az. 18 Sa 210/20). Das BAG entschied die Sache nicht, wie man nach den EuGH- und BAG-Entscheidungen in Sachen Egenberger und Chefarzt hätte erwarten können, sondern legte die Sache erneut mit Beschluss vom 21. Juli 2021 dem EuGH zur Vorabentscheidung vor (2 AZR 130/21 (A)). Hatte das BAG der Mut verlassen? Inzwischen hat die Katholische Kirche offensichtlich Angst bekommen vor der zu erwartenden Entscheidung des EuGH. Nach der mündlichen Verhandlung vor der Großen Kammer des EuGH, die die Schlussanträge des Generalanwalts auf den 11. Januar 2024 terminiert hat, hat die Caritas zur Vermeidung eines für sie negativen Urteils des EuGH die Unwirksamkeit ihrer Kündigung vom dem BAG anerkannt, so dass das BAG ein die Unwirksamkeit der Kündigung bestätigendes Anerkenntnisurteil am 14. Dezember 2023 erlassen hat.

Andererseits hat das BAG in einer neuen Entscheidung vom 9. Mai 2023 (3 AZR 226/22), in der es um eine kirchliche Versorgungsregelung und deren nachträgliche Verschlechterung ging und die Kirche sich auf ihr eigenes Rechtssetzungsrecht berief, sehr apodiktisch und klar entschieden: „Die Kirchen haben nicht die Rechtsmacht, eine normative Wirkung ihrer Regelungen im privaten Arbeitsverhältnis anzuordnen. Wählen sie die privatrechtliche Ausgestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse, so haben sie auch nur die privatrechtlichen Gestaltungsmittel.“

Gleiches hat das Landesarbeitsgericht Köln in seinem Urteil vom 8. August 2023 (4 Sa 371/23) festgehalten. Ein hoher Kirchenbeamter des Erzbistums Köln wollte, so wie es jahrzehntelang üblich war, von der Entgeltgruppe 15 in die Besoldungsgruppe A 16 befördert werden, was vom Erzbistum des Kardinals Woelki mit der Begründung abgelehnt wurde, es handele sich immer um Einzelfallentscheidungen und im Fall des Klägers eben negativ. Damit kam die Kirche beim LAG Köln nicht durch. Auch im kirchlichen Arbeitsverhältnis gelte der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, denn Art. 137 WRV garantiere den Religionsgesellschaften nur die Freiheit, ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen – innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze. „Bedienen sich die Kirchen wie Jedermann der Privatautonomie zur Begründung von Arbeitsverhältnissen, so findet auf diese das staatliche Arbeitsrecht – mithin auch der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz – Anwendung“ (Randziffer 91, 92).

Sowohl die Katholische als auch die Evangelische Kirche haben ihre Grundordnung beziehungsweise ihre Mitarbeitsrichtlinie 2022 respektive 2023 überarbeitet, vermeintlich im Lichte der Entscheidungen Egenberger und Chefarzt, tatsächlich jedoch nur sehr lückenhaft.

So lehnt die Katholische Kirche in ihrer neuen „Grundordnung des kirchlichen Dienstes“ weiterhin kompromisslos Änderungen des kollektiven Arbeitsrechts ab und schließt Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften aus. Im individuellen Arbeitsrecht tut sie einen Schritt vorwärts insoweit, als die private Lebensführung von Beschäftigten, die von der katholischen Moral abweicht, rechtlich nicht mehr geahndet werden soll. Dies betrifft etwa die gleichgeschlechtliche Partnerschaft oder auch die Wiederverheiratung geschiedener Personen. Grundsätzlich wird auch die Position des EuGH akzeptiert, dass die Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche nur noch von Beschäftigten, die geistliche oder verkündigende Funktionen ausüben oder für die Außenrepräsentanz besonders wichtig sind, verlangt wird. Ein Kirchenaustritt – vor oder während eines Beschäftigungsverhältnisses mit der Kirche – schließt aber auch in Zukunft die Tätigkeit im kirchlichen Bereich aus und führt zur Kündigung. Auch soll im Einstellungsverfahren darauf hingewirkt werden, dass möglichst kirchenangehörige Arbeitnehmende eingestellt werden, und im Übrigen müssen alle Beschäftigten sich nach Art. 5 Abs. 2 der Grundordnung verpflichten, dass sie an Fort- und Weiterbildungen teilnehmen, die ihnen spezifische religiöse Kompetenz und „wesentliche Inhalte des katholischen Glaubens oder relevante kirchliche Traditionen“ vermitteln. Dies gilt auch für Fachpersonal in verkündigungsfernen Tätigkeiten und für Nichtkirchenmitglieder! (Kreß 2022)

