Beitragsbild Wehrhafte Demokratie – zur Diskussion um ein AfD-Verbot
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Wehrhafte Demokratie – zur Diskussion um ein AfD-Verbot

Die Wahlprognosen und jüngsten Wahlerfolge der immer rechtsextremer werdenden AfD und den Enthüllungen von Correctiv zum „Geheimplan Remigration“ haben nicht nur zu deutschlandweiten Massendemonstrationen geführt, sondern auch zu einer öffentlichen Debatte darüber, ob die AfD verboten werden sollte. Auch die Humanistische Union diskutiert aktuell die Vor- und Nachteile eines Verbotsverfahrens aus bürgerrechtlicher Perspektive. Manfred Pappenberger argumentiert in seinem Beitrag politikwissenschaftlich und juristisch, dass es die demokratische Pflicht von politischen Institutionen sei, ein solches Verbotsverfahren einzuleiten, um die Demokratie vor antidemokratischen und gefährlichen Kräften zu schützen. Dabei sieht er aber auch die Hindernisse und Probleme, wie den unsicheren Ausgang oder die Größe der Partei.

 

Die Correctiv-Enthüllungen über ein Geheimtreffen von Rechtsextremen im November 2023 in Potsdam haben offenbart, welche Gefahr von einer AfD an der Macht ausgeht, als darüber diskutiert wurde, wie eine massenhafte Deportation nach rassistischen Kriterien durchgeführt werden könnte (Correctiv 2024).

Die in der Folge aufgetretenen Massendemonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie zeichnen sich dadurch aus, dass sie von einer ungemein breiten, generationsübergreifenden gesellschaftlichen Basis getragen sind und flächendeckend stattfinden. Besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang verdienen die vielen Demonstrationen in Ostdeutschland – sind es doch Regionen, in denen die AfD und ihre Sympathisanten eine enorme Stärke erreicht haben und es mitunter sehr mutig ist, dort Gesicht zu zeigen.

Von diesen Demonstrationen geht ein klares Signal aus, alle Mittel ernsthaft zu prüfen, die das Grundgesetz (GG) vorsieht, um ein demokratisches System zu schützen. Diese reichen von einem Parteienverbot über das Verbot eines Landesverbandes beziehungsweise einer Jugendorganisation bis hin zur Grundrechteverwirkung einzelner Personen oder dem Ausschluss aus der Parteienfinanzierung. Es ist jedoch auch eine Mahnung an die etablierten Parteien, ihre Klientelpolitik zu hinterfragen und sich auf eine gemeinsame Bekämpfung der AfD zu konzentrieren.

Gewiss: Meinungsfreiheit, offener Meinungswettstreit und politische Beteiligung sind Kernelemente und damit Grundlage von Demokratien. Politischen Parteien kommt in diesem Zusammenhang idealiter eine fundamental wichtige Bedeutung als Mittler zwischen der Gesellschaft und staatlichen Institutionen zu. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil für das repräsentative Entscheidungssystem und genießen deshalb grundgesetzlichen Schutz und Privilegien. Die Hürden für ein Parteiverbot liegen daher bewusst hoch, weshalb ein Parteienverbot durchaus kontrovers diskutiert wird. In Staaten mit langer repräsentativ-demokratischer Tradition, etwa Großbritannien oder den USA, gelten Parteiverbote als schwerer, unangemessener Eingriff in die Meinungsfreiheit.

Die Erfahrungen aus dem Scheitern der Weimarer Republik und die in der Folgezeit totalitäre NS-Schreckensherrschaft haben jedoch dem Parlamentarischen Rat einen entscheidenden Impuls dafür geliefert, dass sich Demokratien gegen ihre Feinde als wehrhaft erweisen sollen. Eine Partei mit verfassungsfeindlichen Zielen sollte nicht mehr auf legale Weise an die Macht kommen. Besondere Bedeutung in diesem Kontext hat der Art. 21 GG: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig“ (Abs. 2) und „von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen“ (Abs. 3). Die rechtsverbindliche Entscheidung der Verfassungswidrigkeit einer Partei und deren Auflösung trifft das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Das BVerfG wird gemäß Art. 21 GG nur tätig, wenn ein Verbotsantrag von Bundesrat, Bundestag oder Bundesregierung gestellt wurde.

