Rezension: OFW statt RAF: Klaus Jünschkes Kampf gegen die Wohnungslosigkeit
Jünschke, Klaus: Gefangen & Wohnungslos. Gespräche mit Obdachlosen in Haft. Weissmann Verlag, 2023, 466 S., 25.00 €.
Obgleich diese Problematik keine neue ist und zuletzt wenigstens in der Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Ersatzfreiheitsstrafe Platz gehabt hätte, werden die Themen Obdachlosigkeit und Gefängnis weitestgehend getrennt voneinander diskutiert, wobei sie auch dann in der Wissenschaft wie der Sozialpolitik ein Nischenthema darstellen.
Mit seinem Buch unternimmt Jünschke den Versuch, eine breitere Öffentlichkeit auf die extreme Überrepräsentation wohnungsloser Menschen in deutschen Gefängnissen aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck hat Jünschke in den Justizvollzugsanstalten Köln, Siegburg und Rheinbach ausführlich mit insgesamt 20 Gefangenen gesprochen, die alle Erfahrung mit Obdachlosigkeit hatten. In Siegburg ging es um Ersatzfreiheitsstrafen.
Diese Gespräche hat Jünschke aufgezeichnet und anschließend für das Buch transkribiert. Ursprünglich sollte Christiane Niesel von der Obdachloseninitiative an den Gesprächen teilnehmen. Das wurde von der JVA Köln verhindert. Für ein Gespräch in der JVA Rheinbach bekam sie aber problemlos die Erlaubnis zur Teilnahme (22), was auf eine gewisse Beliebigkeit solcher Entscheidungen hinweist. Inzwischen hat sie mit obdachlosen Frauen auf der Straße gesprochen, die auch Knasterfahrung haben und plant dazu ein eigenes Buch.
Den Gesprächen vorangestellt ist eine kurz gehaltene Einleitung zur Geschichte des Strafrechts und der rechtlichen Stellung der Obdachlosen, die einen guten Einstieg in die Thematik ermöglicht. Dann folgen zunächst drei Gespräche mit einzelnen Gefangenen, die sehr anschaulich deren Lebensläufen nachgehen. Vier Gruppen-Gespräche betreffen die Ersatzfreiheitsstrafen und zeigen plastisch, wie man in diese „hineinrutscht“.
Der Hauptteil des Buches betrifft Gespräche in einer wöchentlich stattfindenden „Erzählwerkstatt“, wie Jünschke die Zusammenkünfte in der JVA Köln nennt. Dort sprach er in Kleingruppen mit maximal vier Teilnehmern über Kindheit, verschiedene Stationen von Obdachlosigkeit, über Situationen in der JVA und nach der Entlassung. Thematisch sortiert bietet dieses Gesprächsmaterial auf über 300 Seiten einen direkten Einblick in die Lebenswelt von Menschen, die häufig aus allen bestehenden Hilfesystemen herausfallen und sich in eine schier unüberwindbare Abwärtsspirale wiederfinden, die von bitterer Armut, physischer- wie psychischer Gewalt, Ausgrenzung, Einsamkeit, Suchtkrankheit, Kriminalisierung, Straffälligkeit, immer wiederkehrenden Haftstrafen und ständig wachsenden Schulden geprägt ist. Und – so darf vorweggenommen werden – viele von Ihnen werden auch zukünftig wieder mit Obdachlosigkeit in Berührung kommen. Aber auch die Gefängniserfahrungen werden Punkt für Punkt abgebildet: vom Zugangshaus bis zur Entlassung und den „Wünschen für die Zeit nach der Haft“. Der häufigste Wunsch, der sowohl in der „Erzählwerkstatt“ als auch bei den anderen Gesprächen geäußert wird, ist der nach einer Wohnung, einem sicheren Ort, einem menschlichen Zuhause. „Eine Zelle“, so schrieb Jünschke bereits 1988 in seiner nüchternen Beschreibung dieses Unortes, „ist kein menschliches Zuhause“ (Spätlese. Texte zu RAF und Knast, Frankfurt am Main).
Jünschke selbst bringt sich teilnehmend und teilnahmsvoll in die Gespräche ein und schildert dabei auch persönlichen Erlebnisse, die er als langjähriger Gefangener (verurteilt für seine Taten als RAF-Mitglied), Sozialwissenschaftler, politischer Aktivist sowie Gefängnisbeirat gemacht hat.
Man muss viel Geduld und Interesse haben, um sich durch diese enorme Materialfülle hindurchzulesen. Jünschke selbst verzichtet darauf, das Material zusammenfassend zu interpretieren. Das ist ungewöhnlich, und man kann dies für eine Schwäche des Buches halten. Es lässt den Leser*innen aber auch die Freiheit, sich selbst ein Bild zu machen und eine Meinung zu bilden. Insgesamt dürfte Allen deutlich werden: Haft ist auch bei Obdachlosen keine Lösung, sondern Teil des Problems.
Es bleibt zu hoffen, dass Jünschkes Buch zum Verständnis beiträgt, dass Obdachlosigkeit nicht weiter verwaltet und kriminalisiert werden darf, sondern abgeschafft werden muss.