Die Evangelische Kirche verfolgt weiter ihre Verfassungsbeschwerde gegen die Urteile des EuGH und des BAG und erkennt somit die neue Rechtsprechung nicht an. Wie die Presse am 13. November 2023 berichtete (Allgemeine Zeitung Mainz), deutet sich vielleicht eine leise Korrektur bei der Evangelischen Kirche an. In einem schriftlichen Bericht des Rates der EKD für die EKD-Synode soll die Mitarbeitsrichtlinie geändert werden. Danach soll die Zugehörigkeit zur Evangelischen Kirche als Voraussetzung für eine Einstellung beschränkt werden auf Tätigkeiten der Verkündigung, der Seelsorge, der evangelischen Bildung und der „besonderen Verantwortlichkeit für das evangelische Profil“, womit sich die EKD der Rechtsprechung des EuGH beugen würde. Auch die Kündigung bei Kirchenaustritt soll nicht mehr automatisch und ausnahmslos erfolgen, sondern unter Abwägung im Einzelfall, wenn die Kirchenmitgliedschaft bei der konkreten Stelle eine gerechtfertigte Voraussetzung ist – auch insoweit würde also die Formulierung des EuGH übernommen.

Den Schritt der Katholischen Kirche, in Zukunft das private Leben der Mitarbeitenden, die sexuelle Identität, die Wiederverheiratung Geschiedener oder das Mitwirken an der staatlich vorgesehenen Schwangerschaftsberatung nicht mehr als Einstellungshindernis oder Kündigungsgrund anzusehen, musste die Evangelische Kirche nicht gehen, da dies schon bisher bei ihr arbeitsrechtlich ohne Bedeutung war. Im Übrigen aber fordert die EKD in ihrem Entwurf vom 3. März 2023 der „Richtlinie des Rates über Anforderungen an die berufliche Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und in ihrer Diakonie“, kurz Mitarbeitsrichtlinie, ebenso wie die Katholische Kirche, dass im Bewerbungsgespräch für jede Tätigkeit auf dem Charakter ihrer Einrichtungen als Verkündigung und Glaubenszeugnis und als Ausdruck der kirchlichen Dienstgemeinschaft Wert gelegt werden muss. Auch bei „funktionalen“ Tätigkeiten wie Buchhaltung, Pflege, Sozialarbeit, fachärztliche Versorgung usw. müssen persönliche Haltungen und Glaubensüberzeugungen der Beschäftigten erkennbar werden und Kirchenmitglieder sind bevorzugt einzustellen, also werden Nichtkirchenmitglieder nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz diskriminiert. Das gilt ausdrücklich auch für Aufgaben, die keine religiöse Dimension haben. Ebenso wie die Katholische Kirche fordert auch die EKD, dass neu eingestellte und eventuell nichtgläubige Beschäftigte durch Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung in Inhalte des christlichen Glaubens und der Moral „eingeführt werden müssen“. Ebenso kompromisslos ist die Evangelische Kirche hinsichtlich des Verbots des Kirchenaustritts, sowohl bei Einstellung von Beschäftigten wie auch gegebenenfalls bei deren Kündigung (Kreß 2023).