Zudem bietet das GG die Möglichkeit, Vereinigungen wie die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative nach Art. 9 Abs. 2 zu verbieten. Dort heißt es: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“ Ein Verbotsantrag kann vom Innenministerium gestellt werden.

Eine weitere Sicherung gegen den Missbrauch der Demokratie ist in Art. 18 GG festgeschrieben. Wer Grundrechte verletzt, dem können auch bestimmte Grundrechte entzogen werden. Das Instrument der Grundrechteverwirkung ermöglicht es, gezielt die Wirkmächtigkeit von einzelnen Personen einzuschränken, die in hohem Maße verfassungsfeindlich agieren.

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurden bislang erst zwei Parteien verboten: 1952 die Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)i. 2003 scheiterte das Verbotsverfahren gegen die rechtsextremistische Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), weil die Partei von V-Leuten durchsetzt war, was ein geordnetes rechtsstaatliches Verfahren verhinderte. 2017 blieb ein weiteres Verbotsverfahren gegen die NPD erfolglos. Obwohl der Zweite Senat des BVerfG verfassungsfeindliche Ziele der NPD feststellte, die auf die Beseitigung der freiheitlichen Grundordnung gerichtet sind und die V-Leute zwischenzeitlich abgeschaltet worden waren, wurde kein Verbot verhängt. Nach Ansicht des BVerfG fehlte es der NPD an Potentialität.

„Lässt das Handeln einer Partei dagegen noch nicht einmal auf die Möglichkeit eines Erreichens ihrer verfassungsfeindlichen Ziele schließen, bedarf es des präventiven Schutzes der Verfassung durch ein Parteiverbot als schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde […] nicht. Ein Parteiverbot kommt vielmehr nur in Betracht, wenn eine Partei über hinreichende Wirkungsmöglichkeiten verfügt, die ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen, und wenn sie von diesen Wirkungsmöglichkeiten auch Gebrauch macht“ (BVerfG: Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017, Az.: – 2 BvB 1/13 -, Rn. 1-1010, hier: S. 157, Rn 586).

Damit wich der Senat von seiner Definition im KPD-Urteil ab, nach dem „es einem Parteiverbot nicht entgegenstehe, wenn für die Partei nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können“ (BVerfG (2017), S. 157, Rn 586). Die KPD hatte bei der Bundestagswahl 1953 nur noch 2,2 Prozent und war damit um 3,5 Prozentpunkte im Vergleich zur Bundestagswahl 1949 abgerutscht.

Das Ausbleiben eines Verbots trotz festgestellter Verfassungswidrigkeit wird oftmals als fehlende Signalwirkung bezeichnet und mithin für den Aufstieg der AfD interpretiert. Jedenfalls hat dieses Urteil dazu beigetragen, dass aus Angst wiederum zu scheitern, eine Antragstellung eines Verbots der AfD bis heute ausgeblieben ist. Gleichwohl hat sich das BVerfG mit diesem Urteil der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angenähert, der mit seiner Entscheidung die exzessive Parteienverbotspraxis in der Türkei einschränken wollte, indem Anzeichen für eine konkret drohende Umsturzgefahr vorliegen müssen. Dies ist insofern bedeutsam, als bei einem erteilten Parteienverbot der EGMR angerufen werden kann.

