Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 243: Kritische Kriminalpolitik

Rezension: Der Maßre­gel­vollzug in Deutschland Oder: Vergessen im schwarzen Loch

Lewe, Ulrich: Vorbeugende Anhaltung. Der Maßregelvollzug, Schmetterling Verlag, 2022, 266 S., 18,80 €.

Hat jemand eine Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit, beispielsweise wegen einer psychiatrischen Erkrankung, begangen, so kann das Strafgericht, statt auf eine Strafe (Geldstrafe oder Freiheitsentzug) zu erkennen, eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen. Voraussetzung dafür ist, dass von dem Täter eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht.i So ist es seit dem 1933 von den Nazifaschisten verabschiedeten „Gesetz über den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ im Strafgesetzbuch unter der Überschrift „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ geregelt. Während die ebenfalls mit dem „Gewohnheitsverbrechergesetz“ eingeführte Maßregel der Sicherungsverwahrung Gegenstand heftiger rechtspolitischer Auseinandersetzungen istii, steht die Unterbringung in einem Krankenhaus kaum in der öffentlichen Kritik. Warum auch. Mit dem Begriff Krankenhaus werden gemeinhin Hilfe und Heilung, also etwas Gutes assoziiert. Vereinzelt wird dieser Glaube in der Gesellschaft durch Einzelschicksaleiii oder durch Literatur und Film erschüttert. Beispiele sind Hans Falladas „Der Trinker“, geschrieben 1944 während eines dreieinhalbmonatigen Aufenthalts in einer „Heil- und Pflegeanstalt“ für unzurechnungsfähige Straftäter, oder Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“ (1962). Äußerst sehenswert ist auch der gleichnamige Film (1975), in dem Jack Nicholson dem Rebellen gegen die „totale Institution“, McMurphy, ein künstlerisches Denkmal setzt. Nunmehr legt Ulrich Lewe mit dem Buch „Vorbeugende Anhaltung“ eine systematische wissenschaftliche Fundamentalkritik an dieser Maßregel der Besserung und Sicherung vor. Dabei kritisiert Lewe die Maßregel aus der Perspektive eines Insiders. Fungierte er doch etwa zehn Jahre als Bezugstherapeut auf einer geschlossenen forensischen Station und schrieb eine Dissertation zum Thema „Deliktsrückfälligkeit schizophrener Patienten nach ihrer Entlassung aus dem Maßregelvollzug“ (2015). Ein wenig erinnert des Autors Werdegang an den Thomas Gallis, der in den letzten Jahren als Gefängnisdirektor und dann als Anwalt mit seiner Kritik am Knast für Furore sorgte.iv

Lewe nennt die Unterbringung im Maßregelvollzug Anhaltung und die Untergebrachten Angehaltene. Damit zielt er auf das Wesen der totalen Institution Maßregelvollzug. Mit der Einweisung wird das bisherige Leben der Betroffenen angehalten. Gleichzeitig werden sie angehalten, sich nach „unserem Gusto“ zu verhalten. Wenn sie sich verweigern, bleiben sie vielfach ihr Leben lang Angehaltene. Als das McMurphy übrigens in „Einer flog über das Kuckucksnest“ erkennt, versucht er zu fliehen.

