Die Revolution frisst ihre Kinder
aus: vorgänge Nr. 203 (3-2013), S. 134-136
Direkt nach der Bundestagswahl startete Alice Schwarzer ihren „Appell gegen Prostitution“, parallel dazu erschien ihr neues Buch Prostitution – Ein deutscher Skandal („das Buch zum Appell“). Der Aufruf geht davon aus, dass Frauenhandel und Prostitution untrennbar miteinander verbunden seien, die Prostitution zwangsweise auf einer (sexuellen) Ausbeutung der Frauen beruhe. Die Unterzeichner_innen fordern u.a. die Bestrafung der Freier („Frauenkäufer“) sowie gesetzgeberische Initiativen zur kurzfristigen Eindämmung und langfristigen Abschaffung der Prostitution.
Die Kampagne gegen die Prostitution wird von der Redaktion inzwischen als „die erfolgreichste Kampagne in der Geschichte von EMMA“ gefeiert. Nicht nur, dass der Appell mittlerweile über 10.000 Unterstützer_innen gefunden hat und in Talkrunden kontrovers über den Aufruf debattiert wird. Der Koalitionsvertrag hat eine Forderung des Appells aufgegriffen und verspricht die Bestrafung derjenigen Freier, „die wissentlich und willentlich die Zwangslage der Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution ausnutzen und diese zu sexuellen Handlungen missbrauchen“.
Gegen derlei gute Absichten lässt sich wenig einwenden, sollte man meinen. Höchstens die Frage, warum gegen die nicht-sexuellen Formen der Zwangsarbeit nicht mit den gleichen Mitteln vorgegangen wird? (Dazu verspricht die Koalition nur: „Wir werden die Ausbeutung der Arbeitskraft stärker in den Fokus der Bekämpfung des Menschenhandels nehmen.“ – was immer das bedeuten mag.) Eine andere Frage ist, warum sich ausgerechnet einige Betroffene (organisierte Sexarbeiter_innen) gegen diese Initiative wehren. Eine erste Antwort auf beide Fragen liefert die folgende Polemik Wiegand Grafes, die zuerst beim Feministischen Institut Hamburg (www.feministisches-institut.de) erschien. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck.
Was für ein machtvoller Gegenschlag. Neunzig Prominente und eine Vielzahl von meist akademisch gebildeten ErstunterzeichnerInnen unterstützen einen restaurativen Appell der Zeitschrift „Emma“ gegen den Versuch von Sexarbeiterinnen an den Erfolgen der sexuellen Revolution teilzuhaben. Der Aufruf richtet sich gegen das 2002 in Kraft getretene Prostitutionsgesetz, dass die rechtliche Stellung von sexuellen Dienstleistungen regelt, um die Situation der SexarbeiterInnen zu verbessern. Damit wurde offensichtlich das Maß an Freiheit überschritten, das einer Minderheit zugestanden werden kann, die sich notorisch anders verhält als es die emanzipativen VorkämpferInnen für richtig halten. Dem muss mit Macht entgegen getreten werden. Die Gewissheit, mit diesem Appell auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, hat offensichtlich dazu geführt, dass die Autorinnen nicht einmal ansatzweise versucht haben, mit ihrer Argumentation der komplexen Realität gerecht zu werden. Der Aufruf ist ein Muster der Demagogie, in dem allgemein bekannte Begriffe, gesellschaftskompatible Meinungen, notwendige Forderungen und unhaltbare Positionen so geschickt zu einem moralischen Postulat verwoben werden, dass offensichtlich selbst gestandene WissenschaftlerInnen den Überblick verloren haben und sich nicht mehr fragen, was eigentlich Sklaverei und Menschenhandel mit der juristischen Akzeptanz von Sexarbeit zu tun haben. Wenn dann noch die BefürworterInnen der aktuellen Gesetzgebung als LobbyistInnen der Frauenhändler und sogenannte „freiwilligen“ Prostituierte diffamiert werden sowie der Drogen- und Waffenhandel zum Vergleich herangezogen wird, ist die sittliche Empörung so groß, dass man eigentlich nur noch unterschreiben kann. Dabei haben die AktivistInnen offensichtlich vergessen, dass die hohen Profitraten in den erwähnten Geschäftsfeldern nur in der Illegalität erzielt werden und wir bald vom Gedanken der Arbeitsteilung Abschied nehmen müssten, wenn wir jeden Beruf kriminalisieren wollten, in dessen Umfeld Ausbeutung, Menschenverachtung und Verbrechen anzutreffen sind.
Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der UnterzeichnerInnen keine Erfahrung mit Sexarbeit haben (weder als DienstleisterIn noch als KundIn) und sie ihr Wissen zu diesem Thema nur aus den aktuellen medialen Erzählungen über Prostitution beziehen, die mit der Realität mutmaßlich so viel zu tun haben, wie Arztromane mit der Tätigkeit im Gesundheitswesen oder eine Tatort-Folge mit Polizeiarbeit.