Zur Poten­ti­a­lität der AfD

Der AfD ist es seit ihrer Gründung im Jahre 2013 gelungen, in den Bundestag, in aktuell 14 Länderparlamente (außer Bremen und Schleswig-Holstein) und in das Europaparlamentii einzuziehen. Sie hat damit erstmalig erreicht, was weder die NPD noch die Republikaner oder die DVU in der Bundesrepublik geschafft haben: eine ernsthafte politische Größe zu werden. Neben quantitativen Erfolgen stellt die AfD mittlerweile mit Robert Sesselmann den Landrat von Sonneberg (Thüringen), mit Hannes Loth den Bürgermeister von Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt), und Oberbürgermeister von Pirna (Sachsen) wurde der parteilose AfD-Kandidat Tim Lochner, obwohl sie in allen drei Bundesländern als gesichert rechtsextrem zu klassifizieren ist. Lag die Mitgliederzahl der AfD Ende 2022 noch bei knapp 30.000, erhöhte sie sich Ende 2023 nach Parteiangaben um fast 40 Prozent auf über 40.000, während sie sich bei der SPD und der CDU seit 1990 mehr als halbiert hat. Die Beispiele „machen deutlich, dass die AfD bereits jetzt in der Lage ist, Dominanzansprüche in abgegrenzten Sozialräumen zu verwirklichen“ (Cremer 2023: 59).

Auch wenn historische Vergleiche nur mit größter Vorsicht berechtigt sind, ist festzustellen, dass die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1930 mit einem Stimmenanteil von 15 Prozent aller Wahlberechtigten eine kritische Masse erreicht hatte, zweieinhalb Jahre später war Adolf Hitler Reichskanzler. Die AfD käme aktuellen Umfragen zufolge derzeit auf knapp 20 Prozent. Der Verweis, dass ein Großteil der Wähler*innen die AfD nicht wählt und fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehe, (Lucke 2023: 7) verkennt, dass mit dem Erreichen dieser kritischen Masse die Gefahr wächst, dass sich extrem beschleunigte gesellschaftspolitische Prozesse, wie sie in der Theorie der shifting-baselines (Welzer 2008: 214ff.) beschrieben sind, ereignen könnten, ohne in ihren Ausmaßen wahrgenommen und erkannt zu werden. Die Geschichte hat gezeigt, dass Instabilität eher die Regel und Stabilität eher die Ausnahme darstellt. Allein in den letzten 100 Jahren hat sich erwiesen, dass es jederzeit zu extrem beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen kommen kann, die vorher in keiner Weise erwartet oder für möglich gehalten wurdeniii.

Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen könnte die AfD nicht nur stärkste Kraft werden, sondern sogar den Ministerpräsidenten stellen, falls Bündnis 90/Die Grünen und die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Zudem wird nach Art 70 Abs. 3 der Thüringischen Landesverfassung in einem erforderlichen dritten Wahlgang derjenige Ministerpräsident, der die meisten Stimmen erhältiv. „Unter dem Gesichtspunkt der Potentialität sind die bereits erlangten Zustimmungswerte und damit verbundenen Mandate der AfD von maßgeblicher Bedeutung. Auf der Landesebene sind sie teilweise so hoch, dass die AfD stärkste Kraft werden kann; auf der kommunalen Ebene ist dies teilweise bereits der Fall“ (Cremer 2023: 58).

Doch die Gefahr beginnt nicht erst mit der Erreichung absoluter Mehrheiten. Auch die Fähigkeit zur politischen Blockademacht kann demokratiegefährdend sein. Für den Fall, dass die AfD mehr als ein Drittel der Sitze erringt, könnte sie eine Sperrminorität ausbilden und Entscheidungen verhindern, die eine Zweidrittelmehrheit benötigen.

Darüber hinaus führen veränderte Machtverhältnisse dazu, dass die AfD nur noch mit einer Koalition aus politisch immer heterogeneren Gruppierungen von der Machtausübung fernzuhalten ist. Solche Koalitionen – das zeigt sich aktuell bei der Ampel-Regierung – bieten der Öffentlichkeit ein Bild ständiger Querelen und interner Zerwürfnisse, anstatt politischer Handlungsfähigkeit, was insbesondere in Krisenzeiten mit härteren Verteilungskämpfen die Unzufriedenheit mit der Regierung und dem politischen System als Ganzen weiter erhöht. Das ist eine Konstellation, die weiteres zukünftiges Potential für die AfD befürchten lässt.

