Rezension: Strafe als unnötige Leidzufügung
Piché, Justin (Hrsg.): Pain in vain. Penal Abolition and the legacy of Louk Hulsman, Red Quill Books 2023, 290 S., 42,40 €.
Louk Hulsman (2023-2009) gehört für meine Generation zu den Begründern des kriminalpolitischen Abolitionismus (neben Herman Bianchi, Nils Christie und Thomas Mathiesen). Während von allen Übrigen zahlreiche Bücher in Übersetzung (auf Deutsch, mindestens aber auf Englisch) zugänglich waren und sind, war dies bei Hulsman anders. Neben Schriften in seiner Heimatsprache, dem Niederländischen, hatte er zwar einige eher kurze Aufsätze auf Englisch veröffentlicht und dann als Vorsitzender eines Komitees des Europarates den einflussreichen Report on Decriminalization. Als sein Hauptwerk gilt aber ein französischsprachiger Text (Peines Perdues von 1982). Für meine Generation, für die das Englische zur lingua franca geworden war, stellte dies eine echte Zugangsschranke dar. 40 Jahre später liegt nun endlich eine englische Übersetzung vor. Sie stammt von dem kanadischen Kriminologen Justin Piché und von Jehanne Hulsman, Louks vielsprachiger Tochter. Von ihr stammt eine sehr lesenswerte Vorbemerkung über die „unmögliche Aufgabe“ der Übersetzung: „trying not to rely on likely and common translations, but instead searching for the music in the translation by which one aims to seize the original intended meaning within the context it was communicated in” (20). Der vorliegende Band besteht aus zwei großen Teilen: der Übersetzung von Peines Perdues einerseits, sowie andererseits neun Kommentaren von Kolleg*innen, einschließlich eines Nachworts des Herausgebers.
Peines Perdues besteht selbst aus zwei Teilen. Der erste Part ist ein längeres Interview-Gespräch zwischen Hulsman und Jacqueline Bernat de Celis, einer französischen Kriminologin. Der Text des Interviews mit Bernat de Celis ist besonders lebendig und aufschlussreich, vor allem was seine frühen (kritischen) Einsichten in die Gesetzgebungspraxis betrifft. Aber auch seinen Hinweis, dass „abolitionist practice from modest positions“ möglich ist. Und natürlich seine intensive Neugierde auf Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Sphären, welche er in vielen hundert Meetings, working groups und so weiter auslebte, „which opened me up and deprogrammed me“. Gute Fragen von seiner Interviewerin bringen klare Antworten, etwa, dass er nie ein Pazifist gewesen sei, aber auch die schöne Antwort, die er seinem kleinen Sohn gegeben hat, als dieser ihn fragte, ob es echt böse Menschen gebe: „I don’t know, Lodewijk, but I have never met such a person“. Das gilt auch für seine Vorstellung, dass die Abschaffung des Strafsystems eine „collective conversion“ erfordern würde, wie sie nach den Hexenverbrennungen, der Sklaverei und der Praxis von Körperstrafen stattgefunden hat. Das hat mich an Mathiesen erinnert, der einen Workshop abhalten wollte über The end of institutions that were supposed to never end. Gemeinsamkeiten finden sich auch mit anderen großen Köpfen (Herman Bianchi, Nils Christie, aber auch Ivan Illich) wenn er für die Praxis vorschlägt: „[W]e have to strive for deprofessionalization, deinstitutionalization and decentalization“ (49). Das alles ist der Louk Hulsman, an den ich mich erinnere: charmant, einfallsreich und nachhaltig überzeugend.
Auf das Interview folgen 60 kurze Texte, ohne explizite Fragen und klärende Rückfragen. Bernat de Celis bezeichnet sie als „two series of reflections […] in which he reveals the internal coherence of the penal abolitionist perspective”. Er und Bernat de Celis werden als Autor*innen der Texte genannt. Dieser Teil hat nicht den dialogischen Charme des Interviews. Man hat den Eindruck, dass Hulsman vorhandene Notizzettel ordnet und neue hinzufügt, vielleicht unter dem Einfluss von Bernat de Celis. Im Einzelnen ist das durchaus erhellend, manchmal aber auch sprunghaft und gelegentlich volkshochschulmäßig. Mit etwas Mühe kann man sich daraus aber ein Bild der Hulsmanschen Philosophie und Terminologie zusammensetzen. Hier eine erste Skizze:
Zentral ist für Hulsman die Ablehnung und Dekonstruktion des Begriffs Straftat (crime) (103ff./144): „the words crime, criminal, criminality, criminal policy etc. belong to the criminal dialect” (104). Er findet, dass wir diese Sprache ablegen müssen, dieser Logik abschwören, um zu einer vernünftigen Einschätzung der sozialen Wirklichkeit zu kommen.
Es sei sinnlos zu erwarten, dass das Strafsystem (penal system) strafbare Handlungen unterdrücken könne; es sei im Gegenteil so, dass es diese Phänomene selbst erschaffe, indem es völlig unterschiedliche Phänomene als Straftaten definiere (115). Dieses System insgesamt, nicht nur das Gefängnis, sei ein soziales Übel, welches insgesamt abgeschafft werden müsse (101).