Zunächst sollen einige vom Autor offerierte Fakten aus dem Innenleben rund um den Maßregelvollzug präsentiert werden. Die Einrichtungen sind künstliche „Hochsicherheitsinseln“, die euphemistisch Maßregelvollzugskliniken genannt werden. 25% aller Psychiatriebetten stehen mittlerweile deutschlandweit in solchen Kliniken. Während die Zahl der Gefangenen, die in den Knästen einsitzen, in den letzten Jahren relativ konstant blieb, verdreifachte sich die Anzahl der Angehaltenen. Etwa 50% von ihnen weisen eine schizophrene Erkrankung auf. Der Anteil von fünf Jahren bis lebenslang im Strafvollzug Untergebrachter beträgt etwa 13%. In den forensischen Kliniken stieg er auf über 60%. Die Freiheitsstrafe ist zeitlich begrenzt. Für jeden Angehaltenen bleibt es hingegen offen, wann die Maßregel endet. Jährlich entscheidet zwar ein Gericht über deren Fortsetzung, aber de facto sind es die Therapeuten und Gutachter, die die Richtung vorgeben. Denn Grundlage der jährlichen Anhörung ist die interne Stellungnahme der Klinik. Sogenannte externe psychiatrische oder psychologische Gutachten müssen nach der Strafprozessordnung zu Beginn, während und vor dem Ende der Unterbringung im Maßregelvollzug regelmäßig eingeholt werden. Insofern besitzen Therapeuten und Gutachter die eigentliche Macht, Menschen unbegrenzt einzusperren. Zudem ist das Unterbringungsrisiko von Bundesland zu Bundesland, von Landgerichtsbezirk zu Landgerichtsbezirk unterschiedlich, wie auch die durchschnittliche Verweildauer oder die Lockerungspraxis (Gewährung von Ausgängen, Beurlaubungen). Die soziale Zusammensetzung der Angehaltenen ist ähnlich der der Strafgefangenen: Menschen aus ärmeren Schichten sind deutlich überrepräsentiert. Die Unterbringung im Maßregelvollzug ist für die Betroffenen u.a. gekennzeichnet durch soziale Isolation, einen extremen Zwang zur Unterordnung, durch Zwangsmedikationen, psychosoziale Erniedrigungen, körperliche Überwältigung, Rechtlosigkeit (die UN-Behindertenkonvention spielt so gut wie keine Rolle), ja selbst die Elektroschock-Therapie wird vereinzelt wieder salonfähig. Eine beliebte Deprivationsmethode ist die Absonderung des Patienten durch Einschluss in den „Intensivbetreuungsraum“. Die Beschreibung dieser Methode durch Lewe lässt nur einen Schluss zu: Menschenrechtswidrig! Alles in allem ist die Situation der Angehaltenen schlechter als die der Strafgefangenen.

Dieses Regime wird nach Lewe durch drei Annahmen legitimiert. Erstens. Von psychisch Kranken geht ein höheres Gewaltrisiko aus als von der Allgemeinbevölkerung. Zweitens. Man kann die Gefährlichkeit einigermaßen treffsicher voraussagen. Drittens. Im Hochsicherheitstrakt lässt sich gut therapieren. Alle drei Annahmen werden vom Autor überzeugend destruiert. Stellt sich also die Frage, warum der Maßregelvollzug in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern immer noch Konjunktur hat. Hier findet der Leser mehrere, im Buch an verschiedenen Stellen diskutierte Gründe. So zitiert Lewe ausführlich Karl Marx, der darauf hinweist, dass der Verbrecher nicht nur Verbrechen produziere, sondern auch das Kriminalrecht, den dieses Recht lehrenden Professor, die ganze Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.v Und mit Blick auf den heutigen Maßregelvollzug auch den forensischen Therapeuten und Gutachter. Der psychiatrische Maßregelvollzug generiert jährlich mehr als eine Milliarde Euro. Er ist ein staatlich lizensiertes Monopolunternehmen mit sicheren Einnahmen. Wobei die in diesem Unternehmen Tätigen, insbesondere die Therapeuten und Gutachter selbst über die Dauer der Kundenbindung entscheiden können. Der Gefährlichkeits-TÜV ist dabei für externe Gutachter eine wichtige Einnahmequelle. Die für die Angehaltenen negativen Prognosegutachten sichern letztlich diese Quelle und schützen vor der medialen Hinrichtung bei einem Rückfall eines Entlassenen. Der jahrelang Eingeschlossene wiederum hat kaum eine Chance, das Gutachten zu widerlegen. Die Umsätze locken auch, was im Buch nicht weiter vertieft wird, private Investoren – mit Erfolg. Was sich der Staat hinsichtlich des Strafvollzugs – im Gegensatz zu den USA, wo Angela Davis vom „gefängnisindustriellen Komplex“ sprichtvi – nicht getraut, verwirklichten fünf Bundesländer Anfang des Jahrhunderts beim Maßregelvollzug. Dem neoliberalen Konzept folgend, privatisierten Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Thüringen ihre forensischen Kliniken, für die nun Gewinnmaximierung und Effizienz im Vordergrund stehen. So informiert Lewe darüber, dass die Asklepios AG als privater Betreiber einer Hamburger Maßregelvollzugseinrichtung ihren Umsatz in 16 Jahren vervierfacht hat.