Zur Bedeutung der AfD

Die AfD gibt rechter und rechtsextremer Ideologie eine parlamentarische Plattform mit großer Reichweite, agiert in der Öffentlichkeit mit gezielten Provokationen und Tabubrüchen, erweitert so die Grenzen des Sagbaren, fordert eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad und entwickelt einen immer radikaleren völkisch-nationalistischen Charakter. Ihre aggressive Wortwahl insbesondere gegenüber Migranten schafft ein gesellschaftliches Klima und damit einen Nährboden, in dem sich radikalisierte Menschen berufen fühlen zu handeln. Wo die Sprache verroht, ist die Straftat nicht weit, konstatierte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier im Zusammenhang mit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (Süddeutsche Zeitung 2019). Zudem befand Victor Klemperer, der die Sprache des Nationalsozialismus in der Lingua Tertii Imperii untersuchte: „Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da“ (Klemperer 2007 [1947]: 26). Die Inhalte und die Sprache des Mörders von Halle spiegelten nicht nur die Inhalte und die Sprache im Internet wider, seine Narrative entsprechen auch denen von AfD-Politiker*innen. Es ist empirisch erwiesen, dass spätere rechtsextreme Täter*innen an diesen Diskursen, die die AfD maßgeblich mitprägt, partizipiert haben, weshalb die Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionsforschung seit langem anmahnen, „unsere Naivität gegenüber der Bedeutung von Sprache in der Politik abzulegen“ (Wehling 2017: 18) (politisches Framing). Rechtsextreme Äußerungen der Parteiführung offenbaren jedoch die wahren Ziele der AfD und damit ihre Verfassungsfeindlichkeit, denn die formale Einhaltung von Gesetzen in Wahlprogrammen machen aus extremistischen Parteien noch keine demokratischen.

Demgegenüber stellen sprachliche Muster und Deutungen ideelle Ressourcen dar, die den Raum für Problemwahrnehmungen, Interpretationen der gesellschaftlichen Realität, politische Zielsetzungen oder Handlungsempfehlungen vorgeben. Der so gebildete Referenzrahmen bildet den Raum des Denk-, Sag- und Machbaren. In diesem sozialen Umfeld wird der rechtsextreme Diskurs – vorrangig im Internet – geführt, hier werden bestimmte soziale Milieus stigmatisiert und zu Feindgruppen oder zu Feind*innen des „deutschen Volkes“ definiert. Das Unsagbare wird – nach der Theorie des „Overton-Fensters“ – zur neuen Normalität (Pappenberger 2021: 4-8).

Aus meiner Sicht wäre es ein großer Fehler, die AfD isoliert zu betrachten. Die AfD erfüllt die Funktion eines Scharniers mit weit verzweigten Netzwerken im In- und Ausland. So gibt es weitreichende Querverbindungen zu Pegida-Demonstrant*innen, die Verständnis für den Mord an Lübcke haben, den sie als „Volksverräter“ bezeichnen, zu neurechten Strateg*innen, wie den Gründern des Instituts für Staatspolitik, Karlheinz Weißmann und Götz Kubitschek, zur Identitären Bewegung und zu gewaltbereiten Gruppen. Des Weiteren gibt es Verbindungen zu Verschwörungstheoreti-ker*innen, Querdenker*innen und zur Reichsbürgerszene, die um Heinrich XIII Prinz Reuß einen Staatsstreich planten. Birgit Malsack-Winkemann, Mitglied der AfD, war dabei als zukünftige Justizministerin vorgesehen. Hinzu kommt noch der rechtsextreme „Geheimplan Remigration“, an dem AfD-Politiker*innen beteiligt waren, von denen Correctiv (2024) berichtet hat.

