Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 245

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Seit Beginn der Pandemie beschäftigen sich Menschen in der HU genauso wie in der Gesellschaft allgemein mit den bürgerrechtlichen Auswirkungen der Corona-Maßnahmen. Aktuell geht es dabei weniger um Lockdowns oder Versammlungsrecht, sondern um G2 oder G3 und Fragen einer Impfpflicht. Zwei Meinungen seien hier vorgestellt.

Thesen zur derzeitigen Corona-­Po­litik

Die Corona-Politik konzentriert sich zurzeit darauf, ungeimpfte Menschen von infektionsgefährlichen öffentlichen Orten fernzuhalten, um einerseits zu verhindern, dass sie erkranken und die Krankenhäuser füllen und um andererseits einen Anreiz zur Impfung zu setzen. Im öffentlichen Raum wird zunehmend auf 2G gesetzt (Zutritt nur für Geimpfte und Genesene), was bedeutet, dass (anders als bei 3G) ein aktuelles negatives Testergebnis nicht mehr als Zugangsvoraussetzung für Restaurants, Clubs und andere öffentliche Orte akzeptiert wird. Die Politik macht die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe zunehmend abhängig vom Impfstatus.

Seit Beginn der Impfungen ist die Tödlichkeit der Corona-Wellen stark zurückgegangen. Geimpfte Menschen sind deutlich besser vor einem schweren Krankheitsverlauf und vor dem Tod geschützt als ungeimpfte. Allerdings können Geimpfte das Virus weitergeben (wenn auch weniger als ungeimpfte). Die Impfungen schützen vor der Weitergabe des Virus weniger als erhofft. Unter den älteren geimpften Menschen nehmen Durchbruchsinfektionen in letzter Zeit stark zu.

Der aktuellen Zunahme an Infektionen und schweren Erkrankungen muss wirkungsvoll entgegengetreten werden, um die Gesundheit zu schützen und Leben zu retten. Dies ergibt sich auch aus Artikel 2 des Grundgesetzes. Dabei müssen auch Nebenwirkungen von Maßnahmen berücksichtigt und andere Grundrechte einbezogen und gewahrt werden. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist ein Grundrecht und darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine Person geimpft ist.

Die HU sollte sich meiner Meinung nach gegen die 2G-Regel wenden. Da die Impfungen zur Eindämmung der Weiterverbreitung des Virus nicht reichen, müssen Tests eine größere Rolle spielen. Ein negatives Testergebnis sollte als Zugangsvoraussetzung anerkannt werden und niedrigschwellige und kostenlose Tests angeboten werden. Es sollte geprüft werden, ob bis zum Rückgang der Fallzahlen für bestimmte infektionsgefährliche Orte (z.B. Partys in geschlossenen Räumen) eine 1G-Regel gelten sollte, bei der alle Teilnehmenden (unabhängig davon ob geimpft oder ungeimpft) getestet werden.

Für bestimmte Berufe wird derzeit eine Impflicht diskutiert. Angesichts der Erkenntnisse, dass auch Geimpfte das Virus stärker übertragen können als zuerst gedacht und dass eine Impfpflicht ein tiefer Eingriff in die persönliche Freiheit ist, sollte es meines Erachtens nach eine solche Impfpflicht nicht geben. Die Ausweitung von Testpflichten an bestimmten Arbeitsplätzen wäre eine weniger tief eingreifende Alternative. Die Menschen sollten motiviert werden, auch selbstverantwortlich ihre Gesundheit und die der anderen zu betreiben, z.B. sich selbst zu testen, in Bezug auf Infektionsgefahren sich zu informieren, mitzudenken und an Situationen angepasst zu handeln.

Für eine Impfung öffentlich zu werben darf nicht zur Ausgrenzung und Stigmatisierung der Ungeimpften führen. Das Gespräch sollte nicht abgebrochen werden und auch gegensätzliche Positionen müssen in der Debatte gehört werden. Das Gesundheitssystem muss besser als bisher finanziert werden, sodass es Infektionswellen besser abfedern kann. Dazu gehört, die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung für Pflegekräfte zu verbessern und Intensivkapazitäten auszubauen.

