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Baden-Würt­tem­berg

Verfas­sungs­schutz – Fremdkörper in der Demokratie

Vom 3. bis 8. Oktober zeigten wir in Freiburg zusammen mit den örtlichen Gruppen des DGB, der VVN-BdA und des AKJ die Ausstellung „Versagen mit System“, die sich mit der Geschichte und dem Wirken des Verfassungsschutzes befasste. Als Rahmenprogramm fanden zwischen dem 20. September und dem 8. Oktober fünf Veranstaltungen statt, die verschiedene Aspekte des Themas „Verfassungsschutz – Fremdkörper in der Demokratie“ beleuchteten.

Ausstellung

Die Ausstellung „Versagen mit System“ wurde vom Forum für kritische Rechtsextremismusforschung und von Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen e.V. entworfen. Sie konnte vom 4. bis 8. Oktober täglich von 17 bis 19 Uhr sowie nach den Veranstaltungen ab 21 Uhr besucht werden.

Veranstaltungen

Während der Ausstellung fanden ebenfalls im Weingut Andreas Dilger die folgenden Veranstaltungenstatt

  • Die schützende Hand – Der Tintenfischer. Lesung von Wolfgang Schorlau am 4. Oktober 2021. Nachzusehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=CB4cKFco0ts
  • Freiburg – Verfassungsschutzfreie Zone – Vortrag von Michael Moos und Udo Kauß am 5. Oktober 2021
  • Antifaschismus im Visier des Verfassungsschutzes – Vortrag von Cornelia Kerth am 6. Oktober 2021
  • Verfassungsschutz – Fremdkörper in der Demokratie – Vortrag von Rolf Gössner am 8. Oktober 2021. Nachzusehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=KQ9mOrpM7mk

Wen oder was schützt der Verfas­sungs­schutz?

Bereits am 20. September fand im Kommunalen Kino in Freiburg die Auftaktveranstaltung dieser Veranstaltungssreihe statt. Vor dem mit circa 40 Teilnehmer*innen (unter Corona-Bedingungen) voll besetzten Kinosaal referierte und diskutierte Martin Kutscha, emeritierter Professor für Staatsrecht aus Berlin sowie ehemaliges und neues Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union, zum Thema „Wen oder was schützt der Verfassungsschutz?“.

Zunächst erinnerte Kutscha an die lange Liste von Verfassungsschutz-Skandalen, insbesondere an die Mordserie des NSU und den Anschlag auf dem Breitscheidplatz. In beiden Fällen waren die Terroristen nicht nur umgeben von V-Leuten, die die Taten nicht verhindern konnten. Der Verfassungsschutz behinderte sogar die polizeilichen Ermittlungen und machte eine umfassende Aufklärung unmöglich. Dennoch werden die Befugnisse, die Finanzmittel und das Personal der Verfassungsschutzbehörden ständig erweitert. Der angebliche Grund ist die Terrorismusbekämpfung, doch sei die Gefahrenabwehr eigentlich Aufgabe der Polizei.

Vielmehr zeige sich der Verfassungsschutz als Gefahr für den demokratischen Willenbildungsprozess. Anstatt Informationen über Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung (fdGO) zu sammeln, bespitzele er Demokraten. Bekannte Fälle, in denen nachträglich die Rechtswidrigkeit der Beobachtung durch den Verfassungsschutz festgestellt wurde, seien Rolf Gössner, Anwalt und Bürgerrechtler, Bodo Ramelow, Politiker der Linkspartei und Ministerpräsident in Thüringen, und Martin Dulig, Vorsitzender der SPD Sachsen.

Die Behauptung, beim Verfassungsschutz handele es sich nur um einen Nachrichtendienst, stelle sich auch als falsch heraus. Tatsächlich handele er als Geheimdienst und hat mit dem V-Leute-System zum Aufbau und zur Finanzierung rechtsextremer Strukturen beigetragen. Gleichzeitig bedrohe er die Pressefreiheit, in dem er zum Beispiel die Junge Welt als verfassungsfeindlich beobachtet.
Schließlich warf Kutscha die Frage auf, ob man den Verfassungsschutz überhaupt brauche. Der Verfassungsschutz sei als Kind des kalten Krieges, das von Altnazis aufgebaut wurde, ein politisches Instrument gegen links und ungeeignet zum Schutz der Verfassung, der vielmehr dem demokratischen Souverän obliege. Der Schutz vor Gewalttätern und Terrorismus sei immer schon ureigentliche Aufgabe der Polizei. Also: Nein, wir brauchen keinen Verfassungsschutz.

In der anschließenden Diskussion spielte die Rolle der Polizei als Ersatz für den Verfassungsschutz eine große Rolle. Ist es nicht egal, unter welchem Namen die Bespitzelung erfolgt? Gibt es nicht auch bei der Polizei rechte Zirkel? Werden nicht auch die Polizeigesetze regelmäßig um Überwachungsbefugnisse erweitert? Kutscha stellte zunächst klar, dass keine neuen Befugnisse für die Polizei geschaffen werden müssten, da die Gefahrenabwehr bereits zu ihren Zuständigkeiten gehöre. Die gerichtliche und parlamentarische Kontrolle der Polizei sei deutlich besser gewährleistet als beim Verfassungsschutz, dessen parlamentarische Kontrollorgane „blinde Richter ohne Schwert“ seien. Außerdem handele die Polizei grundsätzlich offen und nicht im Geheimen, auch wenn es Ausnahmen gibt. Er rief jedoch zur Wachsamkeit bei der Verschärfung von Polizeigesetzen und bei der Bildung rechter Gruppen nicht nur bei der Polizei, sondern auch bei der Bundeswehr auf.

Ein weiteres wichtiges Thema in der Diskussion war die Frage, weshalb der Verfassungsschutz trotz der vielen Skandale von der Politik weiter ausgebaut wird. Kutscha verwies hier auf verschiedene Motive: Manche nützten den Verfassungsschutz wohl bewusst als Instrument gegen den politischen Gegner und zur Verteidigung der eigenen Regierungspolitik und der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Bei anderen sei es eher Naivität, dass dem Verfassungsschutz die Bekämpfung von Islamismus und Rechtsextremismus zugetraut werde und ihm daher diese Aufgaben delegiert werden.

Eine Aufzeichnung der Veranstaltung ist auf unserer Homepage und auf dem YouTube-Kanal der Humanistischen Union Baden-Württemberg abrufbar: https://bawue.humanistische-union.de/veranstaltungen/2021/wen-oder-was-schuetzt-der-verfassungsschutz/
Robin Krahl, Freiburg

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