Wie Demokratien sterben – oder extre­mis­ti­sche Parteien müssen nur eine Wahl gewinnen

„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. […] Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. […] Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir!“ (Goebbels 1928)

Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt Ähnlichkeiten, die es zu erkennen gilt. Nicht nur die Weimarer Republik ist mit einem Prozess gescheitert, der an der Wahlurne begonnen hat. Levitsky und Ziblatt (2018) stellen fest, dass seit dem Ende des Kalten Krieges die meisten Demokratien nicht durch Militärputsche oder Staatsstreiche zusammengebrochen sind, sondern durch Wahlsiege extremistischer Parteien. Während bei einem klassischen Putsch der Tod des jeweiligen politischen Systems für alle sofort offensichtlich ist, verläuft die Aushöhlung und Zerstörung von Demokratien durch Wahlerfolge extremistischer Parteien anfangs so unmerklich, dass sie kaum wahrgenommen wird. „Das tragische Paradox des Abgleitens in den Autoritarismus über Wahlen besteht darin, dass die Mörder der Demokratie deren eigene Instrumente benutzen, um sie zu töten – schrittweise, fast unmerklich und legal“ (Levitsky/Ziblatt 2018: 17). Bereits Stanley Milgram hat in seinen berühmten Gehorsamsexperimenten die unheilvolle Bedeutung der schleichenden Erhöhung der verabreichten Stromstöße aufgezeigt. „So sind es die schleichenden Übernahmen rechtsradikaler Positionen und Rhetoriken, die die Grundpfeiler der liberalen Demokratie sukzessive untergraben“ (Heinze 2021: 147).

Viele Kritiker*innen oder Gegner*innen eines Verbotsverfahrens betonen, dass extremistische Parteien mit politischen Argumenten und Fakten zu stellen sind. Doch im digitalen KI-Zeitalter, im Zeitalter von Social Media und Internet-Filterblasen spielen Fake News und Emotionen eine immer größere Rolle innerhalb der politischen Willensbildung (vgl. auch Hügel 2023). Das Internet ist für rechte Fanatiker*innen und Extremist*innen deshalb so interessant, weil es ihnen die Möglichkeit zum uneingeschränkten Gedankenaustausch eröffnet, der ihnen durch die Wächterfunktion der Qualitätsmedien in diesem Umfang verschlossen bleibt. Erst die Digitalisierung hat diese langanhaltende Marginalität rechtsextremer Ideen beendet und damit ihre Verbreitung und Wirkmächtigkeit enorm erhöht. Sind extremistische Parteien erst einmal an der Macht, höhlen sie die demokratische Ordnung systematisch aus, kriminalisieren kritische Haltungen und eliminieren politische Gegner*innen.

Der richtige Zeitpunkt – ein Balanceakt

Die Justiz hat sich mit ihrer jüngeren Rechtsprechung in Sachen Parteiverbot in ein ernsthaftes Potentialitäts-Dilemma gebracht: Ist eine Partei zu klein und unbedeutend, wird nach aktueller Rechtsprechung kein Verbot erteilt. Wartet man jedoch so lange, bis eine Partei die erforderlichen Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele erreicht hat, könnte der Zeitpunkt der Intervention in Form eines Parteiverbots verpasst, die Partei schlicht zu groß und einflussreich zu sein (vgl. Wielenga 2023). „Eine Partei zu verbieten, die ein Fünftel, regional sogar ein Drittel der Stimmbürger wählen will, wäre in der Tat ein politisches Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang“ (Lübbe-Wolff 2023). Das widerspricht auch dem Prinzip „Wehret den Anfängen“. „Kommt es zur Machtausübung auf kommunaler Ebene, möglicherweise im Zuge einer Kooperation mit anderen Parteien, kann dies der Anfang davon sein, dass solche Effekte der Normalisierung sich auf der Landesebene fortsetzen, bis sie möglicherweise auch die Bundesebene erreichen“ (Cremer 2023: 59). Diesem Phänomen trägt auch das BVerfG Rechnung, indem es zum einen die Geltung der Maxime „Wehret den Anfängen” bekräftigt und zum anderen formuliert: Zudem

„lässt sich der Zeitpunkt, ab dem eine konkrete Gefahr [für die freiheitlich-demokratische Grundordnung] vorliegt, […] regelmäßig nicht genau bestimmen. Müsste der Eintritt einer konkreten Gefahr abgewartet werden, könnte ein Parteiverbot […] erst zu einem Zeitpunkt in Betracht kommen, zu dem die betroffene Partei bereits eine so starke Stellung erlangt hat, dass das Verbot nicht mehr durchgesetzt werden kann“ (BVerfG (2017), 156, Rn 583).