Trotzdem fühlen sie sich berufen, mit ihrem Votum massiv in das Leben anderer Menschen einzugreifen, ohne die Folgen abschätzen zu können. Wenn sich ein Mensch aus Not entschließt, eine sexuelle Dienstleistung anzubieten, dann sollte jede Form von rechtsstaatlichem Schutz begrüßt und nicht bekämpft werden. War es eine freiwillige Entscheidung, ist diese zu akzeptieren und nicht durch Rechtsunsicherheit zu hinterfragen. Wird ein Gesetz von Verbrechern missbraucht, dann ist der Missbrauch und nicht das Gesetz zu bekämpfen. Wem schon diese einfachen Zusammenhänge zu unübersichtlich geworden sind, der sollte sich nicht mehr in gesellschaftliche Entscheidungen einmischen, unabhängig davon, wie groß sein „Promifaktor“, seine wissenschaftliche Reputation oder wie bedeutend sein politisches Amt ist. Da hilft es auch nichts, sich auf revolutionäre Errungenschaften zu berufen, selbst wenn diese ohne Frage begründet sind.
1971 bekennen sich mutige Frauen im „stern“, dass sie abgetrieben haben. Sie legen damit das Fundament für eine Initiative, die unter dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ die Selbstbestimmung über ihre Körper zurück fordert und beginnen eine langen Kampf für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die Aktivistinnen stellen sich einer empörten Mehrheit entgegen, die den Abbruch für ein Verbrechen hält, ihn als „Abtreibung“ bezeichnet und von Mord am ungeborenen Leben spricht. Die mutigen Frauen und ihre UnterstützerInnen wissen, dass sie mit ihrer Forderung das Rechtsgut der Selbstbestimmung der Frau über die religiös geprägte Unversehrtheit des beginnenden Lebens stellen. Eines ihrer wichtigsten Nebenargument für eine Legalisierung war es, dass ein Schwangerschaftsabbruch, der illegal durchgeführt wird, die Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Frau erheblich vergrößert; aber das die Not, in der sich Frauen für diesen Schritt entscheiden, durch kein Verbot kompensiert werden kann. Sie haben, gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse und in bester Tradition der Aufklärung die Diskussion aus der religiösen Umklammerung befreit und erreicht, dass die Mehrheit der Gesellschaft eine erfolgreiche Befruchtung nicht mehr als beginnendes Leben überhöht.
2013 fühlt sich die vormalige Avantgarde der sexuellen Revolution berufen, den mutigen Frauen, die seit langer Zeit eine Legalisierung der Sexarbeit fordern, entgegenzutreten und für sich den Anspruch zu erheben, über den Körper von SexarbeiterInnen zu bestimmen. Hier ließe sich die Parole „Dein Körper gehört uns“ medienwirksam einsetzen. Die jetzt als Kader der Emanzipation agierenden AktivistInnen machen sich zum Sprachrohr einer moralisierenden Mehrheit, die Sexarbeit für widernatürlich hält, sie als „Prostitution“ bezeichnet und sich gekauften Sex nur als Akt von Zwang und Gewalt vorstellen kann. Zusammen mit den UnterzeichnerInnen fordern sie die erneute Kriminalisierung von sexueller Dienstleistung, um ihrer Vorstellung von Moral und Geschlechtergleichheit Geltung zu verschaffen. Sie wollen mit ihrem Vorstoß das Verbrechen des Menschenhandels eindämmen und nehmen dabei billigend in Kauf, dass die Entrechtung und die Gefahr für die DienstleisterInnen erheblich zunehmen, wenn Sexarbeit nur noch in der Illegalität praktiziert werden kann. Getragen von ihrer quasi-religiösen Gewissheit versuchen sie die Mehrheit der Gesellschaft zu beeinflussen, um eine zukunftsweisende Gesetzgebung abzuschaffen, Sexarbeit wie früher zu verdammen und das sexuelle Proletariat in die Schranken zu weisen.
Die RevolutionärInnen sind nach ihrem Marsch durch die Institutionen nunmehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen, haben es sich bequem gemacht und richten von dort über die Akzeptanz anderer Lebensentwürfe. Aus dieser Position heraus ist es unvorstellbar, dass sich jemand für einen Job in der sexuellen Dienstleistung entscheidet, denn wer sich prostituieren will, kann doch JournalistIn, WissenschaftlerIn, SchauspielerIn oder PolitikerIn werden.
Wer diese ungleich verteilte gesellschaftlicher Teilhabe nicht akzeptieren will, kann den nachfolgenden Appell für Prostitution unterzeichnen und die mutigen Frauen von 2013 unterstützen.