Ingmar Kumpmann, Berlin

 

Selbst­ver­ant­wort­li­cher“ Gesund­heits­schutz in der Corona-­Krise?

Eine Erwiderung auf Ingmar Kumpmann von Martin Kutscha

Die unterschiedlichen Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Infektionen greifen tief in Grundrechte ein, welche die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gegenüber staatlicher Reglementierung schützen – insoweit hat Ingmar Kumpmann Recht. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 19. November 2021 zu der im April beschlossenen „Bundesnotbremse“ bestätigt. Diese Eingriffe wertete das Gericht indessen als noch verhältnismäßig angesichts einer akuten Gefahrenlage für Leben und Gesundheit der gesamten Bevölkerung und lieferte dafür eine detaillierte Begründung. Ob die Regierungsmaßnahmen im Laufe der „4. Welle“ im Herbst rechtzeitig erfolgten und jeweils angemessen waren, war nicht Gegenstand der Entscheidung.

Für die Zukunft plädiert Ingmar Kumpmann nun für weniger Beschränkungen insbesondere für Ungeimpfte. Anstelle der „2-G-Regel“ beim Zugang zu Gaststätten etc. setzt er auf (Selbst-)Tests der betreffenden Personen; ganz generell vertraut er auf die „Selbstverantwortlichkeit“ der Menschen beim Gesundheitsschutz. Ignoriert wird dabei im Besonderen, dass die sog. Schnelltests (Antigentests) recht ungenau sind, zumal wenn sie von den Betreffenden selbst oder von Testern durchgeführt werden, deren einzige Qualifikation hierfür im Betrachten eines 15-minütigen Schulungsvideos aus dem Netz besteht. Zuverlässig ist dagegen allein der teure und aufwändige PCR-Test, dessen Ergebnis allerdings erst am nächsten Tag feststeht.

Allgemein bleibt zu fragen, worauf der Autor sein Vertrauen auf die „Selbstverantwortlichkeit“ stützt. Wie weit es mit einem verantwortungsvollen Verhalten angesichts der hohen Infektionsgefahr her ist, zeigen die hohe Anzahl schwerer Krankheitsverläufe bei überwiegend Ungeimpften und die überfüllten Intensivstationen in bestimmten Bundesländern und Landkreisen. Die Vorstellung, dass Menschen in ihrem Verhalten auch gegenüber Anderen nur den Geboten der Vernunft folgen, entspricht zwar der im Umfeld neoliberaler Ideologie vertretenen Rational-Choice-Theorie, wird durch die gesellschaftliche Praxis aber vielfach widerlegt. Als Beispiel sei hier neben dem individuellen Verhalten in der Corona-Pandemie nur der Straßenverkehr angeführt:

Auch für den Autoverkehr innerhalb geschlossener Ortschaften gab es zunächst keine Geschwindigkeitsbeschränkung, vertraut wurde offenbar auf das Verantwortungsgefühl der Autofahrer_innen. Erst als sich Verkehrsunfälle mit vielen schweren Verletzungen häuften, wurde die heute geltende Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 Stundenkilometer eingeführt. Viel Streit gab es um die Anschnallpflicht, als diese im Jahre 1984 mit Bußgeld bewehrt wurde. Etliche Autofahrer_innen fühlten sich dadurch in ihrer Freiheit beeinträchtigt. Inzwischen wird kaum noch bestritten, dass die Gurtpflicht in zahlreichen Fällen schwere Verletzungen bei Unfällen verhindert.

Fazit: Der Straßenverkehr bietet ein überzeugendes Beispiel dafür, dass gerade dort, wo Menschen Gesundheit und Leben anderer gefährden können, es ohne eine sinnvolle staatliche Reglementierung und Kontrolle nicht geht und das blauäugige Vertrauen in die „Selbstverantwortlichkeit“ fehl am Platze ist.

Martin Kutscha, Berlin

 

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