Historische Erfahrung zeigen, dass extreme Parteien umso schwieriger zu bekämpfen sind, je mehr sie an Boden gewinnen, insbesondere dann, wenn bereits politische Mandate in einem beträchtlichen Umfang erzielt wurden. Zum einen ist dadurch bereits eine gewisse Machtfülle vorhanden, und zum anderen würde ein Verbot viele Wählerstimmen eliminieren, was zu einer weiteren Radikalisierung oder politischen Unruhen auf Seiten der Wählerschaft der extremistischen Partei führen könnte. Doch insbesondere „die deutsche Geschichte hat gezeigt, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung eines Staates zerstört werden kann, wenn menschenverachtende Positionen nicht rechtzeitig auf energischen Widerspruch stoßen und sich so verbreiten und durchsetzen können“ (Rudolf 2023: o. P.).

Art. 21 Abs. 2 GG zielt darauf ab,

„nach der Maxime ‚Wehret den Anfängen‘ frühzeitig die Möglichkeit des Vorgehens gegen verfassungsfeindliche Parteien zu eröffnen […]. Das Parteiverbotsverfahren hat seiner Natur nach den Charakter einer Präventivmaßnahme […]. Es zielt nicht auf die Abwehr bereits entstandener, sondern auf die Verhinderung des Entstehens künftig möglicherweise eintretender Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung“ (BVerfG (2017), 156f, Rn 584.).

Ein Parteiverbot greift zu spät,

„wenn eine Partei erst einmal reale Zugriffschancen auf politische Macht hat. […] Je größer der Wahlerfolg, umso einschneidender ist zudem der Eingriff in die demokratische Willensbildung, wenn nicht nur Wahloptionen entzogen, sondern bereits errungene Mandate Makulatur werden. Es ist ein Balanceakt, den richtigen Zeitpunkt für einen möglichen Verbotsantrag zu finden. Dass die gegenwärtigen Umfragen noch keine Alarmsignale sein sollen, ist irritierend weltfremd, zumal die AfD auf Landesebene gerade dort dabei ist, sich als starke Kraft zu etablieren, wo sie am radikalsten und offen verfassungsfeindlich agiert“ (Gärditz 2023: 37f.).

Zur Bedeutung von Parteien

Dem Grundgesetz zufolge wirken die politischen Parteien bei der Willensbildung des Volkes mit (Art. 21 Abs. 2 GG). Ihnen wird damit – im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung – Verfassungsrang eingeräumt. Sie sondieren Stimmungen, erarbeiten Wahlprogramme und überführen die Meinungen der Wähler*innen in aktive Politik. Laut dem Parteiengesetz §1 (2) wirken die Parteien an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger*innen am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger*innen heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerber*innen an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.

Parteiverbote als schärfstes Schwert haben als Ultima Ratio Ausnahmecharakter und sind kein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot, (Vgl. BVerfG (2017), 156f., Rn 585.) es dient nicht dazu, Ideen oder Überzeugungen zu unterbinden, die weiterhin vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sind.

Fazit

Politisch muss man sorgfältig abwägen, welche negativen Konsequenzen ein Parteiverbot auslösen könnte. Die AfD würde sich als Opfer stilisieren, indem sie ein Verbotsverfahren als Beweis dafür heranziehen würde, dass sich die etablierten Parteien nur noch durch das juristische Ausschalten eines politischen Konkurrenten zu helfen wissen und nicht mehr durch die Kraft der Argumentation. Doch die Opferinszenierung der AfD ist ein immer wiederkehrendes Element – sie ist Bestandteil ihrer DNA, ihrer politischen Strategie und ihres Selbstverständnisses. „Würde ein Verbotsantrag hingegen nur deshalb gemieden, um der AfD keine Möglichkeit zu bieten, sich als Opfer zu inszenieren, würde dies in der Konsequenz darauf hinauslaufen, eine wichtige Schutzmöglichkeit der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie aufzugeben. Damit wäre die Strategie der AfD, sich als Opfer zu inszenieren, vollends aufgegangen“ (Cremer 2023: 62). Auch das weniger scharfe Schwert eines Ausschlusses aus der Parteienfinanzierung würde in diesem Sinne genutzt werden.