Als Ausweg aus dieser Logik schlägt Hulsman vor, stattdessen von „problematic situations”“ (108) zu sprechen, wobei keine dieser problematischen Situation einer anderen gleicht (112). Für jede dieser Situationen gebe es mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen. Das Strafrecht sei nur eine davon. Etwas eine „Straftat“ zu nennen, heiße, sich von vornherein auf diese unfruchtbare Option zu beschränken. Hier haben bekanntlich Hanack und andere im Jahr 1989 mit ihrer Untersuchung zur Phänomenologie der gestörten Routine und des alltäglichen Umgangs damit angesetzt.
Die Probleme, die das Strafsystem zu lösen vorgibt, lassen sich, nach Hulsman, auf andere Weise lösen, insbesondere durch „organized face-to face meetings“ (139). Spezifisch nennt er Schiedsverfahren (arbitration), auch Zivilgerichte (138), besser aber community boards, was so etwas wie Nachbarschaftsvertretungen sein sollen (140). Davon verspricht er sich eine gesellschaftliche Wiedergeburt: „In my mind, abolishing the penal system would mean bringing communities, institutions and people back in“.
Die von Hulsman genannten Beispiele betreffen primär die traditional delinquency: Eigentums- und Vermögensdelikte, Verletzungs- und Tötungsdelikte (63); er betont aber, dass die Abschaffungsforderung keine Ausnahme kennt (130); sie gilt auch für den Finanz- oder Wirtschaftsbereich (128).
Der zweite Teil des Buches besteht aus kurzen Essays/Kommentaren von Freund*innen und Kolleg*innen aus aller Welt. Einige davon sind eher deprimierend gestimmt: Aus Brasilien, Frankreich, den Niederlanden und Serbien, wo man das Buch seit Jahrzehnten im Original oder Übersetzungen lesen konnte, wird von Expansionen des Strafsystems berichtet. Die Enttäuschung ist spürbar, aber in keinem dieser Texte wird ernsthaft die Frage diskutiert, woran das lag oder ob der Enttäuschung nicht eine falsche Erwartung zugrunde liegt. Die Grundstimmung wird durch den Schlusssatz der serbischen Autor*innen Ignjatovic und Ljubicic noch unterstrichen: „Overall, we must continue to fight for the impossible“ (192). Das ist ein Hulsman-Zitat.
Aufschlussreicher und weiterführend sind die übrigen Beiträge kritischer Jurist*innen und Kriminolog*innen:
David Scott, kritischer Kriminologe und Aktivist, unterstreicht in eigenen Worten das zentrale Thema: dass es darum geht, sich der Logik des Begriffs crime zu entziehen. Er verweist darauf, dass Hulsman seinen Ansatz, mit einem bei uns kaum gebräuchlichen Begriff, als „anaskopisch“ bezeichnet hat, sprich vom Individuum ausgehend (und nicht von größeren Einheiten). Dieser Begriff wird auch von Andrea Beckmann gebraucht, einer deutsch-irischen Wissenschaftlerin und der Geschäftsführerin der Hulsman Foundation. In ihrer Forschung zu „unterdrückten Wissensformen“ im Bereich der Sexualität verwendet sie, orientiert an Hulsman, einen ethnologisch-verstehenden bottom-up view.
Alejandro Forero Cuéllar, Strafrechtsprofessor und Anti-Folter-Aktivist nähert sich dem Hulsmanschen Ansatz durch einen Vergleich mit dem Anarchismus. Hulsmans Denken sei revolutionär, weil er Veränderungen im Hier und Jetzt als Ansätze für eine künftige Gesellschaft vorschlage. „Certain structures cannot be abolished in the future if they are not abolished in the present” (271).
So sieht das auch Eugenio Raúl Zaffaroni, prominenter argentinischer Richter und Strafrechtslehrer. Alle Strafjurist*innen sollten dieses Buch lesen und zwar nicht nur einmal, sondern mehrfach; was nach der ersten Lektüre als utopisch, absurd oder unrealistisch erscheinen möge, könne beim wiederholten Lesen zu erstaunlichen Einsichten führen: Es sei kein Traum von einer weit entfernten Welt ohne Strafrecht, sondern von einem gegenwärtig durchführbaren Strafrecht, als einer Methode zur Eingrenzung des Irrationalen, betrieben von Leuten, die direkt von kriminalisierten Konflikten und Verletzungen betroffen sind (212f.).
Von besonderem Interesse ist auch das Nachwort des Herausgebers Justin Piché. Er widmet sich, bei aller Anerkennung der Verdienste von Hulsman, den Schwachpunkten, die er in dessen Werk findet. Die sieht er in drei Bereichen: erstens die mangelnde Berücksichtigung anderer repressiver Strukturen (Klasse, Patriarchat, weiße Suprematie); zweitens die Begrenzung des Abolitionismus auf das Strafsystem; karzerale Logik und Praxis finde sich auch an anderen Stellen der Gesellschaft; und drittens die Gefahr einer Reifizierung des Hulsmanschen Konzepts „problematischer Situationen“. Aus der Sicht der Beteiligten seien diese manchmal gar nicht so problematisch (dem hätte Hulsman wohl zugestimmt).
Insgesamt ist dies ein hochinteressantes Buch und ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des Abolitionismus als konkrete Utopie. Es steht zu hoffen, dass es in absehbarer Zeit auch in deutscher Sprache zugänglich sein wird – natürlich in einer angemessenen (und mit Jehanne Hulsman abgestimmten) Übersetzung und mit zusätzlichen Kommentaren von Menschen, die an einer Weiterentwicklung des Abolitionismus interessiert sind.