Für die Langlebigkeit dieses Maßregelsystems spricht auch die herrschende Kriminalpolitik. Für die Strafjustiz ist ein Paradigmenwechsel vom Ideal des fragmentarischen Strafrechts zum Versprechen lückenloser Sicherheit durch Prävention auszumachen. In der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion wird in diesem Kontext vom Übergang zum Präventions- bzw. Sicherheitsstaat gesprochen. Auch im Kernstrafrecht haben Prognosen zunehmend strategische Bedeutung erlangt. Immer dominanter wird, wie Kriminologen konstatieren, eine „pre-crime logic“, die man bereits in der Maßlosigkeit des Maßregelvollzugs vorfindet. Eine Entwicklung, die gleichzeitig mit dem Abbau rechtsstaatlicher Garantien für die Bürgerinnen und Bürger verknüpft ist.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass die unter Justizminister Heiko Maas (SPD) 2016 eingeleitete und vom jetzigen Justizminister Marco Buschmann (FDP) 2022 in einem Gesetzentwurf aufgegriffene Reform des Maßregelrechts die Probleme nicht löst und an der Oberfläche verbleibt. Von ganz anderem Kaliber ist da Ulrich Lewe. Inspiriert durch Projekte und Erfahrungen aus Italien, das 2017 alle seine psychiatrischen Justizkrankenhäuser abgeschafft hat, und Kanada fordert er als radikale Konsequenz aus seiner Analyse die Schließung der Psychiatriegefängnisse. Nur so werde eine Enthospitalisierung der forensischen Psychiatrie gelingen. Lewe sieht in der Stärkung der Gemeindepsychiatrie, fußend auf dem auszugsweise im Buch abgedruckten Beitrag „Ohne Zwang – Konzept für eine ausschließlich unterstützende Psychiatrie“ von Martin Zinkler und Sebastian Petervii einen erfolgreicheren, mit den Menschenrechten konform gehenden Ansatz. Das ist eine Position, die es lohnt, weiter verfolgt zu werden.

Anmerkungen:

i Diese Rezension ist ein Nachdruck aus: Marxistische Blätter, Nr. 1/2023. Wir danken dem Autor und den Marxistischen Blättern für das Abdruckrecht.

ii Vgl. Franziska Schneider, Illusion von Sicherheit statt rechtsstaatlicher Prinzipien, in: Marxistische Blätter, Heft 6/2022; Volkmar Schöneburg, Der Sicherheitsstaat und das Problem der Kontinuität zur NS-Vergangenheit, in: Marxistische Blätter, Heft 4/2021, S. 63-70; ders., Rechtsstaat und Menschenwürde, Potsdam 2014, S. 127-177.

iii Vgl. Gerhard Strate, Der Fall Mollath, Zürich 2014.

iv Vgl. zu Galli: Volkmar Schöneburg, Gefängnisse abschaffen!, in: Marxistische Blätter, Heft 6/2020, S. 161-163.

v Vgl. ausführlich zur „Produktivkraft“ Kriminalität MEW, Bd. 26.1, Berlin 1965, S. 363f.

vi Vgl. Angela Davis, Gefängnisreform oder Abschaffung des Gefängnisses?, in: Daniel Loick/Vanessa E. Thompson, Abolitionismus. Ein Reader, Berlin 2022, S. 130.

vii Veröffentlicht in: Recht & Psychiatrie, 4/2019, S. 203-209.

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