Ein Verbot der AfD würde schließlich bewirken, dass die Partei nicht mehr als solche auftreten kann. Dies könnte Teile ihrer Mitgliedschaft in die Illegalität drängen und zu einer weiteren Radikalisierung führen. Auf eine Eskalation der Gewaltspirale und den Aufbau eventuell. Untergrundorganisationen „muss mit den Mitteln des präventiven Polizeirechts und des repressiven Strafrechts rechtzeitig und umfassend reagiert werden, um die Freiheit des politischen Prozesses […] wirkungsvoll zu schützen“ (BVerfG (2017), 261, Rn 1008).

Oftmals wird auch die Gefahr einer Solidarisierungswelle für die AfD befürchtet, die aus einem Scheitern eines Verbotsverfahrens resultieren könnte. Doch nicht das Scheitern vor dem BVerfG stärkt die AfD nachhaltig, sondern die mangelhaften politischen Handlungskonzepte und die unzulänglichen Erscheinungsbilder, die die etablierten Parteien bei der Bewältigung der aktuellen von ihrer Klientelpolitik mitverursachten Krisensituationen abgeben.

Demgegenüber würde ein Verbot einem drohenden steigenden Einfluss der AfD und einer Ausweitung und Verfestigung ihrer Strukturen effektiv entgegenwirken. Es würde die Risiken begrenzen, die von der Existenz der AfD mit ihrer verbandsmäßigen Wirkmächtigkeit ausgeht, insbesondere ihre institutionalisierte Verbreitungsmöglichkeit rassistischen und nationalistischen Gedankenguts.

Ein Parteiverbot als Ultima Ratio der wehrhaften Demokratie würde das extremistische Gedankengut einer verfassungswidrigen Partei nicht abschaffen. Das in der Gesellschaft existierende rassistische und rechtsextreme Gedankengut wie sie etwa die sogenannte. „Mitte-Studien“ mit steigender Tendenz feststellen, würde durch ein Verbot der AfD weiterhin bestehen bleiben. Ein Verbot der AfD entbindet daher nicht von den eigenen politischen Hausaufgaben. Die wirklichen Probleme werden durch Parteiverbote nicht gelöst. Sie sind damit auch „kein Ersatz für Politik, die die Menschen überzeugt. Sie sind aber auch kein Panik-Button, sondern sinnvoller institutioneller Selbstschutz“ (Gärditz 2023: 40) gegen bedenkliche, demokratiegefährdende Entwicklungen. Für die Entwicklung wirksamer Gegenstrategien und der Extremismusprävention sind darüber hinaus die Institutionen der politischen Bildung zu stärken, die nicht nur den Charakter eines Feuerwehreinsatzes besitzen dürfen, sondern in ihrer Förderung dauerhaft angelegt sein müssen.

Der Verfassungsschutz stuft die Bundes-AfD als rechtsextremistischen Verdachtsfall ein und drei AfD-Landesverbände als gesichert rechtsextremistisch. Kommen auch Expert*innen bei einer juristischen Überprüfung zu der Überzeugung, dass die Beweise für ein Parteiverbot ausreichen, ist es die demokratische Pflicht politischer Institutionen, den Verbotsantrag zu stellen. Nicht alle Mittel anzuwenden, die das Grundgesetz in diesem Kontext aus guten historischen Gründen bietet, wäre verantwortungslos.

Am 23. Januar 2024 hat das BVerfG entschieden, die Partei Die Heimat (vormals NPD) für die Dauer von sechs Jahren von der Parteienfinanzierung auszuschließen. (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 23. Januar 2024 – 2 BvB 1/19 -, Rn. 1-510.) Neben den vielen Groß-Demonstrationen der Zivilgesellschaft in ganz Deutschland, dürfte von diesem Urteil ein klares Signal zum Schutz der Demokratie ausgehen.