Das mediale Getöse, dass durch die neue Grundordnung beziehungsweise die neuen Richtlinien die Kirchen entsprechend der Rechtsprechung von EuGH und BAG sich zurücknehmen und kirchenspezifische Einstellungs- und Kündigungsgründe beschränken auf verkündigungsnahe Positionen oder solche, die die Kirche nach außen repräsentieren, erweist sich somit als voreilig. Es wird weiter darauf ankommen, dass in jedem Einzelfalle durch die Rechtsprechung Fortschritte erkämpft werden müssen und damit dem Grundgesetz und Artikel 137 Abs. 3 WRV Gültigkeit verschafft wird, dass auch die Kirche sich lediglich „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ bewegen kann.

 

Dr. Till Müller-Heidelberg geb. 1944, ist Jurist mit den Schwerpunkten Europa-, Steuer-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht. Er war langjähriger Vorsitzender der Humanistischen Union und gehört weiterhin deren Beirat an, gehört zu den Gründungsmitgliedern der deutschen Sektion der IALANA (Juristen gegen den Atomkrieg) und ist Beiratsmitglied des Instituts für Weltanschauungsrecht. Bis 2018 war er zudem Mitherausgeber des Grundrechte-Reports und sitzt seit 30 Jahren für die SPD im Rat der Stadt Bingen. Von ihm gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zu Demokratie und Rechtsstaat, Grundrechten, Polizei und Verfassungsschutz, zur Trennung von Staat und Kirche und zum kirchlichen Arbeitsrecht.

 

Literatur

Fey, Detlev et al. 2021: Verfassungsmäßigkeit und Umsetzung der EuGH-Urteile zu „Egenberger“ und „Chefarzt“ (Teil 1), in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 233 = Jg. 60, H. 1, S. 17-38.

Gembus, Mario et al. 2021: Das kollektive Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen (Teil 2), in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 233 = Jg. 60, H. 1, S. 39-64.

Junker, Abbo 2018: Gleichbehandlung und kirchliches Arbeitsrecht – Ein deutscher Sonderweg endet vor dem EuGH, in: Neue Juristische Wochenschrift, Jg. 71, H. 26, S. 1850-1853.

Kreß, Hartmut 2022: Die neue „Grundordnung“ des katholischen kirchlichen Arbeitsrechts – zwiespältig und am kirchlichen Eigeninteresse orientiert, in: Weltanschauungsrecht Aktuell, Nr. 6 vom 20. Dezember 2022, https://weltanschauungsrecht.de/meldung/neue-grundordnung-des-katholischen-kirchlichen-arbeitsrechts-zwiespaeltig (Stand: 10.01.2024).

Kreß, Hartmut 2023: Die Mitarbeitsrichtlinie der evangelischen Kirche von 2023: Ein Verlegenheitsdokument mit neuer Intransparenz, in: Weltanschauungsrecht Aktuell, Nr. 7 vom 22. August 2023, https://weltanschauungsrecht.de/meldung/mitarbeitsrichtlinie-evangelischen-kirche-2023-verlegenheitsdokument-neuer-intransparenz (Stand: 10.01.2024).

Kühling, Jürgen 2007: Ich glaub’s nicht. Kirchenaustritt und Religionsfreiheit im Sozialrecht, in: Müller-Heidelberg, Till et al. (Hrsg.): Grundrechte-Report 2007. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt am Main, S. 82-86.

Matthäus-Meier, Ingrid 2019: Über die lange Geschichte der Grundrechtsverletzungen durch das kirchliche Arbeitsrecht – Ein Plädoyer für rechtspolitische Reformen, in: Neumann, Jacqueline et al. (Hrsg.): Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, Baden-Baden, S. 313-332.

Müller-Heidelberg, Till 2019: EuGH sorgt für Zeitenwende im kirchlichen Arbeitsrecht, in: Neumann, Jacqueline et al. (Hrsg.): Aktuelle Entwicklungen im Weltanschauungsrecht, Baden-Baden, S. 333-344.

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