 

Manfred Pappenberger Jahrgang 1958, Diplom-Pädagoge, studierte Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Kriminologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seit 1990 ist er Dozent für politische Bildung am Bildungszentrum Bad Staffelstein.

 

Literatur

Cremer, Hendrik 2023: Warum die AfD verboten werden könnte, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin.

Correctiv 2024: Geheimplan gegen Deutschland, in: Correctiv.org vom 10.01.2024, https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/ (Stand: 09.02.2024).

Gärditz, Klaus Ferdinand 2023: Für ein Verbot der AfD – zum Schutz der Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 68, H. 11, S. 37-40.

Goebbels, Joseph 1928: Leitartikel, in: Völkischer Beobachter vom 30.04.1928.

Heinze, Anna-Sophie 2021: Zum schwierigen Umgang mit der AfD in den Parlamenten: Arbeitsweise, Reaktionen, Effekte, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 31, H.1, S. 133-150.

Hügel, Stefan 2023: „Mein Leben wird ganz wunderbar“ – Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz, in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 242 = Jg. 62, H. 2, S. 5-21.

Klemperer, Victor 2007 [1947]: LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart.

Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel 2018: Wie Demokratien sterben: Und was wir dagegen tun können, München.

Lübbe-Wolff, Gertrude 2023: Wehrhafte Demokratie: Die Instrumente des Parteiverbots und der Grundrechtsverwirkung, in: Verfassungsblog vom 13.10.2023, https://verfassungsblog.de/wehrhafte-demokratie/, DOI: 10.59704/e29627dcada0af10 (Stand: 09.02.2024).

Lucke, Albrecht von 2023: Wagenknecht oder AfD-Verbot: Die letzte Chance?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 68, H. 9, S. 5-8.

Pappenberger, Manfred 2021: Globaler Rechtsterrorismus. Zur politischen Verortung rechter Gewalthandlungen, in: Politische Bildung, Jg. 11, H. 4, S. 4-8.

Rudolf, Beate 2023: Vorwort, in: Cremer, Hendrik: Warum die AfD verboten werden könnte, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin.

Süddeutsche Zeitung 2019: Steinmeier: „Wo die Sprache verroht, ist die Straftat nicht weit“, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.06.2019, https://www.sueddeutsche.de/politik/luebcke-generalbundesanwalt-steinmeier-1.4490227 (Stand: 09.02.2024).

Wehling, Elisabeth 2017: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Bonn.

Welzer, Harald 2008: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Bonn.

Wielenga, Lorenz 2023: Thüringen-AfD verbieten?, in: Verfassungsblog vom 17.08.2023, https://verfassungsblog.de/thuringen-afd-verbieten/; DOI: 10.17176/20230817-182851-0 (Stand: 09.02.2024).

Anmerkungen

i 1995 wurde die Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) und die Nationale Liste (NL) verboten. Die beiden Neonazi-Organisationen wurden jedoch nach dem einfacheren Vereinsrecht verboten, weil sie die formalen Anforderungen an Parteien nicht erfüllten.

ii Die AfD stellt aktuell neun Abgeordnete in der Fraktion „Identität und Demokratie“. Der AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah fordert einen „Bund der Vaterländer“, andere AfD-Abgeordnete einen kompletten Ausstieg Deutschlands aus der EU.

iii Beispiele für extrem beschleunigte gesellschaftliche Wandlungsprozess sind: Von der Machtergreifung Hitlers bis zum Holocaust vergingen nicht einmal zehn Jahre. Die sogenannte friedliche Revolution 1989 in der DDR, das Ende der Apartheid 1990 in Südafrika, die Gräueltaten in den 1990er Jahren (Massaker von Srebrenica 1995) während des Staatszerfalls in Ex-Jugoslawien, der Völkermord 1994 in Ruanda, der Völkermord im Sudan, die Ereignisse in Tunesien und Ägypten 2011 („Arabischer Frühling“).

iv Vgl. die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten 2020.

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